22. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Krise im Mittelmeer: Das tödliche Geschäft mit den Flüchtlingen“ · Kategorien: Europa, Mittelmeerroute · Tags: , ,

Quelle: FAZ | 21.11.2016

Europa wollte den Schleusern das Handwerk legen. Doch für die ist es so einfach wie nie, mit Flüchtlingen Geld zu verdienen. Sie machen sich die europäischen Rettungssysteme zunutze. Und viele Flüchtlinge sterben dabei.

von THOMAS GUTSCHKER

Der norwegische Kapitän zeigt Videos, Rettungseinsatz zwischen Sizilien und Libyen. Man sieht Schlauchboote, hoffnungslos überfüllt mit Afrikanern. Ängstliche Gesichter. Ernste, fragende, auch erleichterte Blicke, wenn die Helfer nahen. Männer, die über Bord springen und sofort Wasser schlucken, weil sie weder eine Schwimmweste haben noch schwimmen können. Ein Afrikaner, der sich an Wasserkanister klammert. Der Jubel der Geretteten, wenn sie in Sicherheit sind. Ein winziger Junge, an Bord geboren.

Dann die anderen Aufnahmen, „hart“ seien sie, warnt der Kapitän. Vollgelaufene Boote, in denen leblose Körper treiben. Leichname, schwer wie Blei, die Retter kriegen sie kaum aus dem Wasser. Aufgedunsene Körper, die an Bord obduziert werden. Der Norweger zeigt diese Bilder jedes Mal, wenn Besuch kommt. Kalt lassen sie ihn nicht. Seine Wangen glühen, die Augen suchen Halt.

Er hat sich freiwillig gemeldet. Warum nur?

Pål Erik Teigen ist Polizist, fünfzig Jahre alt. Täjen, so spricht man seinen Namen aus. Ein kerniger Typ mit Glatze und Bartstoppeln. Daheim in Norwegen sichert er die Küste. Aber jetzt sitzt er auf der „Siem Pilot“ im Hafen von Catania. Von der Brücke sieht man, wie der Ätna hinter der Stadt in einer grauen Wolkendecke verschwindet. Es dämmert, Regen schlägt gegen die Scheiben. Winter in Sizilien. Teigen wartet auf seinen nächsten Einsatz für die europäische Grenzschutzmission „Triton“. Er hat sich freiwillig gemeldet. Warum macht er das?

Er sucht nach Worten. „Um etwas zu verändern, glaube ich.“ Er stockt, setzt noch mal an: „Um etwas Sinnvolles zu tun.“ Mehr als 28.000 Menschen hat die Besatzung der „Siem Pilot“ schon aus Seenot gerettet, Migranten allesamt. Der Norweger zeigt ein Foto: Ein schwarzes Mädchen strahlt und streckt die Finger zum Victory-Zeichen; den anderen Arm legt es um ein Kleinkind, wahrscheinlich die Schwester. „Das ist der Grund, warum ich hier bin“, sagt Teigen. Rührung liegt in seiner Stimme.

Aber was ist mit den Toten? Die „Siem Pilot“ hat einen Kühlcontainer an Bord, da passen fünfzig Leichname rein. In den letzten Wochen hat die Besatzung immer wieder leblose Körper aus dem Wasser gezogen. „Man wandelt im Leben auf einem schmalen Grat. Du kannst sehr schnell runterfallen. Ein Kind ertrinkt, ein anderes wird an Bord geboren“, sagt Teigen. Eine „emotionale Achterbahnfahrt“ sei das. Rauf und runter. Immer in Bewegung. Alles dreht sich um Leben und Tod.

Stunden nach dem Gespräch kentert ein Schlauchboot vor der libyschen Küste. Ein Öltanker holt 15 Afrikaner aus dem Wasser, sie hatten sich stundenlang an die schwimmenden Reste des Boots geklammert. An Bord seien 150 Menschen gewesen, berichten die Überlebenden. Am folgenden Tag das nächste Unglück: wieder ein Schlauchboot, 122 an Bord, 23 gerettet, vier Leichname aus dem Wasser gezogen. In den Zeitungen sind das kleine Meldungen, wenn überhaupt. Man hat sich an derlei Nachrichten gewöhnt. Die Zahl der Toten und Vermissten auf der zentralen Mittelmeer-Route von Libyen nach Italien ist in der vergangenen Woche auf mehr als 4000 gestiegen.

