18. September 2014 · Kommentare deaktiviert für Doppelrezension zu Mali – izindaba · Kategorien: Lesetipps, Mali

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Doppelrezension zu Mali

Von: uMlungu

  • Georg Klute: Tuareg-Aufstand in der Wüste; Ein Beitrag zur Anthropologie der Gewalt und des Krieges; Köln 2013; 696 S.; 68.- €
  • Berhard Schmid: Die Mali-Intervention; Befreiungskrieg, Aufstandsbekämpfung oder neokolonialer Feldzug?; Münster 2014; 158 S.; 15.- €

In Festtagskleidung feiern Tuaregfrauen die Geburt eines Kindes. Quelle: http://www.nationalgeographic.de

Georg Klute: Tuareg-Aufstand in der Wüste
Ein Beitrag zur Anthropologie der Gewalt und des Krieges

In seiner Monographie „Tuareg-Aufstand in der Wüste“ analysiert der Bayreuther Ethnologe Georg Klute Ursachen, Ziele, Strukturen, Abläufe und Erscheinungsformen der Tuareg-Revolte im Norden Malis Anfang der 1990er Jahre. Indem er aus der „dichten Beschreibung“ seiner empirischen Beobachtungen theoretische Schlussfolgerungen zieht, versucht er einerseits einen „Beitrag zur geschichtlichen Aufarbeitung der Tuareg-Rebellionen“ und andererseits einen „Beitrag zur Ethnologie und Soziologie des Krieges“ zu leisten.

Nach einer Einleitung, in der neben methodischen und formalen Anmerkungen eine politische Anthropologie der Tuareg-Revolte 1990-1994 überblicksartig dargestellt wird, folgen vier sehr ausführliche Schwerpunkte:

  • „Poesie der Revolte“ – über die Musik der Tuareg,
  • Exil,
  • „Krieg in der Wüste“ – über den eigentlichen militärischen Aufstand 1990-1996,
  • Herrschaft im Adagh1: neue Formen politischer Herrschaft.

Politische Anthropologie der Tuareg Revolte 1990-1996

Die Aufstände der Tuareg in Mali und Niger gehen von Arbeitsmigranten und Flüchtlingen aus, die Anfang 1990 aus Algerien und Libyen in ihre Heimatländer zurückkehren. Klute geht davon aus, dass sie im Exil Organisationen gegründet haben, die eine eigenständige ethnische Identität der Tuareg behaupteten und daraus die Forderung nach exklusiven Minderheitsrechten ableiteten.

Nach Klute sind sie dabei wesentlich von vier Quellen beeinflusst (S. 24):

  • Gaddafis Ideologie einer „direkten Demokratie“,
  • dem Vorbild anderer nationaler Befreiungsbewegungen,
  • ihren Kampferfahrungen in der vom libyschen Militär aufgestellten „Islamischen Legion“ im Irak, Libanon und dem Tschad,
  • die gemeinsamen Erfahrungen in den Exilländern, die die herkömmliche Grenzen zwischen Schichten, Stämmen oder Regionalgruppen zurücktreten lassen.

Für die bewaffneten Aufstände gegen die Zentralregierungen in Mali und Niger schließen sich die Tuareg in kleinen beweglichen Gruppen zusammen. Sie entwickeln eine effiziente Form des Kleinkriegs, den die Armeen der beiden Staaten bald zu imitieren versuchen.

„Poesie der Revolte“

In diesem Schwerpunkt hat Klute erstmals neuere Lieder und Gedichte der Tuareg ins Deutsche übertragen und untersucht sie in ihrem historischen Kontext. Bei den Autoren handelt es sich um Tuareg aus dem Norden Malis, die im Exil beginnen, ihre Gedanken und Emotionen poetisch zu verarbeiten. Sie werden zum Vorbild für Tuareg in anderen Regionen.

Diese mündlich überlieferte Dichtung ist laut Klute ein „Binnendiskurs“ und deswegen aufschlussreicher für das Verständnis der bewaffneten Konflikte als die französischsprachigen Verlautbarungen der Tuareg gegenüber externen Zielgruppen.

Auf Grundlage der Poesie der Revolte unterscheidet Klute vier unterschiedliche Phasen der Tuareg-Rebellion:

  • Die „Phase der Rückkehr“, die Zeit des Exils: Nach der ersten großen Dürre von 1972-19752 sollen 65-70% der jungen Männer zwischen 14 und 35 Jahren regelmäßig als saisonale Arbeitsmigranten in die nördlichen Nachbarländer gezogen sein. Die Arbeitsmigration wird zu einem Massenphänomen. (1978 bis Sommer 1990).
  • Die „Phase der Rache“: der Beginn der bewaffneten Auseinandersetzung (Sommer 1990-Frühjahr 1991).
  • Die „Phase der Resignation“: die Enttäuschung über die Spaltungen der Bewegung in einen Minderheiten-Flügel der Eliten3, der Friedensverhandlungen mit der Regierung aufnimmt und deren Kombattanten in die Armee eingegliedert werden, und einer Mehrheit der armen Leute, für die die Friedensvereinbarungen die Aufgabe der Utopie von der Nation bedeuten. Im Krieg zwischen den mittlerweile mit der malischen (und algerischen) Armee verbündeten Eliten auf der einen Seite gegen die Armen auf der anderen Seite, sind letztere schließlich unterlegen. Die Poeten, so Klute, haben alle kämpferischen, zukunftsweisenden und optimistischen Töne aufgegeben (Frühjahr 1991-Winter 1994/1995).
  • Die „Phase des Rückzugs“: die Armee der Armen ist von den Eliten geschlagen, die Armen wenden sich den Gewinnern zu, die Utopie von einer egalitären Nation der Tuareg ist gescheitert. Die wenigen Kriegsgewinnler werden scharf kritisiert, denn „einige Rebellenführer sind von marginalen Migranten in die Zentren des Landes aufgestiegen, nämlich in die Hauptstädte Malis und Nigers, wo sie sich in den Zentren der Macht befinden, als Präsidentenberater, Staatsekretäre und sogar als Minister“(S. 119) (Winter 1994/1995-1996).

