07. November 2016 · Kommentare deaktiviert für Rezension: Harald Bauder, Migration Borders Freedom · Kategorien: FFM-Texte, Lesetipps

Buchbesprechung

Harald Bauder
Migration Borders Freedom
London and New York (Routhledge) 2016
135 Seiten, 108 €

Harald Bauder hat ein Buch veröffentlicht, das in akademischen Kreisen als „nice piece of scholarship“ gewürdigt werden wird: ein ausgewogener Überblick über die Literatur und die unterschiedlichen Standpunkte zu den Themen Grenze, Territitorialstaat und Staatsbürgerschaft. Dabei bezieht Bauder wohlbegründet Stellung für Open Borders und für eine flexible Naturalisierung der Migrantinnen in einem jus domicilii, solange denn eine Welt ohne Territorialstaaten noch nicht denkbar ist.

Diese Diagnostics machen den ersten von zwei Teilen des Buchs aus. Im zweiten Teil, Solutions, umkreist Bauder die Themen Urbanität, Domizil und Sanctuary City (dazu unten mehr), bis hin zu Derridas City of Refuge, von deren ‚Unconditioned Law of Hospitality‘ wir noch weit entfernt sind. Das Buch erweist sich mit diesem Teil als Tool-Box für Stadträte ebenso wie für Aktivistinnen. Es geht dabei auch um die argumentativen Fallen und die gegenläufigen Prozesse, die mit bestimmten Beschlüssen induziert werden könnten. Bauder wendet sich explizit nicht nur an die Wissenschaftsgemeinde. Sein Buch liest sich flüssig, es kommt gänzlich ohne Fußnoten aus, es ist handlich. Der hohe Preis wird durch das gut kopierbare Format des Buchs ausgeglichen.

Beginnen wir mit Bauders Schlusssatz: „Mit Migration Borders Freedom habe ich versucht, einen Sinn für utopische Möglichkeiten noch einmal wach zu rufen, der in Wissenschaft und Politik in den letzten Jahrzehnten verloren ging. Dieser Raum der Möglichkeiten enthält die Freiheit der Migration und die Freiheit der Zugehörigkeit. Das unmittelbare Ziel aber muss es sein, die mörderischen Praktiken … (an den Grenzen) … auf zu halten. Wir dürfen nicht auf die perfekte utopische Lösung warten, um Leid und Tod an den Grenzen ein Ende zu setzen, aber die Inspiration eines gerechteren und freien Reichs der Möglichkeit wird uns den Weg weisen.“

Bauder bezieht sich in seinem Buch wesentlich auf die neomarxistische Sozialgeographie – David Harvey an erster Stelle, aber natürlich auch Saskia Sassen und den Ahnherren Henri Lefebvre – so wie auf die neuere kritische Grenzforschung. In den Hintergrund stellt er durchgängig einen von Ernst Bloch inspirierten Dualismus immanenter Möglichkeiten (contingent possibilities) und des Reichs der Possibilia, dem fernen Terrain des Noch-Nicht-Denkbaren. Dass sich ein moderner Sozialgeograph und Migrationswissenschaftler dabei auch auf die Negative Dialektik Adornos bezieht, ist überraschend, aber erweist sich für die Diskussion der Themen Open Border und jus domicilii einerseits, No Border und Freiheit andererseits als durchaus überzeugend. Die Diskussion zwischen Adorno und Bloch, die 1964 im SWR gesendet wurde, kann auf YouTube abgerufen werden und ist auch heute noch wirklich inspirativ. Dass sich Bauder mit alledem auf zutiefst klassisch westeuropäische Denkstrukturen einlässt, ist ihm sehr wohl bewusst. Am stärksten trifft dies sicherlich auf das Konzept der Freiheit zu, und Bauder tut deshalb gut daran, sich im Kern auf Hannah Arendts Diktum zu beschränken: „Of all the specific liberties which may come into mind when we hear the word ‚freedom‘, freedom of movement is historically the oldest and also the most elementary“. Punkt.

Sicherlich ist es nicht nur dem Publikum in der Neuen Welt geschuldet, sondern auch konzeptionellen Defiziten in der gegenwärtigen Migrationsforschung, dass Harald Bauder seine dialektische Untersuchungsstrategie recht umfänglich und quasi sich dafür entschuldigend einführt. Indes erweist sich dieser Zugang sehr rasch als ein zwanglos erscheinender und produktiver Zugang, sowohl für die Diagnostics als auch für die Solutions.

