11. März 2013 · Kommentare deaktiviert für EU Roma – „Das Ende der Freizügigkeit“ · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags: ,

Das Ende der Freizügigkeit
11.03.2013

>BERLIN
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58558
(Eigener Bericht) – Schwere Vorwürfe gegen Politik und Medien in der Bundesrepublik erhebt der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Wie Romani Rose erklärt, werde der aktuelle „Streit um die Freizügigkeit innerhalb der EU“ in Deutschland „auf dem Rücken einer Minderheit geführt“: „Armutsmigranten“ würden pauschal als Roma identifiziert und „pauschal kriminalisiert“.
Die gegenwärtige Kampagne gegen „Zuwanderer aus Osteuropa“ dürfe man „nicht unbefangen hinnehmen“. In der Tat fördert die Kampagne, die von den Unionsparteien ebenso wie aus der SPD bedient wird, bereits in starkem Umfang bestehende rassistische Ressentiments gegen Roma. Gleichzeitig setzt sie die Berliner Abschiebe- und Abschottungspolitik gegenüber Roma aus den Staaten Südosteuropas fort, die mit rechtlich zumindest fragwürdigen Mitteln arbeitet und von Menschenrechtsorganisationen seit Jahren scharf kritisiert wird. Auf Widerstand stößt die deutsche Kampagne auch in der EU. Bei der Freizügigkeit handle es sich um einen Grundwert der EU, heißt es in der EU-Kommission mit Blick auf die Forderung Berlins, gegen angebliche „Sozialbetrüger“ eine „Wiedereinreisesperre“ verhängen zu dürfen. Diese richtet sich auch gegen Armutsflüchtlinge aus Krisenstaaten wie Griechenland, Portugal oder Spanien.

Pauschal kriminalisiert
Schwere Vorwürfe gegen Politik und Medien in der Bundesrepublik erhebt der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Der aktuelle „Streit um die Freizügigkeit innerhalb der EU“ werde „in Deutschland auf dem Rücken einer Minderheit geführt“, äußert Romani Rose: Man rede von „Armutsmigranten“, die „ausschließlich als Roma“ identifiziert und „pauschal kriminalisiert“ würden – „dass sie Sozialsysteme ausnutzen, dass sie Schmutz und Dreck vor die Haustür werfen und so weiter und so fort“. Tatsächlich lebten Sinti und Roma „seit Jahrhunderten“ in Deutschland und seien heute weitgehend „unauffällig und völlig integriert“. Dass Roma jetzt – als „Zuwanderer aus Osteuropa“ – ganz allgemein zur finanziellen Belastung erklärt würden, sei gefährlich.[1] Rose bekräftigt: „Im Rückblick auf die vergangenen Jahre – es gab die NSU-Mordserie, es gab mehr als 100 Morde mit rechtsextremem Hintergrund – kann ich das nicht unbefangen hinnehmen.“ Bereits vor 20 Jahren führte eine Politik- und Medienkampagne gegen „Armutsmigranten“ (damals waren es Asylbewerber) in der Tat dazu, dass Neonazis vor dem Hintergrund der aufgeheizten Stimmung zu tödlicher Gewalt griffen; das Pogrom von Rostock (1992) und der Brandanschlag von Solingen (1993) waren einige der Resultate.