Ein Highlight des Buches ist die Vorstellung von einigen Poeten und Sängern der Rebellenmusik (S. 71ff.). Die Schilderung, wie z.B. der Musiker Abraybone 1960 als fünfjähriger der öffentlichen Exekution seines Vaters beiwohnen muss, wirft ein Licht darauf, welche unglaublichen Traumatisierungen den Hintergrund der Revolte bilden. Geschichten von Dürren, politischer Repression und Gefängnis, Armut, Sklaverei, Kriege und Ausbeutung werden plastisch in kurzen Strichen skizziert.

Interessant ist auch, wie Klute in einem Exkurs über berberische Wurzeln beschreibt, wie die erste Gruppe von 640 ehemaligen Rebellen (Elite-Flügel), die nach einem zwischenzeitlichen Waffenstillstand im Frühjahr 1993 in die Armee integriert worden ist, „ihren Lebensunterhalt (und weit mehr!)“ bei der Zivilbevölkerung zusammen raubt. In direkter Reaktion darauf gründete sich im April 1994 die heute noch aktive faschistische Songhai4-Miliz Ganda Koy, die alle Tuareg und Mauren aus Mali vertreiben will.

Exil

Die Utopie von der Nation und die Idee des Befreiungskampfes entsteht laut Klute im arabischen Exil, vor allem im libyschen. Den Kern der bewaffneten Kämpfer bilden zurückgekehrte Migranten, die im Exil das moderne Kriegshandwerk gelernt hatten.

Durch die brutale Repression gegen den Tuareg-Aufstand 1963/64 sind rund 40% des Viehbestandes von der malischen Armee getötet worden, viele Nomaden wirtschaftlich ruiniert und die Gesellschaft extrem traumatisiert (S. 246ff.).

Als dann während der ersten großen Dürre von 1972-1975 die traditionellen Bewältigungsstrategien nicht mehr greifen können, bricht beinahe die ganze Bevölkerung der Region Kidal auf, um im Ausland oder anderen malischen Regionen zu überleben. Anschließend sollen 65-70% der jungen Männer zwischen 14 und 35 Jahren regelmäßig als saisonale Arbeitsmigranten in die nördlichen Nachbarländer gezogen sein.

Nach der zweiten großen Dürre kommt es zu einer erneuten Ausreisewelle. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre leben zwischen 60.000 Tuareg-Flüchtlinge in Algerien, 40.000 in Libyen. Das entspricht rund 10% der gesamten Tuareg-Bevölkerung von Mali und Niger.

Arbeitsmigration wird zu einem Massenphänomen, allerdings bleibt ihr Exil weitgehend innerhalb der traditionell von Tuareg durchstreiften Gebiete, oder doch zumindest in deren Nähe5.

Schmuggel wird zu einem einträglichen Geschäft. Der Schmuggelhandel greift auf herkömmliche Wanderungsmuster und Verhaltensweisen der Tuareg-Nomaden zurück: er knüpft einerseits an den traditionellen Karawanenhandel, andererseits an die vorkoloniale Praxis des bewaffneten Raubzugs (Razzia) an.

Die Auseinandersetzungen zwischen Staatsgewalt und Schmuggler brutalisieren sich stetig. Gleichzeitig werden staatliche Würdenträger Teile von illegalen Netzwerken. Die Grenzen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren verschwimmen.

In der Fremde erschließen sich für die Migrant_innen neue Horizonte und reproduzieren sich alte Abgrenzungen. Einerseits eröffnen sich neue Möglichkeiten. Klute zielt hier besonders auf den Erwerb militärischer Fähigkeiten ab. Er stellt uns aber auch andere legale Tätigkeiten der Exilierten vor: u.a. Oasengärtner, Lohnhirten, Hilfsarbeiter auf dem Bau, White-collar-Arbeiter oder Arbeit im Tourismusgewerbe.

Andererseits erleben die Tuareg im Exil laut Klute, dass sie als Bürger ihrer jeweiligen Herkunftsländer identifiziert werden: während sich z.B. die „Nigerleute“ als Arbeitsmigranten in Südalgerien allgemeiner Wertschätzung erfreuen, erfahren die vor dem Krieg geflohenen zahlreichen, verarmten und rebellischen „Malileute“ weitgehend Ablehnung und Hass. Untereinander reproduzieren die Tuareg diese Abgrenzungen – zu einer gemeinsamen „Tuareg-Identität“ sei es nicht gekommen.

Mitte der 1980er Jahre beginnt die algerische Regierung mit Razzien und Ausweisungskampagnen gegen die Tuareg-Flüchtlinge aus dem Süden, denen massiver Schmuggel und politische Konspiration vorgeworfen wird. Doch viele der Ausgewiesenen kehren einfach zurück. Daraufhin starten die Algerische Regierung und die UNO ein Projekt zur Reintegration und Rückführung der Tuareg-Flüchtlinge und -Migrant_innen in ihre Heimatländer (FIDA6). Trotz 22 Mio. US-$, die in das Projekt gesteckt werden, scheitert es komplett. Die soziale und materielle Realität in den Auffanglagern entspricht trotz des vielen Geldes nicht den Erwartungen, die FIDA bei den Migrant_innen geweckt hatte. Als die malische und die nigrische Armee dazu übergehen, die wegen der nicht eingehaltenen Versprechen demonstrierenden Rückkehrer zu verhaften und zu ermorden, fliehen weit mehr Menschen in den Norden, als im Rahmen von FIDA zurückgeführt worden waren.

Klute resümiert, dass in diesen Jahren des Exils die Entscheidung zur Bildung politischer Exilorganisationen und der Beschluss zur Aufnahme des Kampfes heranreift.

