16. Februar 2015 · Kommentare deaktiviert für Abschottung Mittelmeer · Kategorien: Deutschland, Mittelmeer, Mittelmeerroute · Tags: , ,

German Foreign Policy

Kein Ende in Sicht

BERLIN/ROM (Eigener Bericht) – Nach einer dramatischen Aktion zur Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer werden zum wiederholten Male Proteste gegen die deutsch inspirierte EU-Flüchtlingsabwehr laut. Die Marinen Italiens und Maltas haben am Wochenende mehr als 2.700 Migranten auf dem Mittelmeer vor dem möglichen Tod gerettet. Sie verstießen dabei gegen die – von Berlin und einem hochrangigen deutschen Frontex-Beamten vertretene – Forderung, nur noch innerhalb einer 30-Meilen-Zone vor dem italienischen Festland Rettungsaktionen durchzuführen. Die Forderung ist im Herbst Teil eines Streits innerhalb der EU gewesen, bei dem zur Debatte stand, ob Brüssel die italienische Rettungsmission „Mare Nostrum“ fortführt, die innerhalb eines Jahres mehr als 155.000 Flüchtlinge gerettet hat. Das Vorhaben ist maßgeblich an Deutschland gescheitert. „Mare Nostrum“ habe sich als „Brücke nach Europa“ erwiesen und dürfe daher nicht fortgesetzt werden, wird Bundesinnenminister Thomas de Maizière zitiert.

Wie aktuelle Berichte bestätigen, werden zudem illegale Abschiebungen in die Ukraine, die Beobachter schon vor zehn Jahren monierten, bis heute durchgeführt. Die Abschottung Deutschlands und der EU gegen Flüchtlinge geht mit der systematischen Produktion von Fluchtursachen durch den Westen einher – mit dem Anzetteln und Befeuern von Kriegen.

Kein Ende in Sicht

Nach den Katastrophenmeldungen über den Tod hunderter Flüchtlinge an den Südgrenzen der EU ist den Marinen Italiens und Maltas am Wochenende die Rettung von mehr als 2.700 Migranten auf dem Mittelmeer gelungen. Bereits vergangene Woche war bekannt geworden, dass mehr als 300 Menschen auf der Überfahrt nach Europa, wo sie Zuflucht suchten, erfroren oder ertrunken waren. Gestern wurde gemeldet, die Küstenwache und die Marine Italiens hätten bereits am Samstag rund 600 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer aus Seenot gerettet; am Sonntag hätten sie gemeinsam mit der maltesischen Marine weitere 2.164 an Bord nehmen und vor dem möglichen Tod bewahren können.

Mare Nostrum

Zur aktuellen Verschärfung der Lage hat maßgeblich die Bundesregierung beigetragen. Das zeigen die Auseinandersetzungen um die italienische Seenot-Rettungsmission „Mare Nostrum“. Rom hatte die Mission gestartet, nachdem bei einem Flüchtlingsunglück auf dem Mittelmeer im Oktober 2013 mehr als 360 Menschen ums Leben gekommen waren. „Mare Nostrum“ rettete binnen eines Jahres über 155.000 Personen. Ende Oktober 2014 musste die Mission eingestellt werden. Italien hatte sich – selbst schwer von der Krise geschüttelt – dafür eingesetzt, die EU solle sie weiterführen und die Kosten dafür übernehmen; es handelte sich um neun Millionen Euro, für die EU eine geringe Summe. Brüssel weigerte sich, „Mare Nostrum“ musste beendet werden und wurde durch die EU-„Grenzschutzmission“ „Triton“ ersetzt. Beobachter bringen die jüngsten Todesopfer in einen klaren Zusammenhang mit dem Wechsel. Als am 8. Februar mindestens 29 Flüchtlinge auf dem Mittelmeer erfroren, stellte die Bürgermeisterin von Lampedusa, Guisi Nicolini, fest: „Mit Mare Nostrum wären sie noch am Leben“. Die Präsidentin des italienischen Senats, Laura Boldrini, bestätigte die Einschätzung: „Diese Menschen starben nicht bei einem Schiffbruch, sondern an Kälte. Das sind die Folgen des Endes von Mare Nostrum.“[1]

