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taz 25.01.2013
Tunesien nach der Rebellion
Das Café der verletzten Würde
Im Café von Tarek Zakraoui versammeln sich jeden Abend Tunesier und sprechen über die Rebellion. Geändert hat sich nicht viel, sagen sie. von Reiner Wandler
SILIANA taz | „Willkommen im Café der Revolution“, grüßt Tarek Zakraoui. Wenn der 41-jährige Inhaber der Cafeteria Hollywood von Revolution spricht, meint er nicht den 14. Januar 2011, als die Tunesier Präsident Zine el-Abidini Ben Ali verjagten.
Er redet von den Tagen Ende November, Anfang Dezember 2012. „Wir haben den Gouverneur zum Rücktritt gezwungen“, berichtet er und blickt entschlossen hinüber auf die andere Seite des Platzes. Dort liegt hinter Stacheldrahtrollen der Palast des Vertreters der Zentralregierung in der Kleinstadt Siliana im Landesinneren von Tunesien. Tagelang demonstrierten die Menschen – mobilisiert von der Gewerkschaft UGTT – auf der Kreuzung vor dem Hollywood gegen die Untätigkeit der Verwaltung, „gegen Armut, Arbeitslosigkeit und für Würde“.
„Es hat sich seit 2011 nichts geändert. Wir können jetzt frei reden, das ist aber auch schon alles“, klagt Zakraoui. „Die soziale Situation hat sich verschlechtert, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, alles wird immer teurer, und wenn wir uns beschweren, behandeln sie uns wie Tiere.“ Sie, das ist die Polizei. Am 28. November stürmte eine aus der Hauptstadt Tunis angereiste Sondereinheit den Platz und drang in das Café ein, schlug auf alles, was sich bewegte, ein, verschoss Gasgranaten und Schrotmunition. „Meine Frau Hadia war so geschockt, dass sie zusammenbrach“, sagt Zakraoui. Sie war im vierten Monat schwanger, die Wehen setzten ein. „Wenige Stunden später verlor sie unser Kind“, erzählt er mit gedrückter Stimme.
Das Hollywood – oder Holjudd, wie sie es hier aussprechen – ist wie jeden Abend gut besucht. Überall an den Tischen diskutieren junge Männer bei einem Glas Tee. Die Blicke schweifen zum Großbildschirm an der Wand. Dort laufen internationale Musikvideos, in denen Frauen zu HipHop-Rhythmen sinnlich tanzen. Die Gespräche drehen sich immer wieder um die Verletzungen, die sie am Tag des Polizeieinsatzes erlitten haben. Viele zeigen kleine, kaum wahrnehmbare Punkte in der Haut. Darunter ist eine harte Stelle zu spüren. „Schrotkugeln“, erklären sie.
„Schrotkartuschen gegen Demonstranten einzusetzen ist völlig illegal“, schimpft der 23-jährige Saifdine Hassni. Ihn erwischten zwei Kügelchen im rechten Auge. Die Ärzte im Krankenhaus in der Hauptstadt Tunis versuchten alles, doch sie konnten die Bleiteilchen nicht entfernen. „30 Prozent Sehkraft habe ich noch“, sagt er. Der schwarz gekleidete Jugendliche schaut ernst unter einer Mütze eines US-amerikanischen Baseballteams hervor und zeigt ein Attest.
Drei Generationen Protest
„So ist Tunesien. Nichts hat sich geändert“, schimpft auch Hassni. In seiner Familie hat die Rebellion Tradition. Sein Vater Hassan saß wegen Protesten gegen Ben Ali in den neunziger Jahren für sechs Jahre im Gefängnis. Und der Großvater war zuerst gegen die französische Kolonialmacht und dann gegen den ersten Präsidenten des freien Tunesien, Habib Bourguiba, aufseiten derer aktiv, die dem arabischen Nationalismus anhingen, der noch heute in Siliana verbreitet ist.
