18. November 2016 · Kommentare deaktiviert für „Soziales Projekt in Göttingen: Die Hausbesetzer GmbH“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Spiegel Online | 18.11.2016

Überall in Deutschland stehen Häuser leer, während Zehntausende Hilfsbedürftige auf menschenwürdige Wohnungen warten. In Göttingen haben Aktivisten Konsequenzen gezogen – mit erstaunlichem Erfolg.

Von Peter Maxwill

Achmet schaut durch seine randlose Brille auf das vollbrachte Werk: Rund um den Massivholztisch stehen Stühle und eine in die Jahre gekommene Bank. „Jetzt ist es gut“, sagt der Mittvierziger in brüchigem Deutsch und lacht schnaubend auf.

So wohnlich wie möglich soll es in dem Fünf-Zimmer-Apartment aussehen, wenn seine Frau und die Kinder demnächst einziehen. Fünf Zimmer, Küche, Bad – und der Familienvater hat alles selbst eingerichtet: hat Fußböden verlegt, die Küche eingebaut, eine Waschmaschine angeschlossen, die Wände gestrichen. „Es ist toll hier“, sagt er.

Im April 2015 war Achmet, der eigentlich anders heißt, vor der Terrormiliz „Islamischer Staat“ nach Europa geflohen. Über den Familiennachzug sollen nun auch seine engsten Angehörigen nach Deutschland kommen, in eine viergeschossige Flüchtlingsunterkunft mitten in der Göttinger Altstadt. Das Besondere an dem Eckhaus, keine fünf Fußminuten vom Bahnhof entfernt : Nicht der Staat ist dort Chef – sondern eine Handvoll Besetzer.

Die Geschichte von OM10, wie sie das Wohnprojekt in der Obere-Masch-Straße 10 nennen, klingt märchenhaft: Am 5. November vergangenen Jahres, um Punkt 12 Uhr mittags, okkupierten fast 50 Linksaktivisten, Studenten und Alt-Achtundsechziger das leerstehende Bürohaus des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Danach wandelten sie es in ein Heim für Asylbewerber und andere Hilfsbedürftige um – und stehen nun davor, es zu kaufen, eine GmbH zu gründen, Eigentümer und Vermieter zu werden.

Wie ist das möglich?

Im Versammlungsraum des OM10-Hauses hockt an diesem Novembertag Tim Schreiber, ein bärtiger Bube mit Strickpullover, auf einer ergrauten Couch und wärmt sich die Hände an einer Tasse Pfefferminztee. Neben ihm schält eine weißhaarige Fast-70-Jährige Äpfel in mundgerechte Schiffchen, auf der anderen Seite plaudert Aktivistin Almut Schilling mit einem jungen Syrienflüchtling namens Anas.

Schilling ist eine der erfahreneren Hausbesetzerinnen, für sie ist das OM10 vor allem ein politisches Projekt. Gemeinsam mit Gleichgesinnten hätten sie im November entschieden, das Verrotten von nutzbarem Wohnraum nicht länger hinzunehmen – so sei der Plan entstanden, das Haus in der Obere-Masch-Straße zu besetzen. Schließlich sei es ein Skandal, sagt sie, dass dieses Haus mitten in der Stadt leergestanden habe.

„Bemerkenswertes geschafft“

Philosophiestudent Schreiber nippt an seinem Tee und lächelt zufrieden. „Hier werden aus den abstrakten Zahlen persönliche Schicksale“, sagt der 28-Jährige: die Schicksale von vier Wohnungslosen und elf Flüchtlingen. Ganz einfach ist es allerdings nicht, Teil der OM10-Hausgemeinschaft zu werden. Bewerber müssen sich in einer der regelmäßigen Plenumssitzungen vorstellen und dürfen dann eine Woche lang zur Probe Wohnen – erst dann entscheidet die Gemeinschaft über potenzielle Mitbewohner.

Wenn Achmets Familie und ein paar weitere Neulinge demnächst einziehen, so Schreiber, würden im OM10 rund 25 Bewohner auf vier Etagen leben. Syrer, Pakistaner, Deutsche, Marokkaner, Iraker. „Wir haben hier Bemerkenswertes geschafft“, sagt Schreiber mit einer Selbstverständlichkeit, die keinesfalls selbstverständlich ist.

Denn Hausbesetzungen sind seit jeher nicht gerade auf Dialog und Kompromiss ausgelegt. Allein in diesem Jahr rückten Polizisten mehrmals zur Räumung besetzter Häuser aus, in Jena, Flensburg, Berlin. In der Hauptstadt eskalierte der Konflikt im Sommer sogar so sehr, dass bei einer Straßenschlacht 123 Beamte verletzt wurden.

