24. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingsströme: Sie wurden alleingelassen“ · Kategorien: Lesetipps

Quelle: FAZ | 22.11.2016

Sie stehen immer und überall im schlechten Licht, und niemand will sie haben: Journalisten versuchen in einer Reportagensammlung, einen Kontrapunkt zur berüchtigten „Flüchtlingskrise“ zu setzen.

fluechtlingsrevolution

„Wir leben nicht, wir warten.“ Die knappe Formel, mit der die pakistanische Englischlehrerin Fatima ihr Schicksal beschreibt, trifft auf die Mehrheit der weltweit 65 Millionen Menschen zu, die laut UNHCR auf der Flucht sind. Sie fliehen vor Krieg, Gewalt gegen Minderheiten, politischer Verfolgung, Armut, Hoffnungslosigkeit und stranden irgendwo, oft für Jahre, manchmal für immer. Fatima wartet seit vier Jahren in Cisarua, einem Dorf sechzig Kilometer südlich der indonesischen Hauptstadt Jakarta, darauf, dass sich eine Tür in die Zukunft öffnet.

Als Hazara war sie in ihrer Heimat in Nordwestpakistan ihres Lebens nicht mehr sicher; Angehörige der schiitischen Minderheit werden von der sunnitischen Mehrheit brutal verfolgt. Als eine Bombe vor Fatimas Haus explodierte, floh sie nach Indonesien, in der Hoffnung, nach Australien weiterzureisen. Doch Australien machte seine Grenzen dicht. Aus dem Transitland Indonesien wurde eine Sackgasse, eine von vielen auf den internationalen Flüchtlingsrouten. Fatima wird geduldet, Recht auf Arbeit, Unterstützung oder Bildung hat sie nicht.



Mythos Eurozentrie

Es bedarf wohl eines weltumspannenden Netzwerks wie jenes der Weltreporter, das Thema Flüchtlinge aus dem nationalen Kontext zu lösen und fernab von Populismus einen globalen Blick auf Fluchtursachen und den politischen Umgang mit Flüchtlingen zu werfen. Mehr als zwei Dutzend Journalisten des „größten Netzwerks freier deutschsprachiger Autoren“ (Selbstbeschreibung) haben zum Band „Die Flüchtlingsrevolution“ beigetragen und mit ihren Reportagen eine so schillernde wie erschütternde Momentaufnahme der Schattenwelt der von Krieg, Gewalt und Armut Entwurzelten geschaffen.

Schon die Titelwahl setzt einen bewussten Kontrapunkt zur gängigen Interpretation der Ereignisse als „Flüchtlingskrise“, als handele es sich um ein vorübergehendes, lokal begrenztes Phänomen. Die Autoren lenken den Blick weg vom nationalen Nabel und der deutschen Befindlichkeit und räumen mit dem Mythos auf, Europa stehe im Zentrum der globalen Flüchtlingsströme. Bereits Anfang 2015, also lange vor dem schicksalhaften September 2015, in dem Angela Merkel die Grenzen vorübergehend öffnete, gab es 800.000 Asylsuchende – nicht in Deutschland, sondern in Südafrika.

Eine Mammutaufgabe

Das größte Flüchtlingslager der Welt liegt nicht in Griechenland oder der Türkei, sondern in Kenia. Bis zu einer halben Million Menschen lebten zeitweise in Dadaab im Nordosten Kenias an der Grenze zu Somalia. Heute warten in der Dornbuschsavanne noch 350.000 Flüchtlinge auf einen Ausweg aus dem verfestigten Provisorium. Und während die Scharfmacher von Pegida und AfD gern den Eindruck erwecken, Deutschland nehme ganz Syrien bei sich auf, hat in Wahrheit die Mehrzahl der syrischen Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens Zuflucht gefunden. Im Libanon, der bis heute unter den Folgen des eigenen Bürgerkriegs in den siebziger und achtziger Jahren leidet, leben vier Millionen Libanesen und offiziell 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge. Inoffizielle Schätzungen gehen von zwei Millionen und mehr aus. 2015 wurden im Libanon mehr syrische als libanesische Kinder geboren.

Die überforderten Aufnahmeländer wurden mit der Mammutaufgabe, Millionen Hilfsbedürftige zu versorgen, jahrelang alleingelassen. 2015 schlugen UNHCR und das Welternährungsprogramm Alarm: Ihnen ging das Geld zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge aus. Lebensmittelrationen mussten auf 50 Cent pro Tag gekürzt werden, 360.000 Flüchtlinge blieben unversorgt. Für die Autoren der „Flüchtlingsrevolution“ ist die zeitliche Koinzidenz mit den steigenden Flüchtlingszahlen an Europas Grenzen kein Zufall.

Hochachtung vor Stehaufmännchen

Es sind die vielfältigen, bisweilen randständigen Perspektiven, die den Band so lesenswert und informativ machen. Das harte Los von Binnenmigranten in China, die Odyssee des ersten Klimaflüchtlings aus dem Südsee-Atoll Tuvalu, die radikale Internierung afrikanischer Flüchtlinge in Israel, die gescheiterte Rückkehr einer aramäischen Familie in die Türkei, die vergessenen Flüchtlinge in den an Guantánamo erinnernden Offshore-Camps Australiens, eine ungewöhnliche Rückkehr nach Somalia – jede der Geschichten erzählt von einem individuellen Schicksal und von einem größeren politischen Kontext. Dabei gelingt den Reporten vor allem eines immer wieder: Flüchtlinge als Menschen mit Würde, mit einer eigenen Geschichte, mit Träumen und Hoffnungen zu schildern.

„Wir wollen arbeiten, uns eine eigene Existenz aufbauen und einfach ein normales, friedliches Leben führen“, sagt Riphin Ruvinga, ein Flüchtling aus Kongo, der mit seiner Frau in Südafrika Zuflucht gefunden und in Durban einen kleinen Friseursalon eröffnet hat, der im März 2015 von einem fremdenfeindlichen Mob verwüstet wurde. Aufgeben kam für ihn nicht in Frage. „Aufstehen, weitermachen, überleben. Was anderes bleibt uns nicht übrig.“

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