02. August 2018 · Kommentare deaktiviert für Libyen: „Es gibt dort keine Menschlichkeit“ · Kategorien: Libyen · Tags: ,

Zeit Online | 02.08.2018

Sie werden gefoltert und versklavt: Die Lage für Migranten in Libyen ist katastrophal. Die EU darf das nicht noch verstärken, sagt Libyenexpertin Hanan Salah.

Interview: Andrea Backhaus

Um mehr Bootsflüchtlinge nach Nordafrika zurückzubringen, will Europa enger mit dem Bürgerkriegsland Libyen zusammenarbeiten. Die EU baut zum Beispiel mit viel Geld die libysche Küstenwache auf, damit sie Migranten auf dem Mittelmeer aufhält und in ein Land zurückbringt, in dem die Menschen misshandelt werden.

Anfang Juli besuchten Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) Libyen. Mit dabei war Hanan Salah, die von Genf aus für HRW Menschenrechtsverletzungen in Libyen dokumentiert. Auf der Reise sprach sie mit Angehörigen der Küstenwache, mit inhaftierten Flüchtlingen und Migrantinnen in vier staatlichen Internierungslagern in Tripoli, Zuwara und Misrata und mit Mitarbeiterinnen internationaler Organisationen.

ZEIT ONLINE: Frau Salah, was haben Sie in Libyen erlebt?

Hanan Salah: Wir haben sehr viel Verzweiflung gesehen. Die meisten Menschen, die wir in den Gefängnissen trafen, haben versucht, mit dem Boot nach Europa zu kommen, einige von ihnen mehrfach. Sie haben zuvor oft viele Monate in den Lagern der Schlepper verbracht, wurden dann auf dem Mittelmeer von der libyschen Küstenwache gestoppt und an Land zurückgebracht – wo sie jetzt unter schrecklichen Bedingungen in Internierungslagern festsitzen.

ZEIT ONLINE: Was für Gefängnisse sind das?

Salah: Das sind offizielle Gefangenenlager, die unter Kontrolle des Innenministeriums der Regierung der Nationalen Einheit in Tripolis stehen. Das ist die von den Vereinten Nationen eingesetzte und von der EU unterstützte Regierung unter Fajis al-Sarradsch im Westen, die mit der Regierung im Osten rivalisiert, die mit General Chalifa Haftar verbündet ist. Die Gefängnisse werden seit Jahren genutzt. Einige wurden vergrößert, um die vielen Menschen unterzubringen. Sie sind dreckig und unhygienisch. Es gibt dort keine Menschlichkeit.

ZEIT ONLINE: Wie sieht es in den Gefangenenlagern aus?

Salah: Ich war in den vergangenen Jahren viele Male in Libyen und habe viele Gefängnisse gesehen. Trotzdem war ich dieses Mal schockiert. Es gibt ein Bild, das ich nicht vergessen kann: Als wir in einem Gefängnis die Gittertür zum Gang öffneten, sind wir fast über die vielen Menschen gestolpert, die aneinandergepresst auf dem Boden hockten. Sie sind aus ihren Zellen gekommen, um im Gang etwas Luft zu bekommen, aber auch dort saßen sie dicht an dicht gedrängt. Es müssen Hunderte gewesen sein. Viele schnappten nach Luft, weil es so stickig war.

Viele Toiletten und Duschen sind defekt. Es ist sehr heiß und es gibt keine Ventilatoren. Die Gefangenen bekommen oft nur wenige Mahlzeiten und die sind nicht ausgewogen: ein bis zwei Brotrationen und eine Handvoll Reis oder Nudeln pro Tag. Die Menschen haben keine Bewegungsfreiheit. Sie sind fast den ganzen Tag in der Zelle. Selbst die vielen Kinder dürfen nicht rausgehen. Noch beunruhigender war, dass das Wachpersonal die Migranten und Flüchtlinge schwer misshandelt.

ZEIT ONLINE: Was haben die Menschen Ihnen erzählt?

Salah: Sie sagten, die Wärter schlügen sie, beschimpften sie und behandelten sie sehr grob. Wenn sich zwei Gefangene stritten, holten die Wärter Stöcke und prügelten auf alle ein, die in der Zelle der Streitenden säßen – als Kollektivstrafe.