So viele Tote wie noch nie

Den 4000 Toten stehen 160.000 Menschen gegenüber, die es lebend auf die andere Seite des Meeres geschafft haben. Ein Toter auf vierzig Passagiere, eine bestürzende Quote. Noch nie sind mehr Menschen über diese Route gekommen – die wichtigste nach Europa, seitdem die Ägäis praktisch abgeriegelt ist. Und noch nie gab es so viele Tote zu beklagen. Es klingt wie ein unabwendbares Schicksal, wenn Kapitän Teigen darüber spricht. Es fühlt sich auch so an. Aber es ist die Folge von Entscheidungen, die der Norweger nicht getroffen hat, sondern bloß umsetzt.

Die Schleuser verfolgen ein Kalkül, man kann es zynisch nennen oder rational: Sie versuchen mit möglichst geringem Aufwand möglichst viel Geld zu verdienen. Die Europäische Union wollte das Kalkül ändern, indem sie die Kosten in die Höhe treibt. Eingetreten ist jedoch das Gegenteil: Nie war es für Schleuser so einfach, einen Migranten loszuwerden – und nie war es für Migranten so gefährlich, in See zu stechen.

Bis vor einem Jahr setzten Migranten in Fischerbooten über, die im Prinzip seetauglich waren, wenn auch überladen. Ob sie durchkamen, hing vom Wetter ab. In ruhiger See war die Chance hoch, wenigstens die weit vorgelagerte Insel Lampedusa oder Malta zu erreichen. Die Schleuser setzten auch größere Schiffe ein, ausgemusterte Rostlauben. Eine perfide Masche: Schlepper nahmen Kurs auf Italien, setzten bei voller Fahrt einen Notruf ab und gingen dann von Bord. Fahrende Zeitbomben waren das, mehrmals wurden Katastrophen nur um Haaresbreite verhindert. Dann versank im April 2015 ein Kutter vor Libyen. Bis zu 800 Menschen wurden auf dem Schiff vermutet – es war das schlimmste Unglück im Mittelmeer.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union schreckten auf. Binnen einer Woche beschlossen sie einen weitreichenden Aktionsplan. Die Mittel für die Operation „Triton“ wurden verdoppelt, ihr Einsatzraum wurde von den italienischen Küstengewässern bis weit ins Mittelmeer ausgedehnt. Seenotrettung statt Küstenschutz. Außerdem wurde die militärische Mission „Sophia“ auf den Weg gebracht, benannt nach einem Flüchtlingskind. Sie soll Schleuser bekämpfen, Boote anhalten und zerstören. Es gibt seither kein besser bewachtes Stück offene See: Schiffe, Schnellboote, Drohnen, Hubschrauber, Satelliten – alles im Einsatz.

Anfangs gingen den Militärs und Grenzschützern ein paar größere und viele kleine Fische ins Netz. Mehrere hundert Boote, ebenso viele Verdächtige. Die Boote wurden aus dem Verkehr gezogen, es gibt offenbar kaum noch Holzbarken in Libyen. Ein Schlag gegen die Schleuser? Von wegen. Sie stiegen auf Schlauchboote um. Statt Hunderter Kilometer müssen sie ja bloß die Rettungsschiffe erreichen, die vor der libyschen Küste kreuzen. Zwanzig, dreißig Kilometer. Nur vier Flüchtlingsboote schafften es in diesem Jahr überhaupt auf die italienische Seite. Alle anderen setzten ihren Notruf ab, nachdem sie die libyschen Gewässer verlassen hatten. Im Klartext: Die 160.000 Migranten wurden von europäischen Schiffen übergesetzt, nicht von Schleusern.

