20. November 2016 · Kommentare deaktiviert für Stadt ohne Perspektive: Dadaab · Kategorien: Hintergrund, Lesetipps

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Ben Rawlence
City of Thorns, Nine Lifes in die World’s Largest Refugee Camp
London (Portobello Books) 2016

Auf Deutsch
Stadt der Verlorenen: Leben im größten Flüchtlingslager der Welt
Verlag Nagel & Kimche AG 24,80 €

Ben Rawlence hat mit seinem Bericht über das größte Flüchtlingslager der Welt unglaublich viele Facetten des Krieges aus verschiedenen Blickwinkeln „von unten“ festgehalten:

Er beschreibt aus der Sicht der Vertriebenen, deren Enteignung und Vertreibung durch die Hungerpolitiken (incl. internationaler Hilfe) und als direkte Folge der Waffenlieferungen aus Europa und USA. Al-Shabaab, weitere somalische, kenianische, äthiopische Warlords und Politiker sowie imperialistische Kräfte arbeiten hier Hand in Hand.

Rawlence beschreibt den Terror gegen die Enteigneten, der sowohl in den Lagern, in Nairobi als auch in den Herkunftsgebieten groteske Formen annimmt. So müssen sich die Flüchtlinge permanent die Frage stellen, wo es sich denn weniger schlecht Leben lasse, im somalischen Krieg oder im kenianischen „Frieden“. Auf der Flucht und in den Lagern nahmen die Vergewaltigungen „epidemische Ausmaße“ an. Jede dritte Frau im Lager wurde Opfer. Er beschreibt, wie die unerträgliche Situation im Lager viele Beziehungen scheitern ließ und zu einem Anstieg häuslicher Gewalt führte.

Er beschreibt aus der Sicht der Ausgebeuteten, wie in dem spitzelverseuchten, knastähnlichen Lager völlig neue Formen kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse entstehen, er berichtet über die Ausbreitung von Marktverhältnissen als Folge der Enteignungen und Vertreibungen, über die Entstehung von neuen Eliten, die Bereicherung von somalischen und kenianischen Geschäftsleuten an der Arbeitskraft der Flüchtlinge und der internationalen Hilfe. Er beschreibt die Verwobenheit von Politik und Geschäft, von Polizei und Al-Shabaab.

Er beschreibt, wie in den durch und durch rassistischen Strukturen der Lager ein völlig neuer Menschentypus aufwächst, „mit kenianischer Schulbildung, und den liberalen Idealen der globalen NGO-Kultur“. Er beschreibt, wie sich imperialistische Staaten handverlesene Flüchtlinge für ihre Resettlement-Programme aussuchen, die mehr die Hoffnung als die reale Chance beinhalten, in eins dieser gelobte Länder umsiedeln zu können. Er beschreibt, wie das Leben eines Europäers oder Amerikaners soviel mehr wert ist, als das Leben eines Afrikaners, und das Leben eines Kenianer soviel mehr wert als das eines Flüchtlings.

Er beschreibt das Erstarken des wahabbistischen Islams am Horn von Afrika, seine zunehmenden Brutalitäten im Kampf gegen „Unmoral“, Hexenglauben und andere „Irrationalitäten“.

Und er beschreibt die Zerstörung der ökologischen Lebensbedingungen im Norden Kenias so wie in den Herkunftsgebieten in Somalia. Er erzählt von einer Welt mit eigenen Regeln, eigenen Grenzen, eigenen Geschichten. Er erzählt von einer vom UNHCR und den Hilfsorganisationen geschaffenen Gesellschaft, „deren Grundpfeiler die Lebensmittelhilfe und ein internationales Rechtevokabular waren. Und zugleich war es ein glühend heißer Slum“.

Und weil er das alles aus der Sicht „von unten“ beschreibt, indem er die Berichte von 9 Bewohner_innen des Lagers aufnimmt und die Kontakte mehrere Monate lang vertieft, ist Rawlings Bericht nicht einfach nur eine Litanei des Elends. Im Mittelpunkt stehen die Bewohner_innen des Lagers, ihre täglichen Kämpfe, ihrer Arbeit, ihre Beziehungen, ihre Herkunft, ihre Träumen, ihre Strategien, ihren Erfolge und nicht selten ihr Scheitern. Vor allem beschreibt er, wie die Menschen nur überleben können, indem sie zusammenhalten, sich organisieren „wie sie es von zu Hause gewohnt waren“, egal gegen wen: die Vergewaltiger, die kenianischen Behörden, die UNO und die NGOs, Al-Shabaab oder die Banditen im Lager.

Mit anderen Worten: Rawlence beschreibt implizit den erbitterten Widerstand somalischer Menschen gegen die Zumutungen der ursprünglichen Akkumulation. Viele hängen noch an ihren alten Verhältnisse, denen Marx schon im 19. Jahrhundert den Untergang an den Hals gewünscht hat. Andere träumen bereits von einer Fata Morgana, die sich Frieden nennt und Ausbeutung meint.

Für mich das Buch des Jahres 2016.

uMlungu

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