Kreislauf von Gefangenschaft und Ausbeutung

ZEIT ONLINE: Es gibt den Vorwurf, die Internierten seien Zwangsarbeit ausgesetzt. Was wissen Sie darüber?

Salah: Wir wissen, dass manchmal Milizen Menschen aus den Gefangenenlagern holen, um sie für sich arbeiten zu lassen – unbezahlt. Sie versprechen den Menschen, dass sie entlohnt werden, aber das ist nicht wahr. Wir wissen nicht, was genau die Absprachen zwischen Milizen und Gefängniswärtern sind. Aber wir beobachten, dass einige Migranten von einem Händler zum nächsten weiterverkauft und von Schmugglern, Milizen oder privaten Geschäftsleuten ohne Bezahlung zum Arbeiten gezwungen werden. Sie schlagen die Menschen, sperren sie ein und halten manche Migranten wie Sklaven.

Viele Menschen sterben an den Folgen der Folter

ZEIT ONLINE: Was wissen Sie über die Lager, die nicht unter Kontrolle der Regierung stehen?

Salah: Es gibt verschiedene Lager. In manchen halten Milizen die Migranten nur einige Tage fest, um sie zu foltern und damit Geld von ihren Familien zu erpressen oder sie zur Arbeit zu zwingen. Dann gibt es riesige Hallen von Schmugglern, in denen Tausende Migranten so lange festsitzen, bis sie einen Platz auf einem der Boote bekommen. Diese Hallen gibt es hauptsächlich in Zentral-Libyen. Dort werden die Menschen häufig systematisch misshandelt, oft viele Monate lang. Einige Menschen sterben an den Folgen der Folter oder weil sie nicht medizinisch versorgt werden. Ich habe vor einigen Wochen in einem Gefängnis einen jungen Mann aus Kamerun getroffen, dessen Frau einige Monate zuvor in einem Lager von Schmugglern bei der Geburt ihres Kindes gestorben ist. Es gab Komplikationen und niemand half ihr. Die Schmuggler haben sie verbluten lassen.

ZEIT ONLINE: Ende Juni hat Italien die Koordination der Seenotrettung auf dem Mittelmeer an die libysche Küstenwache abgegeben. Die kontrolliert nun ein großes Gebiet vor ihrer Küste. Halten Sie das für den richtigen Weg?

Salah: Nein. Wir glauben nicht, dass die libysche Küstenwache die Kapazitäten hat, um sichere und effektive Rettungsaktionen durchzuführen. Sie hat weder die richtigen Boote, noch die nötige Ausstattung, um auf akute Notfälle angemessen zu reagieren. Vielmehr geht damit der Kreislauf von Gefangenschaft und Ausbeutung immer weiter. Denn die Menschen, die die libysche Küstenwache abfängt, werden fast ausnahmslos in die Gefangenenlager gebracht. Das führt dazu, dass noch mehr Menschen in Libyen unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten werden. Das darf die EU nicht verstärken.

ZEIT ONLINE: Die EU unterstützt die libysche Küstenwache mit Training und Ausrüstung. Dabei arbeiten für die Küstenwache oft lokale Milizen, die eng mit Schleppern und Schmugglern im Land vernetzt sind.

Salah: Die libysche Küstenwache steht unter Kontrolle des Verteidigungsministeriums. Doch nicht alle, die für die Küstenwache arbeiten, sind Polizisten oder Marineoffiziere und haben eine professionelle Ausbildung. Viele haben erst nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 bei der Küstenwache angefangen. Einige haben zuvor gegen Gaddafi gekämpft, andere waren Mitglieder von Milizen, die einfach eine Arbeit brauchten. Ihnen fehlt das Wissen und die Erfahrung, um Rettungsaktionen durchzuführen. Auch gibt es keine einheitliche Kontrolle der gesamten Küstenwache, sondern unterschiedliche Befehlsketten, die sich teilweise widersprechen.

ZEIT ONLINE: Die libyschen Küstenwächter gehen bei ihren Rettungsmissionen oft äußerst brutal vor, berichten Augenzeugen.