Deren System funktioniere immer gleich, berichten Grenzschützer. Auf ein Schlauchboot werden 100 bis 150 Personen gepfercht. Wenn sich einer weigert einzusteigen, zücken die Schleuser ihre Waffen. Meistens reicht das als Drohung. Wenn nicht, schießen sie einem renitenten Kunden in den Oberschenkel. Auf den Holzboden im Boot passen 20 bis 30 Personen, die anderen müssen sich auf den Rand setzen. Anders als in der Ägäis bekommt kein Einziger eine Schwimmweste, das würde Platz kosten. Und jeder Platz ist teuer: 800 bis 1000 Euro. Mit jedem Boot, das ablegt, verdienen die Schleuser mehr als 100.000 Euro.

Eine gefährliche Rettungskette von Tripolis bis Catania

Nur einer fährt gratis: ihr Helfer an Bord, ebenfalls Flüchtling. Er muss ein paar Brocken Englisch sprechen und bekommt ein Satellitentelefon mit. Sobald er die vorgesehene „Rettungszone“ erreicht hat, setzt er einen Notruf ab. Die Nummer der italienischen Küstenwache ist immer eingespeichert. Viel weiter käme er auch nicht, denn das Benzin für den Außenbordmotor ist knapp bemessen. Danach beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit: Hält das überladene Boot, bis Hilfe naht?

Kapitän Teigen stellt auf seinen Rettungstouren fest, dass die Qualität der Schlauchboote immer schlechter wird. „Früher gab es mehrere Luftkammern, heute nur noch zwei. Die Gummiwände werden immer dünner, die Nahtstellen sind schlechter verklebt“, berichtet der Norweger. Die Boote kommen aus China. „Selbst bei kleiner Besatzung würde ich damit niemals aufs Wasser gehen“, sagt Teigen.

Die italienische Küstenwache bekommt mit jedem Notruf die GPS-Position übermittelt. Sie schickt dann das Schiff los, das am nächsten dran ist – so sieht es das Seerecht vor. Das kann ein Öltanker sein. Oder ein Schiff der Mission „Sophia“; die hat auch schon 30.000 Migranten gerettet, obwohl das nicht ihr Auftrag ist. Oft kommt ein Rettungsschiff privater Hilfsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ oder „SOS Méditerranée“ vorbei. Diese Schiffe operieren immer ganz nah an den libyschen Gewässern, zwölf Meilen vom Festland entfernt. Kapitän Teigen übernimmt die Geretteten auf hoher See. Auf seinem Schiff ist Platz für mehr als tausend Personen, er kann sie versorgen und Notfälle medizinisch behandeln. Nach drei Tagen Fahrt lädt er die Passagiere an einem sizilianischen „Hotspot“ ab. Dort werden sie von EU-Beamten registriert und ins italienische Asylverfahren weitergeleitet.

Dieses System ist inzwischen so perfekt eingespielt wie das der Schleuser. Beide Systeme greifen regelrecht ineinander – eine Rettungskette von Tripolis bis Catania. So war es aber niemals gedacht. Der Frontex-Einsatz „Triton“ und die Militärmission „Sophia“ sollten ja den Schleppern das Handwerk legen – und nicht den Flüchtlingstransport über das Meer perfektionieren. Nun ist es wieder wie vor zwei Jahren, als die Italiener noch allein versuchten, den Flüchtlingsstrom zu bewältigen. Ihr Einsatz hieß „Mare Nostrum“, hunderttausend Menschen wurden gerettet. Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte damals: „Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen.“ Und nun? Ist die Brücke zugleich breiter und gefährlicher geworden.

Das Problem an der Wurzel lösen – aber wie?

Man wagt das kaum auszusprechen gegenüber einem, der mit besten Absichten Flüchtlinge rettet. Vorsichtige Frage an Kapitän Teigen: Kommen vielleicht umso mehr Migranten, je mehr er aus dem Wasser zieht? Der Norweger antwortet mit einer Gegenfrage: „Und dann? Was folgt daraus?“ Dass man die Boote von der libyschen Küste zurückzieht und noch mehr Tote in Kauf nimmt? Teigen schüttelt den Kopf. Er wirkt schon ziemlich mitgenommen von diesem Einsatz, aber das würde er niemals übers Herz bringen.