Keine Brücke nach Europa

Das Scheitern der von Italien gewünschten Übernahme von „Mare Nostrum“ durch die EU ist maßgeblich Berlin geschuldet. „Deutschland gehört zu den Ländern, die am vehementesten auf das Ende von ‚Mare Nostrum‘ gedrungen hatten“, stellt ein Medienbericht ausdrücklich fest.[2] Hintergrund ist das deutsche Bestreben, Flüchtlinge abzuschrecken – um jeden Preis. Weil Italien seine Rettungsmission auch auf Seegebiete unweit der libyschen Küste ausgedehnt hatte – in Rechnung stellend, dass Libyen im Bürgerkrieg versinkt und seine Küstenwache schlicht nicht handlungsfähig ist -, seien Flüchtlinge zusätzlich „ermutigt“ worden, in See zu stechen, moniert ein EU-Konzeptpapier, aus dem die Flüchtlingsorganisation „Pro Asyl“ zitiert. Bundesinnenminister Thomas de Maizière schloss sich der Kritik umstandslos an: „Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen.“[3] Laut EU-Planungen, die die Grundlage für die neue Grenzschutz-Operation „Triton“ bilden, dürfen Rettungseinsätze nur noch in einer Maximalentfernung von 30 Meilen vor der italienischen Küste durchgeführt werden. Der deutsche Operationsleiter von „Triton“, Klaus Rösler, hat sich am 9. Dezember in einem Schreiben an den Direktor der italienischen Grenzpolizei dafür stark gemacht, Notrufen von außerhalb der 30-Meilen-Zone nicht mehr nachzukommen. Man wolle Flüchtlingen keinerlei „Anreize“ bieten, heißt es zur Begründung für den Aufruf zur Verweigerung lebensrettender Hilfe.[4]

Die 30-Meilen-Zone

Hätten die italienischen und die maltesischen Behörden Röslers Aufruf Folge geleistet, wären die mehr als 2.700 Flüchtlinge am vergangenen Wochenende nicht gerettet worden, sondern möglicherweise erfroren und ertrunken: Sie setzten ihren Notruf rund 160 Kilometer südlich von Lampedusa ab und damit weit außerhalb der von Berlin durchgesetzten 30-Meilen-Zone. Die deutsche Haltung in der Sache ruft mittlerweile sogar die Vereinten Nationen auf den Plan. „Einige Regierungen räumen der Abwehr von Flüchtlingen höhere Priorität ein als dem Recht auf Asyl“, wird UN-Flüchtlingshochkommissar Antonio Guterres zitiert; dies sei die „falsche Reaktion in einer Zeit, in der eine Rekordanzahl an Menschen vor Kriegen auf der Flucht ist“.[5] In der Tat wird derzeit die Gesamtzahl der Flüchtlinge weltweit von der UNO auf mehr als 51 Millionen beziffert. Tausende von ihnen kommen jährlich beim Versuch zu Tode, sich über das Mittelmeer nach Europa in Sicherheit zu bringen. Allein für 2014 schätzen Beobachter die Zahl der Flüchtlinge, die auf dem Mittelmeer erfroren oder in ihm ertranken, auf 3.400 – fast zehn pro Tag.