Salah: Ja, das können wir bestätigen. Einige Küstenwächter schießen in die Luft oder ins Wasser, wenn die Migranten nicht in ihre Boote umsteigen wollen. Auch unternehmen sie manchmal äußerst gefährliche Manöver. Sie fahren sehr nah an die Boote heran, um hohe Wellen zu erzeugen und die Menschen zu erschrecken.

„Es darf keine Toleranz für Folter geben“

ZEIT ONLINE: Was passiert, nachdem die Küstenwache die Menschen an die libysche Küste zurückgebracht hat?

Salah: Die Küstenwächter bringen die Menschen von den Booten zunächst an einen Entladepunkt. Es gibt verschiedene Entladepunkte entlang der libyschen Küste. Dort sind Mitarbeiter der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), die registrieren, wie viele Menschen ankommen und sie mit dem Nötigsten versorgen. Dann verteilen Mitarbeiter des Direktorats zur Bekämpfung illegaler Migration (DCIM), das dem Innenministerium untersteht, die Menschen an die Gefangenenlager. Sie sagen, sie orientieren sich bei der Verteilung der Menschen an der Auslastung der Gefängnisse. Aber das können wir nicht nachvollziehen. Es gibt in einigen Gefängnissen eine enorme Überbelegung, dennoch werden immer mehr Menschen dorthin gebracht. Das System scheint also nicht zu funktionieren.

ZEIT ONLINE: Wer trägt dafür die Verantwortung?

Salah: Das Innenministerium der Regierung für Nationale Einheit trägt ganz klar die Verantwortung für die grauenhaften Zustände in den Gefängnissen. Die zuständigen Behörden haben die Pflicht, die Menschen zu schützen. Nun bringt die libysche Küstenwache die Menschen zurück in eine Situation, in der sie extremer Gewalt ausgesetzt sind. Die Küstenwache sollte sicherstellen, dass Menschen in Seenot gerettet werden. Aber sie sollte die Geretteten nicht zurück nach Libyen bringen. Libyen ist kein sicherer Ort für die Menschen.

ZEIT ONLINE: Das Land ist zerfallen: Zwei Regierungen, viele Milizen und Warlords kämpfen um die Macht. Mit wem kann Europa da verhandeln?

Salah: Die Lage in Libyen ist extrem schwierig: Menschenrechtler und internationale Organisationen können kaum noch arbeiten, für lokale und internationale Journalisten ist es sehr gefährlich, die Sicherheitslage ist desolat. Die EU kann nicht alle Probleme in Libyen auf einmal lösen. Aber eines ist klar: Solange die libyschen Behörden nicht dafür sorgen, dass es den Menschen in den Gefängnissen besser geht und solange sie nicht die ausreichenden Mittel haben, um sichere Rettungsaktionen durchzuführen – solange müssen die EU-Länder die Menschen im Mittelmeer retten.

ZEIT ONLINE: Was sollte die EU Ihrer Meinung nach tun?

Salah: Die EU muss Nichtregierungsorganisationen und privaten Seenotrettern weiterhin ermöglichen, in Seenot geratene Menschen auf dem Mittelmeer zu retten. Sie muss das Leben der Menschen auf See schützen und dafür sorgen, dass die Rettungsboote in sicheren Häfen anlegen können.

Vor allem muss die internationale Gemeinschaft viel mehr Druck auf die Regierung in Tripolis ausüben. Sie kann nicht finanzielle Mittel und Ausrüstung an die libyschen Behörden liefern, ohne sie im Gegenzug dazu anzuhalten, die Bedingungen in den Gefängnissen zu verbessern. Die EU müsste unabhängig prüfen lassen, wohin genau ihr Geld geht. Die Europäer müssen den Libyern klar sagen: Wir unterstützen euch nur, wenn ihr die Situation für die Menschen verbessert – und zwar schnell, denn die Lage ist untragbar. Libyen ist ein rechtsfreier Raum, es herrscht völlige Straflosigkeit. Die EU muss da klare Maßstäbe vorgeben. Es darf keine Toleranz für Folter geben.

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