Es ist natürlich auch keine Entscheidung für einen einzelnen Kapitän. Also dieselbe Frage an Frontex, das gerade zur Europäischen Grenz- und Küstenwache ausgebaut wird. Die Sprecherin Izabella Cooper antwortet: „Wenn Menschen in Seenot geraten, müssen wir sie retten. Das ist nicht nur moralisch richtig, es ist unsere rechtliche Verpflichtung.“ Man finde ja auch einiges über die Schleusernetzwerke heraus, fügt Cooper hinzu. Die Grenzschützer haben inzwischen einen geschulten Blick dafür. Manchmal halten die Helfer der Schleuser noch das Satellitentelefon in Händen, oft sind sie die Einzigen, die Schuhe tragen. Verdächtige werden an Land befragt, ihre privaten Mobiltelefone nach Hinweisen auf Kontaktleute durchsucht. Die Italiener ermitteln – angeklagt wird selten jemand. Die Frontex-Sprecherin will noch etwas loswerden: dass man das Flüchtlingsproblem an der Wurzel lösen müsse. Klingt gut. Aber wie?

Im Hauptquartier der Operation „Sophia“ denkt niemand an einen Rückzug. Hier, am Rande Roms, stehen die Zeichen auf Ausweitung. Man will in die libyschen Gewässer vordringen, anschließend auch an Land. Es ist die kürzeste Wurzel des Problems: Boote am Ablegen hindern. Dem müsste freilich die libysche Übergangsregierung zustimmen, die nur einen Teil des Landes kontrolliert. Viele EU-Staaten wollen außerdem ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Beides ist momentan unrealistisch – deshalb werden seit einem Monat libysche Grenzschützer auf zwei Schiffen von „Sophia“ ausgebildet. Im nächsten Sommer sollen 300 Mann einsatzbereit sein.

Hein: „stabile Brücken in die Festung Europa bauen“

Manlio Scopigno ist der Chef des Stabes von „Sophia“. Der italienische Brigadegeneral traut sich keine Prognose zu, wie es dann weitergeht. Aber er macht klar, dass er die Brücke nach Italien unterbrechen will: „Alle Migranten und alle Schleuser, die in libyschen Gewässern aufgegriffen werden, müssen zurück nach Libyen.“ Nicht über das Meer nach Italien. Klingt auch gut. Ist aber viel komplizierter, als der General zugibt. Denn natürlich können die Europäer dabei nur mitmachen, wenn die Migranten an Land anständig behandelt werden. Sie müssen versorgt werden, einen Aufenthaltstitel bekommen, einklagbare Rechte – sonst würde Europa an verbotenen „Pushbacks“ mitwirken. Ein anspruchsvolles Programm.

Im Zentrum von Rom hat Christopher Hein sein Büro. Der Deutsche hat den Italienischen Flüchtlingsrat gegründet und 25 Jahre lang geleitet, ein Bündnis von Hilfsorganisationen. Inzwischen lehrt der NGO-Veteran mit den graumelierten Haaren an Universitäten. Hein gibt unumwunden zu, dass die Lage im Mittelmeer immer schlimmer geworden sei, je mehr man versucht habe, den Flüchtlingen zu helfen. Er spricht von einer „tragischen Situation“: unschuldig schuldig werden. Aber die Schiffe zurückzuziehen, das lehnt auch er strikt ab. „Wir müssen vielmehr stabile Brücken in die Festung Europa bauen“, sagt er. Für ihn sind das: Umsiedlungsprogramme, Arbeitsgenehmigungen und die Möglichkeit, schon in Botschaften Asyl zu beantragen. „Warum müssen Menschen erst diese wahnsinnig gefährliche und teure Reise auf sich nehmen, bevor sie um Schutz bitten dürfen?“, fragt Hein.

Das könnte ein Weg sein, um den Schleusern das Wasser abzugraben. Das Mittelmeer würde nicht weiter zum Friedhof verkommen. Kapitän Teigen könnte sich wieder um norwegische Fischer kümmern. Aber es hätte einen Preis: Die Europäische Union müsste mindestens so viele Migranten hereinlassen, wie sie jetzt aus Seenot rettet.

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