25. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Erdoğan droht EU mit Grenzöffnung – Berlin reagiert sofort · Kategorien: Deutschland, Europa, Türkei

Quelle: Süddeutsche Zeitung | 25.11.2016

  • Der türkische Präsident Erdoğan hat der Europäischen Union mit der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge und einer Aufkündigung des Flüchtlingspakts gedroht.
  • Damit reagiert Erdoğan auf die nicht bindende Empfehlung des Europäischen Parlaments, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auszusetzen.
  • Die Bundesregierung reagierte: „Drohungen auf beiden Seiten helfen da jetzt nicht weiter“, sagte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer.

Nach der Empfehlung des Europäischen Parlaments zum Einfrieren der Beitrittsgespräche hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gedroht, die Landesgrenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Wenn die EU noch weiter gehe, werde er Flüchtlinge nach Europa lassen, sagte Erdoğan bei einer Rede vor einer Frauenorganisation in Istanbul.

Das Europaparlament hatte am Donnerstag empfohlen, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei einzufrieren. Grund für das EU-Votum sind die Verhaftungen von Journalisten, Abgeordneten, Richtern und Staatsanwälten sowie Menschenrechtsverletzungen.

„Wir sind diejenigen, die drei bis 3,5 Millionen Flüchtlinge in diesem Land ernähren“, sagte Erdoğan in Richtung EU. „Wenn Ihr noch einen Schritt weiter geht, werden diese Grenztore geöffnet.“

Berlin warnt im Streit mit Ankara

Die Bundesregierung reagierte umgehend auf Erdoğans Drohung und warnte vor einer weiteren Eskalation des Streits mit der EU. „Drohungen auf beiden Seiten helfen da jetzt nicht weiter“, sagte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer in Berlin. Wo es Schwierigkeiten gebe, müsse miteinander geredet werden, um diese auszuräumen.

Das Votum des Europäischen Parlaments ist nicht bindend; damit die Gespräche tatsächlich ausgesetzt werden, müsste nicht nur die Kommission dem zustimmen, sondern auch 16 der 28 nationalen Regierungen, die insgesamt mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Eine solche Mehrheit ist allerdings nicht wahrscheinlich.

Die Türkei beherbergt zahlreiche syrische Bürgerkriegsflüchtlinge, von denen viele in die EU weiterziehen wollen. Ein im März geschlossener Flüchtlingspakt zwischen der Türkei und der EU sieht unter anderem vor, dass die EU alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Im Gegenzug hat die EU unter anderem zugesagt, nach Erfüllung von 72 Voraussetzungen die Visumpflicht für türkische Staatsbürger aufzuheben.

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siehe auch: derStandard | 25.11.2016

Erdoğan droht mit Flüchtlingswelle und Todesstrafe

Weitere Kritik oder gar Sanktionen wegen des autoritären Kurses in der Türkei will Staatspräsident Erdoğan nicht mehr hinnehmen. Die Europäer hat er nun verwarnt: Beim nächsten Mal würden die Grenzen für die Flüchtlinge geöffnet

MARKUS BERNATH

Ankara/Brüssel/Athen – Als er seine Drohung ausgesprochen hat, springen die Zuhörer von den Sesseln auf und applaudieren dem Staatschef stehend. Tayyip Erdoğan hat es nun erstmals öffentlich gesagt, und in einer so deutlichen Form, dass es den Europäern in den Ohren klingt: „Hören Sie mir zu. Wenn Sie noch weiter gehen, werden die Grenzen geöffnet, merken Sie sich das!“ Für Empörung sorgte auch Erdoğans Ankündigung, er sei bereit zur Wiedereinführung der Todesstrafe, sollte das Parlament sie vorlegen.