Krieg in der Wüste

Auffallend ist, dass kaum ein anderer Autor die bewaffneten Auseinandersetzungen während der Tuareg-Rebellionen 1990-1996 ausdrücklich als Krieg bezeichnet. Liegt das daran, dass die Weite des Raumes und die geringe Bevölkerungsdichte häufig ein Ausweichen vor dem Krieg ermöglicht? Oder liegt das daran, dass die Rebellionen bemerkenswert gemäßigte Kriege bleiben?

Laut Klute lassen sich alle Merkmale des Krieges in den Auseinandersetzungen wieder finden (S. 374)7, obwohl die Zahl der Opfer mit ca. 4.000 Kriegstoten vergleichsweise klein geblieben ist. Die überwiegende Zahl der zivilen Opfer gibt es unter den Tuareg und Mauren8. Sie sind nach Klute vor allem auf Repressionsmaßnahmen der Armee oder auf Aktionen der Ganda Koy zurückzuführen. Von Rebellenseite wird dagegen die zentrale Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten weitgehend beachtet.

Anfangs werden die Kämpfe von jungen Rebellen im malisch-algerischen Grenzgebiet geführt. Viele Tuareg begegnen ihnen mit Unverständnis oder gar mit Ablehnung. Die Armee reagiert von Anfang an mit harter Repression gegen die gesamte Bevölkerung. So wird drei Wochen nach Beginn der Rebellion für die Regionen Gao und Timbuktu der Ausnahmezustand ausgerufen und eine Ausgangssperre verhängt: alle Bewohner_innen sollen in die Nähe von Militärposten ziehen, das übrige Gebiet wird zur „Kampfzone“ erklärt, Zivilpersonen in der „Kampfzone“ werden zum Abschuss freigegeben.

Nachdem es im April 1991 in Gao, Timbuktu und Sevare zu rassistischen Pogromen gegen alle Tuareg und Mauren gekommen ist, ändert sich die Lage: „Eine neutrale Haltung gab es nicht mehr, man konnte nicht mehr neutral sein. Man musste eine Seite wählen und man wurde zu dieser Wahl gezwungen. Es gab Leute, die überhaupt keine Wahlmöglichkeit hatten, denn wenn sie hellhäutig sind, selbst wenn sie sich auf die Seiten der Regierung stellen wollen, können sie das nicht“ zitiert Klute einen Tuareg (S. 396). Alle Nomaden werden von der Armee für Rebellen gehalten. Und die Armee geht mit harter Hand gegen sie vor.

Die Bereitschaft der zunächst mit der Armee kollaborierenden Eliten zur Zusammenarbeit lässt rasch nach, nachdem auch Angehörige der Eliten gefoltert und ermordet worden sind.

Auf Druck Algeriens und Frankreichs schließen die Konfliktparteien im Januar 1991 ein Abkommen, in dem quasi eine Autonomie für die drei Nordregionen verabredet wird. Davon profitieren am meisten Teile der nordmalischen Eliten, die ihre dominierenden Stellung der Kolonialverwaltung verdanken und ihre Position in der nachkolonialen Zeit durch den Zugang zu den Pfründen des Zentralstaates weiter ausbauen konnten. Das führt zur Spaltung der Bewegung.

Zwischen Frühjahr 1994 und Winter 1994/95, eskaliert die Gewalt. Neben der eigentlichen Rebellengruppe und der Armee tauchen mehr oder weniger kriminelle Milizen, die auf lohnende Beute und Rache aus sind (wie Klute behauptet), und die faschistische Ganda Koy auf, die nicht nur den Genozid propagieren, sondern auch in die Tat umzusetzen versucht. Die von Angehörigen der Ethnie der Songhai dominierten Zeitungen begleiten das mit rassistischen Hasstiraden.

Gleichzeitig kommt es zum „Bruderkrieg“ zwischen den verschiedenen Tuareg-Fraktionen, der sich schnell zu einem sozialen Konflikt weiterentwickelt. Jetzt richten auch Teile der Rebellen, die bis dahin eine gemäßigte Form der Kriegsführung praktiziert haben, ihre Angriffe gegen zivile Ziele. Die Tuareg-Bevölkerung wendet sich enttäuscht von den Rebellen ab.

Es beginnt eine fortlaufende Sequenz von Gewaltakten, die laut Klute „irgendeinen ‚Sinn‘ nur noch in sich selbst trugen. Es scheint mir, als könnten Menschen der Tatsache nur schwer ins Auge sehen, dass Gewalt keine besondere Ursache und keinen besonderen Anlass außerhalb ihrer selbst braucht.“ (S. 409).

Diese Entgrenzung der Gewalt lässt auch die Flüchtlingsströme in die Nachbarländer anschwellen. Anfang 1995 flauen die Kämpfe ab, doch erst im März 1996 wird die Tuareg-Rebellion mit einem Versöhnungstreffen beendet. Die Eliten können ihre soziale Stellung stärken, die sozialen Probleme, die Auslöser der Revolte gewesen sind, werden nicht gelöst.

Herrschaft im Adagh

Die französische Kolonialmacht hatte im Rahmen ihrer Politik des „Teile und Herrsche“ im Adagh ein „administratives Häuptlingstum“ eingerichtet und deren Unabhängigkeit gegenüber allen anderen Gruppen garantiert. Denn sie waren die einzige Gruppe im gesamten Tuareg-Gebiet gewesen, die der französischen Kolonialarmee keinerlei Widerstand entgegenstellte.

