18. November 2012 · Kommentare deaktiviert für CROSSING BORDERS! Bewegungen und Kämpfe der Migration · Kategorien: Lesetipps · Tags: ,

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Transnationaler Newsletter, Ausgabe #10, Aug 2012
Was ist aus den jungen Menschen geworden, die letztes Jahr in Großbritannien den Aufstand getragen haben? Es ist schwer, dazu eine klare Antwort zu finden. Eine von Migrationserfahrungen geprägte Generation, die von PolitikerInnen und SozialarbeiterInnen allzu oft als “marginal” definiert wurde, trat ins Rampenlicht und verschaffte sich kurzfristig eine zentrale gesellschaftliche Position. Viele haben für diese Revolte – bezogen auf die folgenden Repressionen – einen hohen Preis bezahlt. Die meisten sind wieder in die Anonymität der britischen Gesellschaft abgetaucht, so wie viele junge MigrantInnen und die Kinder von MigrantInnen es jeden Tag überall in Europa tun. Doch die so genannte zweite Generation weigert sich zunehmend, versteckt in den engen, ihnen zugestandenen sozialen Räumen zu verharren.

Tausende Jugendliche rütteln an den Zäunen, an den Grenzen der Staatsbürgerschaft und ihrer sozialen Ausbeutung: von Großbritannien bis Patras in Griechenland (s. S. 2), über Italien (S. 4) bis nach Deutschland (S. 4) oder Frankreich (S. 2-3). Ihr Leben besteht darin, Grenzen zu überschreiten.

Generationen in Bewegung

Grenzen zu überwinden ist die Bedingung, die alle migrantischen Erfahrungen verbindet. Generationen von MigrantInnen leben in permanenter Bewegung und unterlaufen die Grenzen, die uns einen bestimmten Platz zuweisen sollen: als billige Ware auf dem Arbeitsmarkt verfügbar zu sein. Die herrschenden Regime der Migrationssteuerung sind dabei nicht zimperlich. Das Schicksal der Kinder spiegelt sich in dem ihrer Eltern, die ersteren sollen die Reservearmee für die Älteren sein. Aber MigrantInnen bewegen sich nicht gleichförmig, zumal die Grenzen die sie umgeben, sich stetig verändern. Die Elterngeneration steht zuerst der Grenze gegenüber, die Europa umgibt, doch für die hier Geborenen ist dieser Akt der Grenzüberschreitung ein gegebenes Faktum – auch wenn Ausweisungsdrohungen über der ganzen Familie schweben. Doch die neue Generation hat keinesfalls vor zurückzukehren. Ihr Blick ist nach vorn – auf die Zukunft – gerichtet, auch wenn sie zwangsläufig auf neue Grenzen stoßen werden.

Zum Beispiel die Grenzen in der Schule. Steigende Ausbildungskosten produzieren neue Klassengrenzen, die die junge Generation in unsichere und schlecht bezahlte Jobs zwingen soll. „Die Jugend soll nicht auf dumme Gedanken kommen, sie soll lernen wo ihr Platz ist,“ so sagen die Herrschenden. Aber die Jugend will davon nichts wissen. Sie weisen die rassistischen Zuschreibungen zurück: Junge „schwarze“ Proletarier zu sein, die zur Kriminalität neigen … Rassistische und gleichzeitig die Klassengrenzen niederzureißen, war daher eine der Hauptbotschaften, die die britischen Sommer-Riots vermittelt haben.

In Italien gibt es ein anderes Zuweisungsregime, das junge Menschen per Gesetz in prekäre und unterbezahlte Jobs zu pressen versucht, sobald sie volljährig sind. Auf diese Zwangsprekarität reagieren die Jungen mit Bewegung: Sie fordern volle Staatsbürgerschaftsrechte, auch wenn sie wissen, dass dies zu einer neuen, inneren Grenze werden kann. Dieses System will sie in eine Position zwingen, wo sie geduldig warten sollen, bis sie dran sind. Aber sie wollen nicht Bürger zweiter oder gar dritter Klasse sein, sondern sofort und selbst über ihr Leben bestimmen und ihre sie umgebende Gesellschaft mitgestalten. Der statische Charakter der Staatsbürgerschaft steht der Bewegung, wie es die junge Generation lebt, im Wege, weil es sie an einen Platz bindet, in dem ein Klassensystem vorherrscht. Wo das Ius Soli besteht wie in Frankreich, leben die Kinder der MigrantInnen – die zumeist bereits französische Staatsbürger sind oder kurz vor der Einbürgerung stehen – in Wohngebieten, in denen die staatliche Verwaltungsmaschine nur noch auftaucht, wenn es darum geht, (repressive) Muskeln zu zeigen.

Doch auch eine offenere Staatsbürgerschaft wird dem transnationalen Charakter migrantischer Lebensformen nicht gerecht. Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge von Patras mahnen uns: Für sie, die aus Afghanistan kommen, ist Griechenland das Tor nach Europa. Ohne hier die Rhetorik der europäischen Einheit reproduzieren zu wollen – Griechenland ist nur eine Durchgangsstation, ein Ort, der die Welt in weitere Bewegung setzt. Bewegungen wiederum, die durch die Auffanglager für minderjährige Flüchtlinge in Deutschland verhindert werden. Eingesperrt in moderne Lager, dürfen sie hier keine Ausbildung machen oder nach Arbeit suchen. Die Grenze wird zur Alltagserfahrung, die „Jugendliche ohne Grenzen“ zu unterlaufen suchen.

Die Komplexität der „Generation in Bewegung“ macht auch ihr politisches Potential aus, denn es gibt ganz unterschiedliche Formen, wie man Grenzen angreifen kann. Mensch kann sich mit Revolten wehren oder mit Musik, und damit die Strategie derjenigen durchkreuzen, die alle Widerständigen in „ihre“ Kategorien pressen wollen:
vorzugsweise als „Straftäter“ oder als „beleidigte und gedemütigte Jugendliche“. Diese Komplexität ist jedoch auch symptomatisch. Die unterschiedlichen Rhythmen, in denen sich die jungen MigrantInnen bewegen, sind auch Ausdruck der Vielfältigkeit und Verschiedenheit der Grenzen, auf die sie immer wieder stoßen. Haben sie eine Grenze überwunden, scheinen sie vor einer neuen zu stehen – gleich einer vielfältigen Festung, die ihnen ihren Platz in der Gesellschaft zuweist. Diese Logik zu durchbrechen, ist die politische Herausforderung, die junge MigrantInnen mit ihren Vorfahren, den früheren Generationen in Bewegung, gemeinsam haben. Indem sie die Grenzen überschreiten, politisieren die jungen MigrantInnen ihre eigene Situation, denn sie haben die ihnen zugewiesenen Plätze längst verlassen. Es ist eine fortwährende Bewegung, deren Rhythmus und Geschwindigkeit unberechenbar bleibt.

Vollständiger Text:

http://www.noborder.org/crossing_borders/newsletter10de.pdf

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