17. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Afghanistan: Die kalte Rechnung des Innenministers“ · Kategorien: Afghanistan, Deutschland

Quelle: Zeit Online | 17.11.2016

Thomas de Maizière will, dass weniger Flüchtlinge aus Afghanistan nach Deutschland kommen. Interne Dokumente zeigen: Dafür setzt er auch das zuständige Bamf unter Druck.

Von Kai Biermann, Julian Jestadt und Nico Schmolke

Ginge es nach dem Grundgesetz und nach den internen Sicherheitseinschätzungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), müssten die meisten Menschen, die aus Afghanistan nach Deutschland fliehen, hier bleiben dürfen. Doch es geht bei den Asylentscheidungen nicht nach den Buchstaben des Gesetzes. „Eigentlich geben uns das Grundgesetz und das Asylrecht vor, wer bleiben darf und wer nicht. Dass jetzt so viele Afghanen abgelehnt werden, ist politisch so gewollt.“ Das sagt ein langjähriger Mitarbeiter des Bamf, der in der Behörde an verschiedenen Stellen eingesetzt war und um seine Zukunft fürchtet, wenn bekannt wird, wie er heißt. Sein Vorwurf: Wider besseres Wissen werden Menschen in ein lebensgefährliches Land zurückgeschickt, weil die Bundesregierung es so fordert.

Ein Indiz hierfür liefert der jährliche Geschäftsbericht der Asylbehörde. Der weist für jedes Herkunftsland eine sogenannte Gesamtschutzquote aus. Nimmt man nur die offizielle Zahl, gibt es kaum einen Unterschied. Nach dieser bekamen im vergangenen Jahr 47,8 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge einen Asylstatus und im ersten Halbjahr 2016 immerhin noch 44,6 Prozent.

Doch sind in diesen Zahlen auch all die Fälle enthalten, die das Bamf gar nicht inhaltlich prüft, sondern sofort weiterleitet. Denn wer die EU in einem anderen Land als Deutschland zuerst betrat, gilt als sogenannter Dublin-Fall. Deren Anträge werden vom Bamf nicht bearbeitet, sondern an das entsprechende Land geschickt. Rechnet man diese sogenannten formellen Entscheidungen aus der Schutzquote heraus, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Während 2015 noch 78 Prozent der Asylbewerber einen positiven Bescheid aus dem Bamf bekamen, waren es 2016 nur noch 52 Prozent. Seit Anfang 2016 bekommt also nur noch höchstens jeder zweite afghanische Asylbewerber, dessen Antrag inhaltlich bearbeitet wurde, Schutz in Deutschland.

Das bedeutet unter anderem, dass ungefähr 12.000 Menschen, die bereits in Deutschland sind, wieder nach Afghanistan abgeschoben werden sollen.

Offiziell wird das damit begründet, dass die Sicherheitslage in Afghanistan sich verbessert habe. Doch interne Dokumente und Aussagen von Mitarbeitern, die ZEIT ONLINE vorliegen, belegen, dass das nicht stimmt. Vielmehr sinkt die Quote deshalb, weil die Politik gezielt Druck auf das Amt ausübt, Asylanträge von Afghanen abschlägig zu bescheiden.

Afghanistan ist in den vergangenen zwei Jahren nicht sicherer geworden, im Gegenteil. Die UN-Mission für Afghanistan verzeichnete im ersten Halbjahr 2016 den höchsten Stand ziviler Opfer des bewaffneten Konflikts seit 2009: Infolge des Bürgerkrieges starben demnach 1.601 Menschen, 3.565 wurden verletzt. Bereits im Jahr 2015 hatte sich laut Amnesty International die Sicherheitslage „massiv verschlechtert“.

Zahl der zivilen Opfer steigt

Im Bamf ist das kein Geheimnis. Die internen Herkunftsländerleitsätze (HKL), in denen die Behörde die Lage in den Ländern der Flüchtlinge beurteilt, zeichnen ein düsteres Bild für Afghanistan. Darin heißt es: „In allen Teilen Afghanistans herrscht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in Form von Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfen zwischen afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban sowie anderen oppositionellen Kräften.“ Menschenrechtsverletzungen seien weit verbreitet und würden kaum verfolgt. Die Versorgung mit Lebensmitteln sei schwierig. Grundsätzlich hätten zwar die meisten Menschen Zugang zu Nahrung. Doch immerhin die Hälfte aller Kinder in Afghanistan seien „durch Mangelernährung langfristig geschädigt“.