Und im Göttinger OM10? Tauchten in den vergangenen zwölf Monaten kein einziges Mal Ordnungshüter auf.

Während der Staat nur mühsam Wohnungen für Flüchtlinge findet, von denen noch immer Zehntausende in Hallen und Hangars leben, haben die OM10-Aktivisten Fakten geschaffen. Jeder Flüchtling hat in der Obere-Masch-Straße einen Raum für sich, Mehrbettzimmer lehnen die Aktivisten ab. Ihre Botschaft lautet: Seht ihr, alles gar nicht so schwierig, es ist doch Platz für alle da. So einfach ist es aber natürlich nicht.

Denn der bisherige Eigentümer des besetzten Hauses ist eben kein Immobilienhai – sondern der DGB. Zwar forderte DGB-Bezirkschef Hartmut Tölle die Besetzer schon kurz nach der Okkupation zur Räumung auf und warf ihnen vor, „Flausen im Kopf“ zu haben. Doch vor einer Anzeige, die einen Polizeieinsatz nach sich gezogen hätte, scheute der traditionell politisch linke Verband dann doch zurück.

„Ich besetze hier nicht zum ersten Mal ein Haus“

Seitdem richten sich die Aktivisten um Almut Schilling und Tim Schreiber im OM10-Haus und einem kleineren Nebengebäude ein. Sie haben Wände verschoben, Küchen und eine Dusche eingebaut, Böden und Wasseranschlüsse verlegt. Nun soll noch eine neue Wärmedämmung her, Stromleitungen müssen erneuert werden, und dann noch der ganze Papierkram. Ohne die Hilfe von Ehrenamtlichen, die den Asylbewerbern Deutschkurse, Beratungsgespräche und medizinische Versorgung anbieten, wäre all das wohl kaum zu schaffen.

„Irgendwer kennt ja immer jemanden, der helfen kann“, sagt Almut Schilling. Es sind augenscheinlich Aktivisten wie sie, die im alltäglichen Chaos des Hausbesetzerlebens den Überblick behalten. „Viele von uns sind schon etwas älter“, sagt die 58-Jährige: „Ich besetze hier nicht zum ersten Mal ein Haus, und das ist sehr hilfreich.“

Die Routine der Veteranen spiegelt sich in einer straffen Selbstorganisation wieder. Regelmäßig treffen sich die rund 40 Aktivisten im Plenum, außerdem gibt es Arbeitsgemeinschaften: die Baugruppe, die Finanzgruppe, die Foodgruppe, die Pressegruppe, die Fluchthilfegruppe, die Theoriegruppe. Auch Systemkritik geht nicht ohne System.

„Ein bisschen Kreativität und Widerstand“

Die Arbeitsteilung schließe die Flüchtlinge ganz ausdrücklich mit ein, sagt Student Schreiber: „Je länger jemand hier lebt, desto mehr Verantwortung soll sie oder er tragen.“ Für die Asylbewerber sei es ja auch wichtig, sagt Schilling, nützlich zu sein. „Aber natürlich wird hier auch mal gestritten“, fügt sie hinzu: „Wer putzt? Wer räumt auf? Wie in jedem anderen Mietshaus auch.“

Die größte Herausforderung steht den Besetzern aber noch bevor: Mitte Oktober hat sich die Vermögens- und Treuhandgesellschaft des DGB bereit erklärt, das seit 2009 leerstehende OM10-Haus an die Besetzer zu verkaufen. „Zu einem politischen Preis“, wie Schilling sagt, „und das ist was anderes als ein symbolischer Preis!“

Die Besetzer brauchen also Geld, wie viel wollen sie ebenso wenig sagen wie der DGB. Privatleute sollen den Kauf mit Spenden und niedrigverzinsten Direktkrediten ermöglichen, eine „Our House OM10 GmbH“ soll dann den Kauf abwickeln – die Gesellschaft soll so bald wie möglich gegründet werden.

Dass all das gelingt, daran besteht kaum Zweifel. Selbst der Stadtrat signalisierte im Frühjahr, dass er die illegale Besetzung im Grunde begrüßt: Mit Ausnahme der CDU-Abgeordneten forderten alle Fraktionen die Besetzer und den DGB auf, gemeinsam ein „tragfähiges Konzept zur weiteren Nutzung des Hauses“ auszuhandeln. „Es geht halt“, sagt Aktivist Schreiber dazu. Und seine Mitstreiterin Schilling sagt: „Mit ein bisschen Kreativität und Widerstand kann vieles klappen.“

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