Der türkische Staatspräsident, der Europa zurechtweist, sonnt sich im Hochgefühl der Stärke. Der umstrittene Pakt mit der EU vom März dieses Jahres – Geld und Visafreiheit für die Türken gegen die Rücknahme von Flüchtlingen – ist sein Druckmittel. „Sie können uns nicht drohen“, versichert Erdoğan am Freitag in seiner Rede in Istanbul den Zuhörern. Den Europäern sind die Hände gebunden, soll das heißen. Sie haben Angst vor der Flüchtlingswelle. Als im vergangenen Jahr 50.000 Migranten vor Kapikule standen, dem türkischen Grenzübergang ins EU-Land Bulgarien, da habe die EU um Hilfe gerufen, sagte Erdoğan. „Sie haben begonnen, sich zu fragen: Was machen wir, wenn die Türkei ihre Grenzen öffnet?“

Wut über Resolution

Geht die EU nun weiter in ihrer Kritik an Erdoğan, wird der türkische Staatschef das Flüchtlingsabkommen aufkündigen. Die Resolution des Europaparlaments vom Donnerstag hat ihn sehr wohl getroffen. Mit großer Mehrheit hatten die Abgeordneten in Straßburg die EU-Kommission und die Mitgliedsländer der Union aufgefordert, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wegen der fortgesetzten Repressionen im Land einzufrieren. Erdoğan nannte die rechtlich nicht bindende Resolution „wertlos“. Dem Europaparlament hat er schon lange die Legitimation abgesprochen.

Drei bis dreieinhalb Millionen Flüchtlinge seien derzeit in der Türkei, so erinnerte Erdoğan am Freitag die Europäer. 2,7 Millionen von ihnen kommen nach Angaben des UNHCR aus Syrien. Weniger als zehn Prozent leben in den Lagern nahe der türkisch-syrischen Grenze; die anderen schlagen sich mit ihren Familien in den türkischen Städten durch. Bettelnde syrische Kinder gehören längst zum Straßenbild in Istanbul. Berichte über die Ausbeutung syrischer Arbeiter in türkischen Fabriken finden ab und zu ihren Weg durch die von der Regierung kontrollierte Medienwelt.

Streit ums Geld

Das Geld ist ein dauernder Streitpunkt. Die türkische Führung tischt ihn der Öffentlichkeit ständig auf. Von den drei Milliarden Euro, die Brüssel versprochen habe, seien nur „ungefähr 750 Millionen“ gekommen, gibt Erdoğan in seiner Rede in Istanbul an.

Dass es eine sukzessive Auszahlung ist, die sich nach den Bedürfnissen der syrischen Flüchtlinge richtet, aber die Kooperation der türkischen Behörden voraussetzt, verschweigt er. 550 Millionen Dollar habe die Uno bisher nur beigesteuert, die Türkei jedoch zahlte aus eigenen Mitteln bereits 15 Milliarden Dollar für die Versorgung der Flüchtlinge im Land.

Das Flüchtlingsabkommen hat die Zahl der gefährlichen Überfahrten von der türkischen Küste zu den griechischen Inseln deutlich verringert. In der Nacht auf Freitag registrierten die griechischen Behörden sogar wieder keine einzige Ankunft von Flüchtlingen auf den Inseln der Ostägäis.

Übervolle Lager

Doch die Lager von Lesbos bis Rhodos sind seit Monaten ohnehin übervoll. An ein Ende des Flüchtlingspakts mit der EU will die Regierung in Athen gar nicht erst denken. „Es gibt keinen Plan B“, sagt Giorgos Kyritsis, der Leiter des Krisenstabs, dem Standard. Eine Wiederholung von 2015 schließt er kategorisch aus: „Griechenland kann auf keinen Fall eine neue Flüchtlingswelle auf den Inseln aufnehmen. Wenn dieses Abkommen scheitert, dann scheitert es für ganz Europa.“

Brüssel wie Berlin zeigten sich unbeeindruckt von Erdoğans Drohungen. „Die EU-Türkei-Vereinbarung betrachten wir als gemeinsamen Erfolg“, sagte eine Sprecherin der deutschen Bundesregierung. Die grüne Nationalratsabgeordnete Alev Korun erklärte hingegen, der „beschämende Deal“ der EU mit Erdoğan sei nun an sein Ende gekommen.

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