Attentate, Bombenanschläge und Gewalt sind im ganzen Land an der Tagesordnung. Das weiß auch das Bamf. „Seit der zweiten Jahreshälfte 2012 steigt die Zahl der zivilen Opfer an“, ein Ende des Anstiegs sei nicht in Sicht, heißt es in den internen Leitlinien. Besonders gefährdet sind demnach Frauen. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Vergewaltigungen, Ehrenmorde – die Liste der Gefahren, die der weiblichen Hälfte der Bevölkerung neben dem Krieg droht, ist lang. Aussicht auf Schutz haben die Opfer kaum. Es gebe nur wenige Frauenhäuser und praktisch keine Hilfe von der Regierung oder von der Gesellschaft.

Die Bamf-Analyse zeigt eine rudimentäre Gesellschaft, die nach Jahrzehnten des Krieges kaum noch Bindungen und Schutz bieten kann. Kinder, Homosexuelle, Kritiker von regionalen Machthabern – niemand von ihnen kann auf Hilfe hoffen. Auch medizinische Versorgung gibt es kaum, da alles fehle, was es dazu braucht.

Einen sachlichen Grund kann es deshalb kaum geben, warum seit 2016 weniger Menschen aus Afghanistan in Deutschland Schutz gewährt wird, obwohl gleichzeitig die Zahl der afghanischen Asylbewerber steigt. Aber es gibt einen politischen Grund.

Anstieg der Flüchtlingszahl soll „Einhalt“ geboten werden

Thomas de Maizière hat ihn formuliert, aus Angst vor der Flüchtlingsdebatte hierzulande. Im Oktober 2015, zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Deutschland, sagte er: Afghanistan stehe inzwischen bei der Zahl der Flüchtlinge auf Platz zwei der Liste der Herkunftsländer. Das sei inakzeptabel. „Wir sind uns einig mit der afghanischen Regierung, das wollen wir nicht.“

Beim Innenministertreffen der EU am 9. November wiederholte der Innenminister seine Aussage: „Unsere (…) Sorge ist im Moment in Europa die große Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan. Wir wollen, dass in Afghanistan das Signal ankommt: ‚Bleibt dort! Wir führen euch aus Europa (…) direkt nach Afghanistan zurück!'“ Sein Ziel sei es, dem Anstieg der Flüchtlingszahl aus Afghanistan „Einhalt“ zu gebieten, wie es das Innenministerium auf seiner Website formuliert.

Menschen sollen Schutz in Afghanistan selbst suchen

Umsetzen müssen diesen Wunsch die Mitarbeiter des Bamf. Auf den Entscheidern laste erheblicher Druck, so viele afghanische Asylgesuche wie möglich abzulehnen, sagt der Mitarbeiter, der aus Angst anonym bleiben will: „Jeder Asylentscheid, der von den Vorgaben der Leitsätze abweicht, muss dem Vorgesetzten vorgelegt werden. Wenn man einem männlichen, alleinstehenden Afghanen subsidiären Schutz gewähren will, muss man schon mutig sein.“

Kurz nach de Maizières Ankündigung wurden außerdem eben diese Leitsätze des Bamf für Afghanistan geändert. Sie enthalten vertrauliche Informationen der Bundesregierung über die afghanische Sicherheitslage und dienen als Entscheidungsgrundlage für die Prüfung der Asylanträge. Sie definieren, wer in Deutschland bleiben darf – und wer wieder gehen muss. Auf diesen Leitsätzen bauen wiederum die Textbausteine auf, mit deren Hilfe die Entscheider die Ablehnungsbescheide für Asylbewerber begründen.

Gleich auf den ersten Seiten der als Verschlusssache gestempelten Leitsätze hebt sich ein fett gedruckter Satz vom Rest des Textes ab: „Die grundsätzlichen Regelungen zu internen Schutzmöglichkeiten bei jungen, alleinstehenden und arbeitsfähigen Männern sind zu beachten.“ An vielen Stellen der Leitsätze wird auf diese „interne Schutzmöglichkeiten“ verwiesen – also auf die Möglichkeit, im Land selbst Schutz vor Verfolgung zu finden. Beispielsweise in der Hauptstadt Kabul, in der die afghanische Regierung die Lage weitgehend im Griff hat.