Aus diesem „administrativen Häuptlingstum“ entwickelten sich ab 1960 im Nationalstaat die regionalen Eliten des äußersten Nordens, denen es gelingt, Zugang zu Pfründen und Machtmittel der Zentralregierung zu erhalten und die diversen sozialen Revolten für ihre Ziele auszunutzen. Auch durch die Tuareg-Rebellion Anfang der 1990er Jahren wächst die Bedeutung dieser Eliten. Einerseits agieren sie oft als Vermittler zwischen den Rebellen, die eine einheitliche Tuareg-Nation fordern, und der Zentralregierung, die keine territoriale Abspaltung zulassen will. Andererseits haben sie ihre eigene bewaffnete Gruppe, die MPA, die mehr an einem Ausgleich mit der Armee als mit den anderen Rebellengruppen interessiert ist. Die MPA besiegt schließlich die anderen Rebellengruppen.

Durch die MPA erhalten die Eliten des Adagh Gewaltmittel in die Hand, die eine wesentliche Grundlage für die Errichtung einer „parasouveränen Herrschaft“ werden. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass der Zentralstaat einzelne Bereiche seiner Souveränität anderen Akteuren überträgt. Das bleibt auf eine bestimmte Region innerhalb eines gegebenen staatlichen Rahmens beschränkt, die keineswegs ganz aus der gegebenen politischen Ordnung herausgelöst wird (S. 614).

Die Verbindung schon existierender Herrschaftsgruppen mit Teilen der bewaffneten Opposition ist eine Voraussetzung für die Errichtung einer parastaatlichen Souveränität im Norden Malis, weil „parasouveräne Herrschaft“ nur als legitim gilt, wenn sie Ordnung schafft und die Bevölkerung schützt. Die andere Voraussetzung ist, dass die Eliten über die Mittel der nach der Revolte aufgelegten Sozialprogramme der Regierung im Norden verfügen können.

Der malische Staat, der seit der Unabhängigkeit im Norden Malis nur mit Soldaten, Polizisten, Steuereintreibern und Zöllnern in Erscheinung getreten ist, hofft durch die Einrichtung der Parasouveränität letztlich die eigene Herrschaft im Norden zu konsolidieren.

Diese Entwicklung ist laut Klute ein Beispiel dafür, wie die Schwäche des Zentralstaats „ethnischen Gruppen“ (genauer: die Eliten einer ethnischen Gruppe) die Chance bietet, eigene angeblich traditionell begründete Organisationsvorstellungen erfolgreich gegen das staatliche Organisationsmodell durchzusetzen.

Kritik

In der Tradition seines kurz vor Erscheinen des Buches verstorbenen Lehrers Trutz von Trotha versucht Klute, einen „Beitrag zur Ethnologie und Soziologie des Krieges“ oder wie es im Untertitel heißt, einen „Beitrag zur Anthropologie der Gewalt und des Krieges“ zu leisten. An diesem Anspruch ist er unseres Erachtens doppelt gescheitert:

Erstens, weil der Ansatz von Trothas sich weder mit sozialen Widersprüchen noch mit patriarchalen Gewaltverhältnissen aufhält. Folglich kommen solche Widersprüche in seiner Theorie nicht vor.

Dementsprechend werden Widersprüche zwischen Reichen und Armen, Männern und Frauen oder Modernisierern und Traditionalisten sowie von Klute lediglich am Rande erwähnt. Auch die dramatischen Traumatisierungen durch die Brutalitäten der malischen Armee spielen keine bedeutende Rolle. Unterschiedliche Ausbeutungskonzeptionen des malischen Staates oder der neuen „Parasouveränität“ werden erst gar nicht thematisiert. Auch die Kollaboration der Kel-Adagh Eliten mit dem französischen Kolonialismus und die sozialen Konstellationen in der Kolonialzeit erfasst Klute nicht als soziale Konflikte, die sich gegen ein rebellisches „Unten“ richtet und die sich bis in die Gegenwart verlängert haben, sondern als politische Auseinandersetzung um einen Platz an den Trögen der Herrschaft. So wundert er sich, dass die Aufständischen jene als Helden verehren, deren Aufstand von den französischen Kolonialisten und den Adagh-Eliten gemeinsam niedergeschlagen wurde (148ff.).

Angesichts expliziter ethnischer Säuberungen von einer „Sinnlosigkeit von Gewalt“ zu faseln, wird der Brutalität der Auseinandersetzung nicht gerecht und beschönigt soziale Gewaltverhältnisse, die hinter diesen Morden stehen. Es scheint uns eher, dass manche Menschen der Tatsache nur schwer ins Auge sehen können, dass solche brutale Gewalt ihre Ursache in den kolonialen, imperialistischen und patriarchalen Gewaltverhältnisse hat, die unseren Reichtum und die Armut der Anderen garantieren.

Der zweite Grund, warum Klute mit seinem Anspruch, einen „Beitrag zur Ethnologie und Soziologie des Krieges“ zu leisten, scheitert, ist, dass seine Argumention nicht stringent bzw. nachvollziehbar ist.

Schon Klutes erste Voraussetzung, die Tuareg-Organisationen im Exil seien ethnizistisch orientiert, wirkt mehr behauptet als belegt, weil er sich mit anderen möglichen Motiven wie z.B. Internationalismus oder soziale Konflikte nicht auseinandersetzt.

Von welcher Tuareg-Nation Klute durchgehend spricht, wird auch nicht klar. Immerhin sind die Tuareg im Norden Malis auch nur eine Ethnie unter anderen. Als die MNLA 2012 ein freies „Azawad“ im Norden Malis proklamierte, war sie sich zumindest im Außendiskurs darüber bewusst, dass es nur eine multiethnische Nation sein kann. Diesen ganzen Komplex blendet Klute einfach aus.

Des Weiteren schreibt er , die Dichter der „Poesie der Revolte“ sprächen nicht von Ethnie oder Nation, sondern sie sähen die „Gesamtheit der Ethnie als durch Verwandtschaft konstruiert“. Nur leider sticht das Argument nicht: schon der oberflächliche Kenner des Popdiskurses (auf den sich die Tuareg-Dichter explizit beziehen) weiß, dass mit „Brothers and Sisters“ nicht die Angehörigen der Familie gemeint sind wie auch in religiösen Diskursen mit „Brüder und Schwestern“ egalitäre und nicht verwandtschaftliche Beziehungen benannt werden. Klute weist eine egalitäre Sichtweise explizit zurück.