Saifdine Hassni war selbstverständlich dabei, als Ende Dezember 2010 die Demonstrationen gegen Ben Ali auch auf Siliana übergriffen. Nach dem Sturz des Diktators beteiligte er sich an der Besetzung des Platzes vor dem Regierungspalast in Tunis, der Kasbah. Tausende Jugendliche, die aus dem Landesinneren angereist waren, erzwangen im Frühjahr 2011 den Rücktritt der alten Garde aus der Übergangsregierung und die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung.
Jetzt, wo das Übergangsparlament im Amt ist und die islamistische Ennahda zusammen mit zwei kleineren säkularen Parteien die Geschicke des Landes lenkt, fühlen sich die Menschen hier in Siliana erneut um ihre Revolution betrogen und in ihrem Stolz verletzt. „Für die Jugend wird nichts getan. Es gibt keine kulturellen Veranstaltungen, kein Geld für das Jugendhaus, keine Arbeit“, beschwert sich Hassni. Er ist seit dem Ende der Schulausbildung ohne Job. Bei über 25 Prozent liegt die Arbeitslosenquote offiziell in der Region rund um Siliana mit ihren 230.000 Einwohnern inzwischen. 4.000 junge Akademiker sind arbeitslos.
Die einzige Möglichkeit in dem von der Landwirtschaft geprägten 30.000-Einwohner-Städtchen, die Zeit totzuschlagen, ist das Café Hollywood. Oder man trifft sich irgendwo versteckt mit Freunden, um auf dem Schwarzmarkt gekauftes Bier oder „Shit“, stark gestrecktes Haschisch, das über Algerien aus Marokko kommt, zu konsumieren.
„Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass unter Ben Ali eigentlich alles viel besser war“, sagt Amal Ayari nachdenklich. Die 26-jährige, modern gekleidete Frau trägt ihr langes, dunkles Haar offen. Sie gehört dem örtlichen Komitee der Opfer der Repression an. Der Grund: Ihr jüngerer Bruder Marwen, der neben ihr sitzt, wurde in beiden Augen von Schrotkugeln getroffen und droht vollständig zu erblinden. Mit drei weiteren Verletzten wurde er nach Frankreich ausgeflogen. „Acht Tage war ich dort in Behandlung, dann wurde ich von einem Arzt der tunesischen Krankenkasse gezwungen, zurückzukommen“, berichtet Marwen. Sein ganzer Körper sei voller Blei. „Am Flughafen spielte der Scanner verrückt“, erzählt der Mathematikstudent, der wegen seiner Verletzungen die Abschlussprüfung verpassen wird.
Amal Ayari arbeitet in der Hauptstadt Tunis in der Verwaltung eines Krankenhauses. Der Job ist Teil eines Arbeitsbeschaffungsprogramms. Sie erhält umgerechnet 60 Euro pro Monat. Und das, obwohl der tunesische Mindestlohn umgerechnet 140 Euro beträgt, schimpft sie. Die richtigen Stellen gingen – sofern sie ausgeschrieben werden – an Anhänger der islamistischen Ennahda. „Es ist wie einst unter Ben Ali, sie infiltrieren die gesamte Verwaltung“, beschwert sich Ayari. „Zum Glück habe ich sie nicht gewählt“, sagt sie dann noch.
Mit dem Komitee der Opfer der Repression will Ayari zumindest eine Entschädigung für die über 300 Personen, die bei dem Polizeieinsatz verletzt wurden, erreichen. Der neue Gouverneur, ein Technokrat aus Tunis, der zum Jahresbeginn eingesetzt wurde, hat die Gruppe sowie Vertreter der Gewerkschaft UGTT empfangen. Konkrete Zusagen macht er keine.