„Konstant ausreichend sicher“

Deutlich häufiger als bei vergleichbar gefährlichen Ländern verweisen die HKL zu Afghanistan auf diesen internen Schutz. Er kommt laut den Leitsätzen nicht nur für diejenigen in Betracht, die vor dem bewaffneten Konflikt fliehen, sondern sogar für politisch Verfolgte: Explizit werden ethnische Minderheiten, ehemalige Kommunisten und Gegner von lokalen Machthabern genannt. Wenn es ihnen in ihrer Region zu gefährlich ist, so die Logik, dann sollten sie eben in eine andere umziehen.

Auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion bestätigte die Bundesregierung den geänderten Fokus der Leitsätze: Es werde „stärker als bisher den Aspekten der innerstaatlichen Fluchtalternative im Herkunftsland unter Beachtung der Erreichbarkeit des Gebietes und der Existenzmöglichkeiten am Ausweichort Rechnung getragen.“

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Obwohl es in allen afghanischen Provinzen Kämpfe gibt, wie auch das Bamf an mehreren Stellen der Dokumente schreibt, werden in den Leitsätzen einige Gebiete sogar als „konstant ausreichend sicher“ eingestuft, „z.B. Kabul, Balkh, Herat, Bamiyan, Takhar, Samangan und Panjshir“. Das sind viel mehr angeblich sichere Regionen, als bislang bekannt war. Männliche Rückkehrer könnten sich in diesen Gebieten ohne großes Risiko ein Existenzminimum erarbeiten, behauptet das Bamf. Kabul und Herat, die größten Städte Afghanistans, werden in den Textbausteinen eigens ausführlich als interne Schutzmöglichkeiten aufgeführt.

Als Begründung dafür, dass die Bundesregierung diese Gebiete als sicher betrachtet, wird in den Bamf-Unterlagen auf zwei Jahre alte Berichte über die Sicherheitslage verwiesen: Sowohl der Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung von November 2014 als auch der Herkunftsland Report Afghanistan des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) von Januar 2015 werden genannt. Dabei räumt das Flüchtlingsamt selbst für die als noch am sichersten geltende Hauptstadt Kabul ein, dass dort, „wie im gesamten Land – vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auszugehen“ sei. Die Bundesregierung nennt die Lage in Kabul in ihrem Fortschrittsbericht hingegen „überwiegend kontrollierbar“.

Innenministerium: „Sicherheitslage bleibt volatil“

Das Bundesinnenministerium antwortet auf die Frage, ob sich die Sicherheitslage in Afghanistan verbessert oder verschlechtert habe, nur verschlungen: „Die Sicherheitslage bleibt auch über 2015 hinaus volatil und weist regionale Unterschiede auf. Eine Verschlechterung der Sicherheitslage im gesamten Land kann daher nicht bestätigt werden.“ Die Bedrohung sei für Regierungsangehörige und für westliche Besucher am höchsten. „Für die zivile Bevölkerung in den Gebieten unter militantem Einfluss ist die Bedrohung dagegen geringer.“ Begründung: Die Taliban hätten „wiederholt glaubhaft“ versichert, „zivile Opfer zu vermeiden und zivile Infrastruktur zu schonen“.

Mehr möchte das Ministerium dazu nicht sagen. Fragen nach den angeblich sicheren Regionen werden nicht beantwortet, denn die Leitsätze des Bamf seien nicht öffentlich und würden daher nicht kommentiert.

Die Bundesregierung erklärt aber nicht nur ganze Landstriche für sicher, sie nutzt noch eine zweite Strategie, um Asylbewerber abzulehnen. Sie errechnet eine theoretische „Gefahrendichte“ und erklärt diese für harmlos. So wird für die Stadt Herat in einem Textbaustein des Bamf die Wahrscheinlichkeit errechnet, Opfer des bewaffneten Konflikts zu werden. Berücksichtige man die Einwohnerzahl von Herat und die Zahl der Opfer dort im Jahr 2014, dann betrage die Wahrscheinlichkeit, durch Kämpfe zu sterben, nur 0,029 Prozent. Sie „blieb somit weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt“.

Was ist eine „beachtliche Wahrscheinlichkeit“ zu sterben?