Die Beteiligung von Tuareg an der „islamischen Legion“ beschreibt Klute ausschließlich unter den Gesichtspunkten der Ethnogenese. Dass dem Pan-Arabismus internationalistische und antiimperialistische Vorstellungen zugrunde liegen, ist ihm fremd. So behauptet er, niemand von den Tuareg denke an die Befreiung noch unterdrückter Teile der Arabischen Nation (S. 83). Für Menschen, die im Tschad, Libanon oder Irak genau dafür ihr Leben auf Spiel gesetzt haben, eine unverschämte Behauptung.

Besonders bizarr: in einem Lied über die libysche Offensive im nördlichen Tschad 1986/87 werden Frankreich und Amerika kritisiert. Dass die ehemalige Kolonialmacht Frankreich erwähnt wird, findet Klute noch verständlich, weil Frankreich für den Zuschnitt der nordafrikanischen Grenzen, der die Ursache ihres Elends sei, verantwortlich gemacht wird. „Warum aber die Erwähnung Amerikas? Ob ‚Amerika‘ als Symbol für den ‚Westen‘ steht, der wie Frankreich für die innerstaatliche Konflikte in Westafrika verantwortlich gemacht wird, oder ob der Name wegen seines Klanges, und um das Versmaß zu füllen, eingesetzt wurde, kann ich nicht mehr entscheiden“ (S. 86). Wir erinnern uns: die USA sind einerseits die stärkste imperialistische Macht, anderseits haben US-amerikanische Kampfflieger im April 1986 Libyen bombardiert. Darum, so dürfen wir unterstellen, die Erwähnung Amerikas!

Auch andere Text-Interpretationen erscheinen sehr gewagt und nicht nachvollziehbar. Klasse ist aber, dass Klute die Texte im Anhang in Tamaschek in wörtlicher und in sinngemäßer Übersetzung vorstellt, so dass sich die Leser_in selbst eine Meinung bilden kann.

Ein weiterer Kritikpunkt: „parasouveräne Herrschaft“ bildet sich nicht, wie Klute behauptet (S. 616), gegen den Staat, sondern konsolidiert staatliche Herrschaft, indem der Staat eine begrenzte Autonomie in einem Raum zugesteht, der anders nicht beherrschbar erscheint. Dabei sind die Eliten der Parasouveränität in die Herrschaftsapparate des Zentralstaates eingebunden – was Klute selbst ausführlich darstellt.

Trotz dieser Kritik: Klutes „Tuareg-Aufstand in der Wüste“ leistet einen ausgezeichneten „Beitrag zur geschichtlichen Aufarbeitung der Tuareg-Rebellionen“. In vielen mehrmonatigen Feldforschungen hat Klute zahlreiche Akteure_innen? kennengelernt, die an den Auseinandersetzungen beteiligt waren; einige von ihnen hatten wichtige politische oder militärische Funktionen inne. Viele kommen im Buch zu Wort.

Es ist einfach Klasse, wie Klute, der sich seit den 1970er Jahren mit der Situation der Tuareg in der Region auseinandersetzt, seine Connections, sein akkumuliertes Wissen und seine Tamaschek-Sprachkenntnisse einbringt, um den Leser_innen einen Einblick in soziale Prozesse der Tuareg-Gesellschaft zu erlauben. Dabei streut er immer wieder historische Hintergründe ein, die viel zum Verständnis der sozialen und historischen Zusammenhänge beitragen9.

Auch wenn die sozialen Widersprüche nur am Rande erwähnt werden, dass sie thematisiert werden, trägt erheblich zum Erkenntnisgewinn bei. Wer sich mit der Geschichte der Tuareg in Mali auseinandersetzen will, wird an diesen knapp 700 Seiten nicht vorbeikommen.

Bernhard Schmid: Die Mali-Intervention – Befreiungskrieg, Aufstandsbekämpfung oder neokolonialer Feldzug?

Wesentlich sparsamer (vom Umfang und vom Preis) ist Bernhard Schmids Buch über die Mali-Intervention der französischen Armee 2013.

Inhalt

Das Buch gliedert sich in fünf Teile:

  • Zur Struktur Malis und den Ursachen der Krise.
  • Die gewaltsame Krise von Januar 2012 bis zum Beginn der Intervention im Januar 2013.
  • Die Intervention.
  • Mali nach der Präsidentschaftswahl vom Sommer 2013.
  • Ein Vorläufiges Fazit.

Zu Anfang trägt Schmidt etwas ausführlicheres Schulbuchwissen über wirtschaftliche und geschichtliche Informationen zusammen. Die Geschichte der Aufstände von 1963, 1990ff., 2006/07 wird knapp dargestellt und ein von Korruption zerfressener Staat beschrieben.

Er beschreibt, wie aus dem Bündnis der rebellischen, zivilen MNA, die auch zu linken Bewegungen im Süden Malis Kontakt hatte, und dem eher ethnisch-elitär ausgerichteten MTNM die Nationale Bewegung für die Befreiung Azawads (MNLA) entstanden ist. Militärs, die Erfahrungen in der libyschen oder der malischen Armee hatten, schliessen sich der Rebellenbewegung an. Gemeinsam mit den Eliten gelingt es ihnen in kurzer Zeit, die Bewegung zu militarisieren und die rebellischen, sozialen und anti-ethnizistischen Strömungen innerhalb der Bewegung zu marginalisieren.

Schmid schildert, wie diese MNLA dann den bewaffneten Aufstand gegen Malis Armee begann, der für sie erfolgreich war, bis sie von jihadistischen Gruppen ausgebootet und an den Rand gedrängt wurde. Er schildert, wie das Massaker von Aguelhok an mehr als 80 Soldaten, dass er der MNLA in die Schuhe schieben will, zunächst zu Protesten von Soldatenfrauen und am 21. März 2012 zum Militärputsch führt.