Illegal abgeschoben

Dabei ist das Mittelmeer lediglich der Hauptabschnitt der deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr. Aktuelle Berichte bestätigen, dass es auch an den EU-Ostgrenzen bereits seit Jahren zu Übergriffen kommt, die geltendes internationales Recht systematisch brechen. Demnach werden immer wieder Flüchtlinge etwa aus Ungarn und der Slowakei in die Ukraine abgeschoben, ohne dass sie Gelegenheit haben, Asyl zu beantragen. Dies geschieht seit mindestens zehn Jahren, wie Schilderungen von Menschenrechtsorganisationen aus dem Jahr 2005 belegen (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Schon damals wurden auch die teilweise menschenunwürdigen Lebensbedingungen in ukrainischen Haftanstalten kritisiert, in denen Flüchtlinge interniert werden. Daran hat sich offenkundig nichts verändert, obwohl die EU in den letzten Jahren laut Berichten „einen höheren zweistelligen Millionenbetrag“ in die Haftanstalten und in die Schulung des Gefängnispersonals investiert hat, um ihr Abschiebeabkommen mit der Ukraine zu legitimieren, das im Jahr 2010 in Kraft getreten ist. Wie es jetzt heißt, erhalten Flüchtlinge in der Ukraine „Nahrungsmittel im Wert von weniger als einem Euro pro Tag“; einige von ihnen beklagen Hunger und mangelhafte medizinische Versorgung. Die EU gibt vor, nichts davon zu wissen, obwohl ihr bereits die Menschenrechts-Berichte aus dem Jahr 2005 nicht unbekannt sein können.[7]

Kriege und Flucht

Die Abschottung gegen Flüchtlinge zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Bundesrepublik, seit vom Westen selbst geführte oder zumindest befeuerte Kriege eine steigende Anzahl an Menschen zur Flucht zwingen. Erste Abschreckungsmaßnahmen verordnete Bonn schon in den 1980er Jahren, als der – vom Westen gebilligte – Militärputsch in der Türkei und die blutige Repression des türkischen Militärs kurdischsprachige Bürger des Landes und Linke in hoher Zahl zur Flucht trieben und auch der vom Westen befeuerte Afghanistan-Krieg zahlreiche Flüchtlinge schuf.[8] Als Anfang der 1990er Jahre unter anderem die von der Bundesrepublik forcierte blutige Zerschlagung Jugoslawiens zahllose Menschen entwurzelte, setzte Bonn 1993 mit der sogenannten Drittstaatenregelung das Asylrecht weitgehend außer Kraft. Während die Bundesrepublik gegen Jugoslawien sowie in Afghanistan in den Krieg zog, danach ihr Hauptverbündeter USA den Irak zerstörte und schließlich die vom Westen geführten oder befeuerten Kriege in Libyen und in Syrien immer mehr Menschen zwangen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren, um ihr Leben zu retten, errichtete die EU unter deutschem Druck mit hochgerüsteten „Grenzzäunen“ und der Fluchtabwehrorganisation Frontex ein Abschottungsregime, das Flucht verhindern soll, dabei die Flüchtlinge aber zugleich auf immer gefährlichere Fluchtrouten und damit viele von ihnen in den sicheren Tod treibt. Die brutale Flüchtlingsabwehr bekämpft Flüchtlinge, deren Flucht der Westen zu einem erheblichen Teil selbst zu verantworten oder mitzuverantworten hat – mit seinen Kriegen. Ein Ende der Katastrophe ist nicht in Sicht.

Weitere Informationen zur deutschen Flüchtlingsabwehr und ihren Folgen finden Sie hier:

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[1] „Mit Mare Nostrum wären sie noch am Leben“. www.proasyl.de 10.02.2015.
[2] Flüchtlingsmission „Mare Nostrum“ endet. www.dw.de 31.10.2014.
[3], [4] „Mit Mare Nostrum wären sie noch am Leben“. www.proasyl.de 10.02.2015.
[5] Europa lässt weiter sterben. www.proasyl.de 23.12.2014.
[6] S. dazu Um jeden Preis und Interview mit Christopher Nsoh.
[7] Illegale „Pushbacks“ an EU-Ostgrenzen? www.tagesschau.de 13.02.2015.
[8] S. dazu Einmalige Abschreckung.

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