07. Dezember 2012 · Kommentare deaktiviert für ak: Zur Karte des Widerstandes gegen das EU-Grenzregime · Kategorien: Europa, Nicht zugeordnet · Tags:

Transborder Map

Zur Karte des Widerstandes gegen das EU-Grenzregime

Dieser Ausgabe des ak liegt ein englisch-französisch-sprachiges Plakat bei, das mit „Transborder-Map“ betitelt ist. Auf dem Hintergrund der geographischen Karte Europas sind Initiativen und Projekte eingezeichnet (sowie auf der Rückseite in kurzen Sätzen vorgestellt), die sich im März 2012 auf einer Konferenz in Istanbul getroffen haben und die dem Migrationsregime diesseits und jenseits der EU-Außengrenzen die Stirn bieten. 60 AktivistInnen aus 14 Ländern hatten sich an dem Austauschtreffen beteiligt, die Karte ist ein Produkt dieser transnationalen Vernetzung.
siehe Karte: https://archiv.ffm-online.org/2012/11/19/transborder-map/

Ob an der griechisch-türkischen Grenze und in der Ägäis, in den Meerengen von Sizilien oder Gibraltar, rund um die Insel Lampedusa oder um die Enklaven Ceuta und Melilla: die Bilder an den verschiedenen Hotspots, den sogenannten Brennpunkten der Außengrenzen, gleichen sich. Monströse Zaunanlagen und High-Tech-Überwachung, EU-finanzierte Abschiebeknäste und Dauereinsätze der Grenzschutzagentur Frontex prägen die Situation entlang der wichtigsten Nachbarstaaten. Die Ukraine, Türkei, Libyen, Tunesien, Marokko und sogar westafrikanische Länder sind aus der Perspektive der EU wesentliche Stationen der Transitmigration und sollen – mittels ökonomischem Druck und finanziellen Anreizen – so weit als möglich in die Migrationskontrolle eingebunden werden. Diese Externalisierungsstrategie, die Vorverlagerung des Grenzregimes Richtung Süden und Osten, hat tausendfachen Tod und Leid zur Folge, einkalkuliert im Sinne einer EU-Abschreckungsstrategie gegen die „illegale Migration“.

Transnationale Kampagnen und Strukturen

Umso bedeutender erscheint, was sich in den letzten Jahren an transnationalem Widerstand entwickelt hat. Drei Beispiele: Mit dem Nobordercamp auf Lesbos 2009 entstanden nicht nur vielfältige Kontakte vor allem in die afghanische und ostafrikanische Migrationscommunity, die sich über die Konfrontation mit Dublin II (1) in weitere gemeinsame Kämpfe verlängert hat. Es gab auch einen Schub für Monitoring- und Unterstützungsprojekte entlang dieser – statistisch gesehen(2) – wichtigsten Migrationsroute von der Türkei über Griechenland Richtung Nordwesteuropa.

Mit der Buskarawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung von Bamako nach Dakar Anfang 2011 (3) gelang ein neuer Schritt in der euro-afrikanischen Zusammenarbeit. Insbesondere mit Gruppen in Mali hat sich ein kontinuierlicher Austausch stabilisiert.

Und mit dem arabischen Frühling ergaben sich neue Möglich- und Notwendigkeiten in der Kooperation mit Organisationen in Nordafrika. Mit dem Fall der Wachhundregimes in Tunesien und Libyen und angesichts der rigiden EU-Visumspolitik stiegen wieder vermehrt MigrantInnen in Boote, um via Lampedusa und Sizilien nach Europa zu gelangen. Viele kamen und kommen dabei ums Leben, immer wieder auch deswegen, weil die Grenzschützer die Rettung verweigern. Vor diesem Hintergrund startete im Juli 2012 mit Boats4People ein neues Projekt euro-afrikanischer Solidarität gegen das tödliche Grenzregime auf See mit einem Schwerpunkt in Tunesien.

Stehen die Nobordercamps, Karawanen und Solidaritätsboote in den umkämpften Grenzräumen für öffentlichkeitswirksame Aktionen und eher symbolische Interventionen, so haben sich aus den Kontakten und Kooperationen längerfristige Strukturen entwickelt, die sich zunehmend besser vernetzen. Das so gewonnene Wissen findet vielfache Umsetzungen, so z.B. in dem virtuellen Fluchthilfe-Leitfaden von Welcome to Europe, der zur konkreten Unterstützung von Flüchtlingen und MigrantInnen „on the move“ nützliche Adressen und praktische Informationen aus allen wichtigen Transit- und Zielländern in 4 Sprachen anbietet.

 Hartnäckige Bewegungen der Migration an allen Außengrenzen …

Die tödlichen Ereignisse im Oktober 2005 in Ceuta und Melilla, den spanischen Enklaven in Marokko, gelten gemeinhin als Zäsur: auf den kollektiven Sturm von MigrantInnen zur Überwindung der Zäune reagierten spanische und marokkanische Grenzpolizei mit Plastikgeschossen und sogar scharfer Munition. Mindestens 14 Menschen starben, hunderte wurden mit Bussen Richtung algerischer Grenze gebracht und dort in der Wüste ausgesetzt. Trotz massiv verschärften Kontrollen und Repressionen gegenüber TransitmigrantInnen in Marokko und trotz einer wahnwitzigen Aufrüstung der Zaunanlagen in Ceuta und Melilla bleibt diese Grenze bis heute hart umkämpft. Immer wieder schaffen es Einzelne mit Überklettern oder Umschwimmen, und im August 2012 waren es wieder mehrere Hundert, die kollektiv die Überwindung versuchten (4).