Schmid, der offensichtlich mit den Putschisten sympathisiert, beklagt einerseits die Wirtschaftssanktionen gegen Mali in Folge des Putsches, die oft ganze Dörfer ins Elend gestürzt hätten, weil Überweisungen aus dem Ausland, von denen viele Familien abhängig sind, nicht mehr funktionierten. Anderseits beklagt er, dass die politische Macht wieder in die Hände von Zivilisten aus er alten politischen Klasse gelangt, nachdem die Putschisten (auf Druck von Außen) abtreten und dass das islamische Establishment der Hauptstadt erstmals in eine Regierungsbildung mit einbezogen wird.

Im Norden Malis sind unterdessen zwei dramatische Entwicklungen zu verzeichnen: Infolge des Putsches ruft die MNLA die Unabhängigkeit der Republik Azawad aus. Kurze Zeit später zerbricht das prekäre Bündnis zwischen MNLA und Jihadistischen Gruppen. Die MNLA wird an den Rand gedrängt, und die Jihadisten errichten in Nordmali ein Terrorregime

Einerseits kommt es immer wieder zu Protestaktionen gegen die Jihadisten im Norden. Andererseits gelingt es ihnen mit finanzkräftiger Unterstützung aus einigen Golfstaaten (v.a. Katar) eine soziale Basis zu schaffen. Im Süden dagegen ist die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit gegen die kämpfenden Gruppen im Norden. Viele sympathisieren mit der Idee einer französischen Intervention. Andere finden es allerdings besser, wenn malische oder afrikanische Armeen den Norden zurückerobern.

Nachdem sich also mit Unterstützung ihrer katarischen Freunde in Nordmali die Jihadisten durchsetzen können, ist es der französischen Regierung ein leichtes, in der UNO mit wenigen Debatten das Entsenden einer internationalen Truppe nach Mali zwecks Vertreibung der Jihadisten durchzusetzen.

Ab dem 11. Januar 2013 führt Frankreich im Rahmen der Operation Serval Luftangriffe gegen die Jihadisten im Mali durch10. Auslöser ist, dass wenige Tage vorher die Jihadisten die eher unbedeutende Kleinstadt Konna erobert haben. Daraus wird phantasiert, ein Marsch der Jihadisten nach Bamako, der von Konna rund ca. 500 km entfernten Hauptstadt, stehe unmittelbar bevor.

Angesichts der gewaltigen französischen Übermacht, ziehen sich die Jihadisten meist kampflos zurück. Nur an wenigen Orten kommt es zu Gefechten. Die MNLA bzw. das, was von ihr noch übrig geblieben ist, dient sich der französischen Armee als Hilfstruppe an und versucht so, ihren Platz in der Nachkriegsordnung zu sichern – was auch gelingt. Über die Art der Kriegsführung wird wenig bekannt, Presse wird im Kampfgebiet nicht zugelassen11.

Anfang Februar gehen die verbliebenen Jihadisten im Nordmali zum Guerillakrieg über und greifen französische und malische Ziele mit Sprengstoffanschlägen und Selbstmordattentaten an.

In Kidal kommt es zu einer gemeinsamen Kontrolle der Stadt durch die französische Armee und Teilen der MNLA. Auch Teile der malischen Jihadisten werden eingebunden. Wieder scheinen die Eliten des Nordens die Früchte der Rebellion zu ernten.

Wenn Frankreichs Fremdenlegionäre die Wüste erobern, kann die Bundeswehr Frankreich „nicht allein lassen“, wie Schmid Außeminister Steinmeier zitiert. Da das Vergießen von „Deutschem Blut“ in Afrika für die sowieso schon wacklige Akzeptanz der Bundeswehr im Heimatland nicht gerade förderlich ist, tut sie, was sie überall mit Vorliebe tut: Sie produziert soldatische Männer am Fließband. Denn was Afrika am dringendsten fehlt, sind Männer mit deutschen Sturmgewehren. Und da diese Männer alle Afrikaner sind, muss auch keine Deutsche Mama weinen, wenn da mal ein paar „fallen“.

Die imperialistischen Staaten setzen nach der Invasion eine schnelle Präsidentschaftswahl durch. Da so nur die bereits gut organisierten und reichen Parteien der malischen Oligarchie eine Chance hatten, wird den Imperialisten vorgeworfen, sie wollen nur die vor dem Putsch regierende Oligarchie wieder verankern.

Bei der Präsidentschaftswahl im Sommer 2013, die mit 49% eine fast doppelt so hohe Beteiligung aufzuweisen hat wie die letzte Wahl 2007, wird Ibrahim Boubacar Keita (kurz IBK) zum Präsidenten der Republik gewählt. Da eine deutliche Mehrheit der Menschen in Süd- und Zentralmali von einem Sonderstatus für den Norden nichts wissen will, erweckte IBK im Wahlkampf den Eindruck, unnachgiebig zu bleiben, was ihm einige Sympathien einträgt. Auf die Wähler im Norden braucht er kaum Rücksicht zu nehmen, weil dort sowieso nur wenige Menschen leben. Die Wahlbeteiligung im Norden liegt auch nur bei 11%.

Anfang September 2013 wird eine neue Regierung gebildet, die im wesentlichen ein Bündnis der Putschisten vom März 2012 mit der alten Oligarchie ist. „Aber der strukturelle Konflikt, der die Armee durchzieht und einen Teil der Militärs gegen Angehörige der alten Oligarchie aufbringt, wird dadurch nicht gelöst werden“, vermutet Schmid (S. 148).

