12. Juni 2014 · Kommentare deaktiviert für „Die Flüchtlinge kommen sowieso“ – Badische Zeitung · Kategorien: Italien, Libyen, Syrien · Tags: , , ,

BZ-INTERVIEW mit Christopher Hein, dem Chef einer italienischen Hilfsorganisation, über die Menschen, die nach Europa wollen

„Vor Italiens Küste rettet die Marine zur Zeit viele Flüchtlinge, die in Booten aus Afrika nach Europa übersetzen. Julius Müller-Meiningen sprach darüber mit Christopher Hein, der einer italienischen Hilfsorganisation vorsteht.

BZ: Herr Hein, es sollen mehrere Hunderttausend Menschen in Libyen auf die Überfahrt warten. Stimmt das?

Hein: Es war sogar von 600 000 Menschen die Rede, die kurz davor seien, nach Italien zu kommen. Das ist unnötiger Alarmismus. Wir schätzen, dass sich derzeit 130 000 Flüchtlinge aus Syrien in Libyen befinden. Insgesamt leben dort über eine Million Ausländer. Aber die arbeiten teilweise dort und haben sicher nicht alle vor, nach Europa zu kommen.

BZ: Nach einem Flüchtlingsunglück im Oktober mit über 360 Toten holt Italiens Marine die Flüchtlinge jetzt in der Nähe der libyschen Küste ab, um solche Unglücke zu vermeiden. Hat die Operation Mare Nostrum den Ansturm verstärkt?

Hein: Ich sehe zwei andere wesentliche Gründe dafür, dass immer mehr Flüchtlinge die Überfahrt wagen. Seit Juli 2013 kommen syrische Flüchtlinge in Massen, weil sie keine Chance mehr in ihrer Heimat haben. Das ist ein Exodus. Zweitens ist die Situation in Libyen immer chaotischer. Es gibt dort keine Kontrollen mehr. Das Land und die Küste werden seit dem Bürgerkrieg von Milizen beherrscht, die teilweise selbst als Schlepper arbeiten.

BZ: Die humanitäre Aktion der Italiener ist also nicht der Grund für den drastischen Anstieg der Überfahrten?
Hein: Es ist falsch zu sagen, Mare Nostrum sei die Ursache dafür, dass so viele Menschen kommen. Die Operation hat dazu geführt, dass die Schlepper mehr riskieren. Die Flüchtlinge werden in kleine Schlauchboote gesetzt oder in Kutter ohne Kiel, die nie den Weg alleine bis Lampedusa oder Malta schaffen würden.

BZ: Was passiert, sobald die Menschen an Land sind?

Hein: Sie haben zwei Optionen. Entweder sie bleiben in Italien oder sie ziehen weiter in den Norden. Wir haben Indizien dafür, dass etwa 40 Prozent der Bootsflüchtlinge keinen Asylantrag in Italien stellen. Sie wollen offenbar in anderen EU-Staaten Schutz suchen.

BZ: Die Dublin-Regelung sieht vor, dass ein Flüchtling nur in dem EU-Staat Asyl beantragen kann, in dem er erstmals das Gebiet der EU betreten hat. Bei den Bootsflüchtlingen ist das meist Italien. Was hat diese Regelung zur Folge?

Hein: Besonders Syrer und Eritreer, die fast alle nicht in Italien bleiben wollen, lassen sich hier nicht identifizieren, weil sie diese Regelung kennen. Etwa 30 000 Menschen dürften dieses Jahr weiter nach Norden, meist nach Deutschland oder Schweden, gereist sein. Die Dublin-Regel muss geändert werden, um Ordnung ins Chaos zu bringen. Denn legal oder nicht legal – wer weiter ziehen will, der tut das sowieso.

BZ: Müssten die Italiener derweil ihre Grenzen nicht besser bewachen?

Hein: Die Polizei kann die Feststellung der Personalien nur mit richterlichem Beschluss erwirken. Grenzkontrollen würden die Aufhebung des Schengener Abkommens und der Reisefreiheit innerhalb der EU bedeuten. Wollen wir wirklich wieder Grenzpolizei oder Soldaten an den Übergängen zu Österreich, der Schweiz oder Frankreich?

BZ: Wie muss die EU nun reagieren?

Hein: Klar ist folgendes: Je länger Krisen wie die in Syrien andauern, desto mehr Menschen werden kommen. Man sollte darüber nachdenken, größere humanitäre Aufnahmeprogramme zu starten. Bei 28 EU-Mitgliedsstaaten sollte es da Kapazitäten geben. Tschechien oder Polen beteiligen sich bislang gar nicht.

BZ: Gibt es noch andere Ideen?

Hein: Denkbar ist auch, eine Luftbrücke aus Amman in Jordanien einzurichten. Denn die Menschen kommen sowieso. Übers Meer, über Land, mit Hilfe von Schleppern, illegal. Jordanien hat fünf Millionen Einwohner, derzeit befinden sich dort eine Million geflohene Syrer. Das geht nicht lange gut. Wir befürworten auch geschützte Einreiseverfahren. Warum sollen Flüchtlinge nicht schon in Tripolis oder Kairo an den Botschaften der EU-Länder einen Asylantrag stellen können, anstatt wie bisher ihr Leben zu riskieren?

Christopher Hein (66) ist seit 1990 Direktor des italienischen Flüchtlingsrates CIR, einer Hilfsorganisation mit Sitz in Rom. Er ist Deutscher.“

via Badische Zeitung

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