Nachdem 2008 und 2009 die ägäischen Inseln ein Hauptziel der MigrantInnen waren, änderte sich die Route 2010 schlagartig. Nun wurde die griechisch-türkische Landgrenze entlang des Evros-Flusses zum zentralen Ort des Transits. Auch Frontex-Einsatz und Abschreckungsinhaftierungen konnten die selbstbestimmten Einreisen zunächst nicht stoppen. Die Krise und die geringeren Überlebensmöglichkeiten, systematische Razzien der Polizei und rassistische Pogrome sowie schließlich die Mobilisierung tausender Grenzpolizisten an die Landgrenze haben das Bild im Sommer 2012 erneut verschoben. Es kommen weniger, aber nun erneut über See und auf die Inseln, auch wieder nach Lesbos. Dort ist es Solidaritätsgruppen Ende November gelungen, ein offenes Aufnahmezentrum für die Ankommenden durchzusetzen (5). Denn geschlossene Lager und Knäste sind üblicherweise die Realität in Griechenland, regelmäßig kommt es dort zu Knastrevolten der internierten Flüchtlinge und MigrantInnen.

Mit dem Sturz des Diktators Ben Ali haben sich in Tunesien zahlreiche neue zivilgesellschaftliche Akteure entwickelt. Für die transnationale Vernetzung gegen das Migrationsregime sind die Angehörigen der vermissten und ertrunkenen Harragas (6) von Bedeutung, die mit ihren Protesten nicht nur Aufklärung über das Schicksal ihrer Verwandten und FreundInnen verlangen. Sie fordern gleichzeitig die Abschaffung des EU-Visumsregimes und kritisieren die eigene Regierung für deren Kollaboration mit der EU. „Wir haben die Revolution für Würde und Demokratie gemacht,“ formulierte die Sprecherin einer Gruppe tunesischer Mütter von Verschwundenen im Juli 2012 auf einer internationalen Versammlung. Und weiter: „Die Regierung ist tatenlos, unsere Söhne haben die Revolution gemacht, aber wir haben immer noch keine Ergebnisse über ihren Verbleib. Es wird eine zweite Revolution geben, wenn sich die Situation nicht ändert.“ Als im September 2012 erneut ein Boot kurz vor Lampedusa kentert und 79 tunesische MigrantInnen – darunter auch Kinder – sterben, kommt es kurz darauf in El Fahs, einem der Herkunftsorte der Opfer, zu einem lokalen Aufstand. Es finden Streiks statt und mehrere Polizeistationen sowie das Büro der regierenden Partei werden in Brand gesetzt.

 … Refugee-Streiks und Proteste im Innern der EU

Die andauernden und hartnäckigen Kämpfe um Bewegungsfreiheit an den Außengrenzen korrespondieren aktuell mit einer Welle von Streiks, Protestcamps und Demonstrationen selbstorganisierter Flüchtlinge im Innern der EU, u.a. in Deutschland, Niederlande, Österreich, Polen und Ungarn (7). Die jeweiligen Ausgangsbedingungen sind so unterschiedlich wie die Zusammensetzung und Forderungen der Akteure. Direkte Verbindungen sind bislang begrenzt, doch die gegenseitige Inspiration ist offensichtlich, auch fließen nicht selten die Kampferfahrungen aus dem Transit ein.

In der – noch statischen Version der – Transborder-Map finden sich nur einige wenige Symbole für migrantische Kämpfe im Innern der EU. Und sie erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Die Karte bietet aber einen ersten Überblick über eine wachsende Anzahl sich vernetzender Initiativen in ganz Europa und darüber hinaus. Und mit diesem Ansatz ist der Vorschlag zum Aufbau einer interaktiven Plattform verbunden. Also einer Karte, die es zu ergänzen und zu aktualisieren gilt, die am Puls der Bewegungen der Migration die Widerständigkeiten in ihrer Vielfalt sichtbar macht und damit die Kämpfe für globale Bewegungsfreiheit als transnationalen Prozess verstärkt.

Das Mapping Team aus Hamburg und Hanau

 

Anmerkungen

(1) EU-Asylverordnung, die Flüchtlinge im EU-Land der ersten Registrierung festhalten soll;

(2) Zeitweise mehrere hundert Menschen pro Nacht, 2010 insgesamt 47.000 und 2011 sogar 55.000 registrierte „illegale“ Grenzübertritte;

(3)siehe http://afrique-europe-interact.net

(4) siehe https://archiv.ffm-online.org/2012/08/19/melilla-fluchtlinge-und-migrantinnen-versuchen-den-eu-zaun-zu-uberwinden

(5) siehe http://lesvos.w2eu.net

(6) Arabischer Begriff für MigrantInnen ohne Visum, übersetzt als „Grenzverbrenner“;

(7) siehe http://www.refugeetentaction.net , http://wijzijnhier.org/nl , http://refugeecampvienna.noblogs.org

 

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