Diese zynische Rechnung ist keine Erfindung der Bundesregierung. Deutsche Gerichte haben sie in Urteilen entwickelt, in denen sie über Asylverfahren entscheiden sollten. EU-Richtlinien zum Asylrecht fordern, dass niemand zurückgeschickt werden dürfe, wenn ihm ein „real risk“ drohe, eine tatsächliche Gefahr. Um zu bestimmen, was das genau bedeutet, haben deutsche Richter das Konzept der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ entwickelt. Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht haben den Begriff, der immer noch schwammig ist, in älteren Urteilen als „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ übersetzt und damit eine statistische Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent gemeint.

Das wird in neueren Urteilen nicht mehr als absolute Grenze verstanden. Aber ähnliche Berechnungen wie die vom Bamf angestellte sehen Gerichte weiterhin als ausreichend an, um Asyl abzulehnen. So fand das Bundesverwaltungsgericht 2011, ein Verhältnis zwischen Opfern und Bewohnern von 1 zu 800, beziehungsweise eine Sterbewahrscheinlichkeit von 0,125 Prozent sei kein Problem. Der Kläger sei „keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt“, urteilte das höchste Verwaltungsgericht.

Das Innenministerium antwortet nicht auf die Frage, wie hoch die „beachtliche Wahrscheinlichkeit“ ist, wo also die Gefahrengrenze gezogen wird, die Menschen zugemutet werden kann. Zitat einer Sprecherin: „Eine konkrete Zahl kann nicht genannt werden, denn dies muss für jede Region einzeln festgestellt werden.“

„Individuelle Prüfung wird oberflächlicher“

Wer behauptet, dass nur jenen Menschen eine reale Gefahr drohe, die mit mehr als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit davon ausgehen müssen, getötet zu werden, für den sind 0,029 Prozent gar nichts. Eben auf dieser Behauptung basieren die Ablehnungen für afghanische Asylbewerber.

Sogar für ganz Afghanistan wird im Textbaustein mit dem Titel „Keine Bedrohung im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes in Afghanistan“ eine solche Rechnung erstellt. Für das Jahr 2015 kommt das Bamf bei 27 Millionen Einwohnern und einer geschätzten Opferzahl von 20.000 Menschen auf eine Sterbewahrscheinlichkeit von 0,074 Prozent. Auch das sei weit von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, heißt es in dem Papier. Daher gebe es keinen Grund, als Bürgerkriegsflüchtling das Land verlassen zu müssen.

Um einen Vergleich zu haben, lässt sich nach diesem Muster beispielsweise die Gefahrenwahrscheinlichkeit für den Zweiten Weltkrieg berechnen. In den sechs Jahren von 1939 bis 1945 starben in Deutschland schätzungsweise 1,17 Millionen Zivilisten oder 195.000 pro Jahr. Bei einer Bevölkerung von damals 65,3 Millionen ergibt sich eine jährliche Sterbewahrscheinlichkeit für jeden Zivilisten von 0,3 Prozent. Der verheerende Zweite Weltkrieg war hierzulande also nur viermal tödlicher als der Bürgerkrieg in Afghanistan, den das Bamf für harmlos hält.

Der ehemalige Richter und Honorarprofessor Paul Tiedemann kritisiert denn auch diese Argumentationsweise in der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik: „Die These von der Bedeutungslosigkeit einer Gefahrendichte von weit unter 50 Prozent oder gar im Promillebereich erscheint nur auf den ersten unreflektierten Blick hin einleuchtend zu sein.“ Tiedemann schreibt, dass die Gefahrendichte bei den Bombardierungen Coventrys oder Frankfurts im Zweiten Weltkrieg unter einem Prozent gelegen habe, selbst das Bombardement von Dresden, das weite Teile der Stadt zerstörte, sei mit 10,6 Prozent weit von der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt, von der das Bamf spricht.

Medizinische Versorgung? Welche medizinische Versorgung?

Das Innenministerium verweist darauf, dass neben der Berechnung auch immer andere Faktoren einbezogen würden. „Zu dieser wertenden Betrachtung gehört auch die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen.“

Allerdings müsste das dann eher ein Faktor sein, der die Quote der anerkannten Asylanträge erhöht. Denn zur medizinischen Versorgung in Afghanistan heißt es in den internen Bamf-Unterlagen: „Die medizinische Versorgung ist in Afghanistan aufgrund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte sowie mangels ausgebildeten Hilfspersonals – trotz mancher Verbesserungen – immer noch unzureichend.“ Die Behandlung von Krankheiten sei daher „derzeit nur sehr eingeschränkt möglich“.