Schmidts vorläufiges Fazit

Zum Abschluss stellt Schmid sich der Frage, ob es sich bei der imperialistischen Invasion um einen Befreiungskrieg, um Aufstandsbekämpfung oder um einen neokolonialen Feldzug handelt. Wirkt diese Fragestellung auf den ersten Blick völlig absurd, macht Schmid deutlich, dass diese Fragestellung sich für ihn durch die Auseinandersetzungen mit Exil-Malier_innen in Paris aufdrängt. Für einige von ihnen verbindet sich die französische Intervention tatsächlich mit einer „Befreiungsperspektive“.

Schmidt bestreitet allerdings, dass die Invasion ein „Befreiungskrieg“ sei. Ohne „ein Element der Emanzipation“ und ohne dass die Fragen von Armut und Verteilungsgerechtigkeit angesprochen werden, könne nicht von einem „Befreiungskrieg“ gesprochen werden. „Nichtsdestotrotz trifft es ebenfalls zu, dass auch aus der Sicht wohl einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung der Norden Malis vorläufig – und teilweise – von Kräften ‚befreit‘ wurde, die von vielen als Besatzer und Tyrannen erlebt wurden“ (S.155).

Dass jihadistische Tyrannei derart furchtbar ist, dass der Imperialismus dagegen als Menschenfreund rüberkommt und verlorene Legitimität wieder gutmachen kann, ist die erste Tragik des Geschehens.

Kritik

Schmid versucht die soziale Frage im Norden Malis unter unterschiedlichen Facetten zu betrachten (S. 20f.). Dabei unterscheidet er die Widersprüche zwischen aufstrebenden Eliten, die von „einer neuen, mit internationalen Mafiastrukturen verflochtenen Warlord-Ökonomie“ profitieren und anderen, die sich „in einem bodenlosen sozialen Abstieg“ befinden. Letztere nimmt er allerdings nur als Reservoir rekrutierungswilliger Kämpfer für die Eliten wahr. Und damit sind wir bei der größten Schwachstelle des Buches. Indem er die ganze Geschichte, von

  • erstens Kolonialismus und Imperialismus, Repression, Folter, Traumatisierungen, Vertreibungen, Ausbeutung usw.,
  • zweitens des jahrelangen Widerstandes dagegen und
  • drittens der mal ambivalenten mal eindeutig unterdrückerischen Funktion der einheimischen Eliten

einfach weg lässt, kann er dem sozialen Gehalt der Auseinandersetzungen nicht gerecht werden. Historisch gesehen ist die MNLA auch kein reines Elitenprojekt, sondern ein Klassen-übergreifendes (nach Selbstdarstellung auch Ethnien-übergreifendes) Bündnis, wie Schmid an andere Stelle auch anklingen lässt (S. 29ff.). Im und durch den Krieg scheinen sich die Interessen der Eliten, die sich schnell mit ihren alten Verbündeten aus Paris verständigen konnten, gegen den sozialen Gehalt der Revolte durchgesetzt zu haben. Das ist aus unserer Sicht die zweite Tragik des Geschehens.

Völlig weg lässt er, dass zwischen Teilen der Bevölkerung im Süden und den Nomaden des Nordens seit der Errichtung des Nationalstaates ein „quasi-kolonialistisches“ Verhältnis besteht, und die Tuareg im Mali ähnlich diskriminiert werden wie Roma in Europa. Schmid spricht lediglich ganz neutral von „ethnischen Rivalitäten“. Der Kampf gegen diesen Quasi-Kolonialismus ist sicherlich Kern aller nationalen Befreiungstendenzen im Norden und kann nicht mit der Erwähnung von umfassender Entwicklungshilfe für den Norden abgetan werden. Eben weil diese Entwicklungshilfe lediglich den lokalen Eliten und der Etablierung einer „parasouverän“ abgesicherten Ordnung zu gute kommt.

In diesem Sinne sind auch Äußerungen von Süd-Malier_innen über Tuareg, Mauren oder Nomaden immer auf ihren quasi-rassistischen Gehalt abzuklopfen.

Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der laizistischen MNLA und den jihadistischen Truppen werden nur sehr oberflächlich herausgearbeitet. Dass die MNLA erst die unabhängige Republik ausruft, dann aber keine Machtmittel besitzt, das auch durchzusetzen und so zu Steigbügelhalterin für die Tyrannei der Jihadisten wird, ist die dritte Tragik des Geschehens.

Ärgerlich ist auch, dass Schmid die Geschichte der „Air Cocaine“ unkritisch reproduziert (S. 25). 2009 wird in der malischen Wüste ein abgestürztes Flugzeug gefunden. Recherchen ergeben, dass das Flugzeug zuvor in Venezuela gestartet ist. Obwohl nie davon die Rede ist, dass auch nur ein Körnchen Kokain im oder in der Nähe des Flugzeugs gefunden wird, behauptet der amerikanische Drogengeheimdiens DEA sofort, dass mit der Maschine Kokain aus dem chavistischen Venezuela über Westafrika nach Europa geschmuggelt worden ist (ist alles schon weg, als das Wrack gefunden wird). Diese Geschichte gilt heute allgemein als „Beweis“ (und es ist der einzige) dafür, dass durch die Sahara im großen Stil Drogen geschmuggelt werden. Wir wissen nicht, ob und wieviel Kokain durch die Sahara geschmuggelt wird, wir wissen nur, dass der einzige bisher dafür präsentierte Beleg nichts belegt, außer dass die DEA eine schöne und wirksame Geschichte erzählt.

Völlig unpassend ist der von Schmid gezogene Vergleich des Putschistenführer Sanogo mit dem heute noch in ganz Afrika verehrten Revolutionsführer Thomas Sankara aus Burkina Faso. Während Sanogo einen klassischen Militärputsch durchführt und sich erst im Anschluss (auch linke) zivile Organisationen positiv auf ihn berufen, war der Putsch Sankaras 1983 das Ergebnis jahrelanger sozialer Mobilisierungen von Unten, denen die unteren Militärränge sich zugehörig fühlten, und denen sie zum politischen Durchbruch verhalfen – wenigstens bis zum von Frankreich initiierten Gegenputsch 1987, in dem Sankara ermordet wurde).