Der Gouverneur hat Angst
Die Verwaltungsbüros im Gouverneurssitz sind mittlerweile wieder geöffnet. Der Trakt mit dem Büro des Amtsinhabers allerdings liegt hinter einer verschlossenen Tür. Selbst engsten Mitarbeitern wird nur nach ausdauerndem Klopfen von einem Polizeioffizier von innen geöffnet. In den Ort traut sich der Gouverneur nicht. Gesprühte Parolen wie „Fuck Ennahda“ – der Partei gehört auch er an – oder „Dégage!“ – „Verdufte!“ –, wie sie einst auch Ben Ali zuriefen, zeigen, das er und seine Partei hier nicht willkommen sind.
„Wer eine Nacht länger geschlafen hat, hat einen Betrug mehr hinter sich“, zitiert Hamed Gantassi ein altes Sprichwort und schimpft auf die Eliten, die den Übergangsprozess zum neuen Tunesien unter sich bestimmen und die Jugend, die Ben Ali aus dem Land gejagt hat, einfach übergehen.
Der 25-jährige bärtige, korpulente Hamed ist vieles: Kleinunternehmer, Musiker, Manager einer Rap-Band, doch vor allem ist er eines: Romantiker. Bald nach der Revolution 2011 kam er aus Paris nach Siliana. Gantassi ist hier geboren, kam aber als Dreijähriger mit seinen Eltern nach Frankreich. „Mein Vater, mit dem ich nur bedingt ideologisch konform gehe, ist ein führendes Ennahda-Mitglied und floh vor der politischen Verfolgung unter Ben Ali“, sagt er und erzählt, wie es die Familie in den Pariser Stadtteil Barbés verschlug.
Jetzt will Gantassi „etwas für die Heimat tun“. „Hier im Landesinneren gibt es gut ausgebildete, junge Menschen, doch es fehlt an Infrastruktur, um Investitionen anzuziehen und so Arbeitsplätze zu schaffen.“ Er beschwert sich, dass alle Landwirtschaftsprodukte in Fabriken an der Küste verarbeitet werden statt vor Ort. Siliana ist kein Einzelfall. 15 Regionen im Landesinnern haben die gleichen Probleme. Die Straßen sind schlecht. Ausbaupläne gibt es seit Langem, doch weder Ben Ali noch die neue Regierung setzt sie um. Die Investoren bleiben deshalb aus.
Gantassi hat es dennoch gewagt und ein Callcenter aufgebaut, in dem 20 junge Leute arbeiten. Kunde ist ein französisches Unternehmen, das französische Hausbesitzer per Telefon für Solardächer gewinnen will.
Ein Idol wie aus der Bronx
Natürlich war auch Gantassi auf den Demonstrationen, die Papas Parteifreund aus Siliana jagten. Für eine kleine Gruppe von Rappern – die African Warriors – ist der junge Mann, der sich kleidet, als käme er aus der Bronx, ein Idol. Sie hören ihm zu, wenn er von Barbés erzählt, von seiner problematischen Jugend in Paris, seinen Problemen mit der französischen Polizei und seinen insgesamt zweieinhalb Jahre Haft in Frankreich. „Als ich nach Tunesien einreiste, zerriss ich meinen französischen Ausweis“, sagt er zufrieden. Dort hätten sie ihn ja eh nie akzeptiert.
Mit den African Warriors hat Rap-Manager Gantassi den Traum, einmal ganz groß herauszukommen. Einen bescheidenen Erfolg hat die Combo bereits gelandet. Der am PC unter der Marke „Hollywood Studio“ aufgezeichnete und geschnittene Song „Siliana City“, ist so etwas wie die heimliche Hymne der Kleinstadt. Der Videoclip zeigt Bilder von den Demonstrationen, den Polizeiübergriffen und den Verletzten. „Wir gehen nicht zurück, diese Zeiten sind vorbei, wir bewegen uns, wir gehen weiter, auch wenn uns der Wind entgegenschlägt, ich bin nicht gebrochen …“, rappen sie sich auf Englisch und Arabisch Mut zu.