Warum die als sicher bezeichneten Gebiete jenseits von Kabul und Herat als sicher bewertet werden, wird in den Leitsätzen gleich gar nicht ausgeführt. Unverständlich bleibt auch, dass von zurückgeschickten, alleinstehenden Männern erwartet wird, dass diese sich in den Großstädten niederlassen, wenn es in ihrer Heimatprovinz zu unsicher ist. Dabei ist sogar in den internen Bamf-Leitsätzen die Rede davon, dass man außerhalb des Familienverbandes in Afghanistan kaum eine Existenz aufbauen könne. Wie Zehntausende Rückkehrer aus Europa und Flüchtlinge aus Pakistan in den Großstädten als Neuankömmlinge überleben sollen, ist unklar.

Selbst der rheinland-pfälzische AfD-Fraktionschef Uwe Junge findet, dass nach Afghanistan nicht abgeschoben werden sollte. Der Zeitschrift FAZ Woche sagte er: „Ich bin für konsequentes Abschieben in sichere Herkunftsländer, aber nicht nach Afghanistan. Ich wüsste nicht, wo es dort aktuell sicher sein sollte.“

Trotz alledem begründet das Bamf mehr und mehr Asylablehnungen mit diesen abstrakten Zahlen. „Man beschäftigt sich weniger mit der individuellen Verfolgungsgeschichte“, sagt Bernd Mesovic, der stellvertretende Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. „Stattdessen werden Ablehnungen – gerade bei Afghanen – mit dem Verweis auf interne Schutzmöglichkeiten begründet. Auch behauptet das Bamf, dass die im Fall einer Abschiebung drohenden Risiken nicht hoch genug für einen Abschiebungsschutz seien.“

Der Kölner Asylrechtsanwalt Gunter Christ hat ähnliche Beobachtungen gemacht: „In einigen meiner Fälle wurden Ablehnungsbescheide in der letzten Zeit mit der angeblichen ‚internen Schutzalternative‘ begründet. Entsprechend gibt es auch mehr Ablehnungen mit dieser Begründung.“ Je nach Bamf-Entscheider werde schon noch eine individuelle Prüfung der Verfolgung durchgeführt, „nach dem Eindruck von uns Rechtsanwälten allerdings immer oberflächlicher.“

„Wer untypische Entscheidungen trifft, muss zum Teamleiter“

Der Grund für die neue Strategie ist kalte Berechnung. Wenn die Rate der anerkannten Asylbewerber niedrig ist, besitzt die Bundesregierung eine Rechtfertigung für das Abkommen, das die Europäische Union mit der afghanischen Regierung geschlossen hat. Afghanistan hat sich darin verpflichtet, abgelehnte Asylbewerber wieder aufzunehmen. Im Gegenzug bekommen diese von der EU finanzielle Unterstützung, wenn sie freiwillig ausreisen. „Viele Afghanen, die nach Deutschland kommen, haben (…) keinen Anspruch auf internationalen Schutz und sind deshalb grundsätzlich ausreisepflichtig“, heißt es denn auch in einer Mitteilung des Bundesinnenministeriums über das Abkommen. Je mehr Asylbewerber abgelehnt und abgeschoben werden, desto mehr muss Afghanistan zurücknehmen.

Um das zu erreichen, schreckt das Bundesinnenministerium auch vor Druck auf seine eigenen Beamten nicht zurück. Das gleiche Muster zeigt sich bei den sogenannten Maghreb-Staaten. Auch nach Tunesien, Algerien und Marokko soll das Bamf Menschen zurückschicken, obwohl die Lage dort alles andere als sicher ist. Andere Entscheider im Bamf, die ebenfalls anonym bleiben wollen, bestätigen das. Einer sagt: „Man bekommt schon mit, wie sich die Leitung die aktuelle Entscheidungspraxis vorstellt. Wer häufiger untypische Empfehlungen ausspricht oder Entscheidungen trifft, muss bei seinem Teamleiter vorsprechen.“

Das Innenministerium dementiert das. Es gebe keine Anweisungen des Ministeriums an das Bamf, mehr afghanische Asylanträge abzulehnen, schreibt eine Sprecherin. „Das Bamf entscheidet nach Recht und Gesetz über jeden einzelnen Asylantrag.“

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