Wir stimmen Schmid darin zu, dass der Zugang zu Rohstoffquellen keine primäre Rolle bei der Entscheidung der französischen Regierung zur Intervention gespielt habe. Allerdings halten wir seine Erklärung, die Ausweitung der Jihadisten in Nordmali zu stoppen, für zu kurz gegriffen. Wir gehen vielmehr davon aus, dass es den französischen Imperialisten – wie der malischen Regierung, vor allem darauf ankommt, dieses rebellische Gebiet unter Kontrolle zu bekommen, die Nomaden sesshaft zu machen, sie als billige Arbeitskräfte zu mobilisieren und die legalen wie illegalen Transportwege für Flüchtlinge und Waren durch die Sahara zu beherrschen.

Schmid argumentiert, dass es keine geschlossenen Siedlungsgebiete der Tuareg gebe und rund 60% der Einwohner_innen der Nordprovinzen der Ethnie der Songhai anghörten. Beides ist nicht falsch. Wie Schmid aber damit argumentiert, verfälscht den Sachverhalt. Der Norden Malis besteht aus drei Regionen: Gao, Timbuktu und Kidal. Die Südgrenze der Region bildet das relativ dicht besiedelte Nigerbecken mit den beiden größten Städten, Gao und Timbuktu. Hier leben die meisten Songhai und hier ist der Staat mit repressiven wie sozialstaatlichen Einrichtungen präsent, wenn auch prekär.

Nördlich des Nigerbeckens beginnt faktisch besetztes Gebiet: hier ist malische Staat nur mit Soldaten, Polizisten, Steuereintreibern und Zöllnern präsent. Die Zivilverwaltung überlässt er weitgehend seinen korrupten einheimischen „parasouveränen“ Statthaltern. Die Hauptbeschäftigung all dieser Gangster ist die Korruption.

Hier leben vor allem Tuareg, Mauren, Araber, Peul (Fulbe) aber auch Songhai. Hier liegen die Orte des Völkermords aus den 1970er und 80er Jahren, während die Orte des Nigerbeckens so etwas wie Vorposten eines quasi-kolonialistischen Gewaltverhältnisses zwischen dem Zentralstaat und den Regionen im Norden bilden.

Fazit

Leider kann Schmid mit der sozialen Frage im Norden Malis wenig anfangen. Und seine „Tuaregfeindlichkeit“ ist ätzend. Vielleicht ist sie ein Ergebnis der unkritischen Auseinandersetzung mit „tuaregfeindlichen“ Menschen aus dem Mali.

Trotz aller Kritik bietet das Buch jedoch eine eine gute Einführung zu Ökonomie und Geschichte Malis. Es ist interessant für Leser_innen, die sich mit dem Aufstand 2012 und der Intervention 2013 beschäftigen wollen.


1 Adagh ist im wesentlichen die nördlichste Region des Mali, die Region Kidal mit ca 30.000 bis 50.000 Einwohner_innen.

2 Die beiden großen Dürren im Norden Malis waren Mitte der 70er und Mitte der 80er Jahre. Dabei war das Ausbleibendes Regens weniger entscheidend für den hohen Verlust an Vermögen, Vieh und Menschenleben bei den Tuareg, als das Unterbinden traditioneller Bewältigungsstrategien von Trockenperioden durch staatliche Gewalten.
Insgesamt kann der Umgang der malischen Regierung mit dem „Tuareg-Problem“ in dieser Zeit als Völkermord bezeichnet werden (vgl. auch S. 256).

3 „Eliten“ (wie meist auch „Arme“) gehört nicht zum Wortschatz von Klute. Er spricht lieber von „Häuptlingsgruppen“ und „Vassalen“. Da diese Begriffe die Modernität der Auseinandersetzungen verschleiern, werden sie in der folgenden Rezension weitgehend vermieden.
Der Begriff „Arme“ wird hier als politische, nicht als soziologische Kategorie verwendet. Arme im hier gebrauchten Sinne sind jene, die nichts zu verkaufen haben, als ihre (familiäre) Arbeitskraft oder deren Früchte.

4 Die Songhai sind eine schwarzafrikanische Ethnie, die heute laut Wikipedia etwa 750.000 Angehörige zählt. Sie leben als Bauern (gabibi), Fischer (sorko) und Händler. Wichtigste Städte im Siedlungsgebiet der Songhai, das sich entlang des Nigers von der nigrischen Grenze bis zur Seen-Region westlich von Timbuktu (Office de Niger) erstreckt, sind Gao, Timbuktu und Djenné.

5 Laut Klute sollen nur wenige Dutzend Tuareg den Weg nach Europa gefunden haben.

6 Fond International du Développement Agricole; Internationaler Fond für Landwirtschaftliche Entwicklung

7 Allerdings muss hier mitgedacht werden, dass die eigentlichen kriegerischen Auseinandersetzungen nur die Speerspitze des sozialen Krieges der malischen Armee gegen die Bevölkerungen im Norden sind.

8 Während die beberischen Nomaden in der Südsahara in der Regel den Tuareg zugerechnet werden, werden die arabischen Nomaden der Region als Mauren bezeichnet

9 Dabei ist schade, dass viele dieser äußerst aufschlussreichen Geschichten einfach in den fast 700 Seiten des Buches untergehen und im Rahmen dieser Rezension aus Platzmangel nicht wiedergegeben werden können

10 Kleine Anmerkung am Rande: Der Chef der Operation Serval, Brigadegeneral de Saint-Quentin, war als Militärberater 1994 an dem Völkermord in Ruanda beteiligt.

11 Nur vereinzelt werden deswegen Menschenrechtsverletzungen der französischen, tschadischen oder malischen Armee und der mit jenen verbündeten faschistischen Miliz Ganda Koy bekannt – diesen Aspekt lässt Schmid unerwähnt.

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