„Endlich gegensteuern!“
Ungeachtet aller Warnungen spitzt die Bundesregierung die Kampagne weiter zu. Schlagzeilen gemacht hatte unlängst der Deutsche Städtetag, der die Behauptung aufgestellt hatte, 2011 seien 147.000 „Armutseinwanderer“ aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland gekommen. Zwar war schon die Statistik falsch – drei Fünftel der „Armutseinwanderer“ waren nur für kurze Zeit in die Bundesrepublik gekommen, etwa um hier zu Niedrigstlöhnen sogenannte Saisonarbeiten zu verrichten -, doch bekräftigten Politiker umgehend, es müsse „gehandelt“ werden: „Wenn nicht endlich gegengesteuert wird, spitzt sich die Situation nach dem 1. Januar 2014 zu“, ließ sich der nordrhein-westfälische Sozialminister Guntram Schneider (SPD) zitieren.[2] Letzte Woche legte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einem Presseinterview nach: „Wer (…) nur kommt, um Sozialleistungen zu kassieren (…), der muss wirksam davon abgehalten werden“.[3] Am Donnerstag spitzte Friedrich die Debatte weiter zu und erklärte, es drohten ein „Flächenbrand und ein Sprengsatz für die europäische Solidarität“.[4] In den Medien wird die Kampagne weitgehend auf Roma fokussiert; so heißt es immer wieder, „Roma aus Bulgarien und Rumänien“ trieben „die Sozialausgaben der Kommunen in die Höhe“.[5]

„Aus den Innenstädten verbannen“
Die Kampagne kann einerseits an bestehende rassistische Ressentiments gegen Roma anknüpfen – und fördert sie weiter. So zeigt eine Studie aus dem Jahr 2011, dass 27,7 Prozent der Deutschen der Aussage zustimmen: „Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden“. 40,1 Prozent bejahten den Satz: „Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten“. „Bereits Kinder werden [in Deutschland, Anm. d. Red.] früh mit stereotypen ‚Zigeuner‘-Darstellungen vertraut gemacht“, heißt es in einem aktuellen Gutachten über Ressentiments gegen Roma mit Blick auf beliebte Comics, Zeichentrickfilme und Kinderbuchserien.[6] Roma sind auch brutaler Gewalt ausgesetzt. In einer Umfrage von 2006 unter deutschen Roma hieß es in gut einem Zehntel der Antworten, die befragte Person habe schon „Bedrohungen und Beleidigungen“ erlebt; die Mehrzahl von ihnen gab an, sogar von Neonazis attackiert worden zu sein. Am 26. Dezember 2009 brannte in Klingenhain (Sachsen) ein von Roma bewohntes Haus nach einem Brandanschlag vollständig aus. Das zitierte Gutachten nennt zahlreiche weitere Belege für brutale Aggression und pauschale Kriminalisierung von Roma in der Bundesrepublik.[7]

Pässe entzogen
Zugleich setzt die aktuelle Kampagne die Berliner Abschiebe- und Abschottungspolitik gegenüber den Roma aus Südosteuropa fort. Schon seit Jahren üben Menschenrechtsorganisationen scharfe Kritik an der Abschiebung von Roma in das Kosovo, wo ihnen massive Verelendung und schwere Diskriminierung droht; diverse deutsche Bundesländer haben die Abschiebungen selbst im Winter nicht ausgesetzt.[8] Wie der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, unlängst bemängelte, übt Brüssel inzwischen auch Druck auf EU-Beitrittskandidaten wie etwa Mazedonien aus, Roma überhaupt nicht erst in Richtung EU ausreisen zu lassen. Ihm zufolge entziehen die Behörden Mazedoniens zahlreichen Roma die Pässe, um sie am Verlassen des Landes zu hindern; seit die Bürger des Landes kein Visum mehr benötigen, um die Schengen-Zone zu betreten, hätten auch mazedonische Roma selbstverständlich das Recht dazu. Gleichzeitig weist zum Beispiel die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl darauf hin, dass Mazedonien, um die wichtige Visafreiheit nicht zu verlieren, deutsch-europäischem Druck gegenüber recht empfänglich geworden ist. Laut dem Menschenrechtskommissar des Europarates ist das offenbar erzwungene Vorgehen Mazedoniens eine ernstzunehmende Menschenrechtsverletzung.[9]

