14. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Es war einmal ein Jungle in Calais“ · Kategorien: Frankreich · Tags:

Quelle: Faktencheck Hellas | 12.11.2016

Das wundersame „Verschwinden“ von 4.000 Menschen

von Bernard Schmid

„Alles verläuft ruhig und nach Plan“: So lautet die PR von Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve am 24. Oktober, als die Evakuierung des „Jungle“ genannten Migrantencamps in der Nähe von Calais begonnen hat. Gegen 8.45 Uhr verließ ein erster Bus mit Migranten das Lager, um zu einem „Aufnahme- und Orientierungszentrum“ (CAO) in der ostfranzösischen Region Burgund zu fahren. Die betroffenen Flüchtlinge mussten zuvor durch Gitter und einen Detektor gehen und sich identifizieren lassen.

Zweieinhalb Tage später war die Räumungsoperation abgeschlossen. Bald darauf hatten auch die letzten Minderjährigen das Camp nun verlassen. Rund zweihundert von ihnen, die Familienmitglieder auf den britischen Inseln haben, durften dorthin gehen. Den übrigen wird die sehnlich erwünschte Überfahrt nach England kategorisch verweigert. Dorthin aber streben die betreffenden Menschen der Sprache wegen, aufgrund der Präsenz stärkerer Communities aus ihren Herkunftsländern oder weil der neoliberal strukturierte britische „Arbeitsmarkt“ „illegalisierten“ Menschen überhaupt Einkommensmöglichkeiten (zu miesen Lohn- und Arbeitsbedingungen) bietet.

5.500 Flüchtlinge seien „in Sicherheit gebracht worden“, so die offizielle Sprachregelung. Doch in den CAOs wird ihnen nur ein Aufenthalt für maximal vier Monate gewährt. Danach droht ihnen: entweder erneut gar nichts bzw. die vom französischen Staat angebotene „freiwillige Ausreise“. Oder aber man wird ins französische Asylsystem aufgenommen. Mit Letzterem ist theoretisch auch ein Anspruch auf einen Heimplatz verbunden. Doch in der Praxis wird diese Unterbringungspflicht bereits heute in vielen Fällen nicht erfüllt. Die Staatsmacht beruft sich hier auf ihre angebliche „Überforderung“.

Keinerlei Garantie gibt es dabei für jene Flüchtlinge, die aufgrund der Dublin-Vereinbarung in ein anderes EU-Land zurückgeschoben werden können, wie Griechenland, Italien oder gar Ungarn. Dies widerfuhr bereits vor einem Jahr Sudanesen, die sich von Calais nach Südwestfrankreich hatten überstellen lassen. Deswegen widersetzten sich die „Dublin-Betroffenen“ auch am heftigsten einer „Umverteilung“. Viele von ihnen ließen sich in einiger Entfernung vom „Jungle“ in kleineren Camps nieder.

So sah die Lage im gesamten Raum Calais im Übrigen noch vor zwei Jahren aus. Danach hatte die Staatsmacht den Druck erhöht, um die Betreffenden mittels Vertreibungsmaßnahmen an einem einzelnen Punkt zu konzentrieren, eben jenem „Jungle“, in dem vor kurzem 8.000 bis 10.000 Menschen lebten. Heute ist die Staatsmacht umgekehrt der Auffassung, das Camp sei zu groß und allzu auffallend sichtbar geworden… Im übrigen hatten auch die Behörden mitbekommen, dass im Jungle 10.000 Menschen lebten. Was heißt: Rund 4000 von ihnen haben sich der jüngsten Umverteilungsaktion entzogen haben.

Am letzten Tag vor der der Räumungsoperation brannte es in dem Camp an mehreren Ecken lichterloh. NGOs und Freiwillige vermuteten, „Sicherheitskräfte“ hätten Feuer gelegt, um eine Rückkehr in das Camp definitiv zu verhindern. Dagegen erklärte die für die Region zuständige Präfektin (juristische Vertreterin des Zentralstaats), es liege „in der kulturellen Tradition bestimmter Migrantengruppe, ihre Behausungen vor ihrem Verlassen anzuzünden“. Eine „Tradition“, die sie Bevölkerungsgruppen aus Afghanistan zuschrieb. Infolge dieser Aussprüche handelte die Präfektin sich von NGOs eine Strafanzeige wegen „rassistischer Verleumdung“ ein.

Rund 170 vorläufige CAO-Aufnahmeeinrichtungen gab es bislang. Weitere 280 wurden nun eingerichtet. Dagegen gibt es aber lokal oft Widerstand, der von Rechten aller Schattierungen unterstützt wird. Am Tag des Räumungsbeginns wurde bekannt, dass die fünfte Aufnahmeeinrichtung in Folge, sie liegt in Loubeyrat im französischen Zentralmassiv, mit Brandanschlägen attackiert worden war. In zwei Fällen – im Raum Nantes und im Umland von Grenoble – waren solche (noch unbewohnte) Einrichtungen nachts mit Feuerwaffen beschossen worden.

Bernard Schmid lebt und arbeitet als Anwalt in Frankreich

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