Ziel: Wiedereinreisesperre
Die aktuelle Kampagne zielt laut Bundesinnenminister Friedrich darauf ab, die Einführung einer sogenannten Wiedereinreisesperre für angebliche Sozialbetrüger durchzusetzen. Eine solche Sperre müsse ermöglicht werden, bekräftigte Friedrich beim Treffen der Innen- und Justizminister der EU-Staaten Ende letzter Woche. Damit stößt er bislang noch auf den Widerstand der EU-Kommission. Die deutsche Kampagne übertreibe maßlos, äußerte ein Sprecher von EU-Sozialkommissar László Andor: „Im Augenblick“ handle es sich bei der angeblichen Welle sogenannter Armutsflüchtlinge nur um „eine Wahrnehmung in den Mitgliedstaaten, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat“.[10] Der Sprecher wies darauf hin, dass es sich bei der Freizügigkeit innerhalb der EU, die Deutschland nun einschränken wolle, immerhin um „einen der Grundwerte“ Europas handele. Dementsprechend schwer wiege der verlangte Eingriff in die Freizügigkeit.

Der Preis des Spardiktats
Dabei geht es offenkundig nicht nur um Beschränkungen der Freizügigkeit für Bürger Bulgariens und Rumäniens. Spreche es sich „in Europa“ insgesamt herum, welche Sozialleistungen „eine vier- bis fünfköpfige Familie“ in Deutschland bekommen könne, dann würden möglicherweise weitaus mehr Menschen die Reise in die Bundesrepublik antreten als heute, ließ sich der Innenminister vor wenigen Tagen zitieren.[11] Die Presse druckt unterdessen neue Statistiken über die Einwanderung in die Bundesrepublik ab. Demnach nimmt vor allem die Einwanderung aus den südeuropäischen Krisenstaaten zu, wenngleich sie sich derzeit noch weithin auf Arbeitsmigration beschränkt. So ist etwa die Zuwanderung aus Italien von 2011 bis 2012 um 35,5 Prozent gestiegen, die Zuwanderung aus Portugal um 53,1 Prozent, die Immigration aus Spanien um 53,6 Prozent und diejenige aus Griechenland sogar um 78,2 Prozent. Die schnell zunehmende Verelendung in der Peripherie nicht „Europas“, sondern der Eurozone, die unter dem deutschen Spardiktat ausblutet, treibt immer mehr Menschen aus dem Land. Zehntausende Portugiesen etwa suchen mittlerweile in den ehemaligen portugiesischen Kolonien Afrikas nach Arbeit; einige treibt es auch in die Bundesrepublik. Um die Kosten für den deutschen Staatshaushalt auch bei weiterer Verelendung in der südlichen Peripherie möglichst gering zu halten und unerwünschte Armutsflüchtlinge jederzeit fernhalten zu können, zielt Berlin nun auf die Abschaffung der Freizügigkeit in der EU – auf Kosten der Menschen in der Peripherie und mit einer Kampagne gegen Roma.

Bitte lesen Sie zur Thematik auch Niedrige Löhne, bittere Armut und Aus Deutschland vertrieben.

[1] Romani Rose: „Die Roma werden zum Sündenbock gemacht“; www.schwaebische.de 08.03.2013
[2] Minister schlägt Alarm vor Armutswanderung; www.guntram-schneider.de 18.02.2013
[3] Innenminister Friedrich will mit einem Veto in Brüssel die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in den Schengen-Raum verhindern; www.spiegel.de 03.03.2013
[4] EU-Kommission bezweifelt Armutseinwanderung; Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.03.2013
[5] Elend als Geschäftsmodell; www.faz.net 24.02.2013
[6], [7] Markus End: Gutachten Antiziganismus. Zum Stand der Forschung und der Gegenstrategien, Dezember 2012
[8] s. dazu Unglaubwürdig und Am Rande der Müllkippe
[9] Balkanstaaten erledigen für Brüssel die „Drecksarbeit“; www.proasyl.de 05.03.2013
[10], [11] EU-Kommission bezweifelt Armutseinwanderung; Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.03.2013

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