Borders in Perspective, Open Borders

Im 2. Kapitel untersucht Bauder die multiplen Dimensionen von „Grenze“ bzw. die unterschiedlichen Sichtweisen ihnen gegenüber. „Grenze“ ist ein diffuser Ausdruck ohne „Essenz“, eine mit Lineal auf einer Karte gezogene Linie, aber auch „letzte Bastion der Souveränität“ im Kontext der Westfälischen Ordnung, Mittel zur Regulation der Arbeitsmärkte und zur Segmentation der globalen Arbeit, aber auch zum Schutz der nationalen Arbeitskräfte und manchmal auch zum Schutz von Flüchtigen. Grenzen werden auch beschrieben als „Marker of Distinction“, wodurch natinale Identitäten als „Logo“ konstituiert werden.

All diese Sichtweisen sind, so Bauder, provisorisch, veränderbar, und die Konzepte sind verknüpft mit dem Gebrauch der Grenzen, konkreten Praktiken und Erfahrungen (und, möchte man hinzufügen, Interessen). Er beschreibt eine dialektische Auffassung von „Grenze“, die nach Veränderung ruft.

An important idea in this book is that we can actively engage in the dialectical movement. The ability to notice multiple aspects of the border and migration is an important first step towards such critical engangement (S.30). Und eine Seite später: We critical border and migration scholars, activists, politicians and anyone else who engages can present fresh imaginaries of borders and migration, and these ideas may, in turn, affect material uses od borders and practices of migration. We can anticipate aspects of the border that challenge and potentially transform existing uses, practices, and experiences … (S. 31).

Anmerkung: Vielen von uns fehlte über Jahre der Glaube an derartige Botschaften, denn wir können uns erinnern, dass der „Marsch durch die Institutionen“ mit schmerzhaften Prozessen der Entsolidarisierung einhergegangen ist. Aber ich denke, wir dürfen zur Kenntnis nehmen, dass die Grenzen der Wissenschaft, jedenfalls was die Grenz- und Migrationsforschung betrifft, an den Rändern ausfransen. Aktivistinnen gehen an die Uni, Professoren stellen sich an die Seite der Flüchtigen. Die meisten Supporter und Aktivistinnen auf der Balkanroute waren Akademikerinnen, viele sitzen nun an ihrer Masterarbeit. Die Prekarisierung der Unijobs trägt dazu bei, dass die Grenzen zwischen Wissenschaft und Aktivismus weiter verschwimmen. Die Positionen des AntiRa und der Critical Whiteness haben durch den Zustrom von Migrantinnen Substanz bekommen, sei es bei der Verhinderung von Abschiebungen oder beim Engagement auf der Route. Sie sind weniger selbstbezogen. Hier ein anderes Beispiel: Schaut selbst, wie charmant Bridget Anderson, Oxford, für eine Welt ohne Grenzen argumentiert.

Im dritten Kapitel nimmt Bauder den Ruf nach Open Borders auf, sich anschließend an Theresa Hayter: Sooner or later, Immigration controls will be abandoned as unworkable, too expensive in suffering and money, too incompatible with the ideals of freedom and justice, and impossible to maintain against pressures of Globalization. Aber Bauder führt uns vor Augen, dass es für Open Boders in der Debatte, wie sie in den einschlägigen Zeitschriften geführt wird, aber auch auf openborders, keine wirklich konsistente Argumentation gibt. Auch Friedman, Reagan und Bush (sen.) argumentierten für eine Offene Grenze zu Mexiko und versprachen sich eine Unterschichtung der Arbeitsmärkte und die Deregulierung der Sozialsysteme. Bauder hält eher vorsichtig dagegen:

Open borders for capital and trade have caused displacement from rural lands and destroyed the livelihood of many people. Open borders for people may not solve the root problem of displacement and poverty, but it would alleviate some of the labour market and population pressures experienced as a result of globalization (S. 45).

Natürlich könnten offene Grenzen ohne die faktische Durchsetzung von Mindestlöhnen und die Stabilisierung der Sozialsysteme gravierend negative Folgen zeitigen. Bauder argumentiert, dass offene Grenzen die Gesellschaften des globalen Nordens sehr wohl verändern würden, aber nicht in existenziellem Maß (S. 40, Verweis auf eine Gallup-Umfrage 2016). In die BRD würden vielleicht 28 Millionen Menschen einreisen wollen, aber offene Grenzen würden ja auch die Rückkehr und Wiedereinreise dieser Menschen nicht verhindern. Ja, vieles würde sich verändern. Aber es wäre eine Chance. Bauder verweist darauf, dass geschlossene Grenzen ja relativ neu sind – die Migration über das Mittelmeer war bis in die 1970er Jahre offen und, ein anderes Beispiel, die Preußische Polizeiverordnung, sah bis 1932 keine Abschiebungen vor.

Bauder nimmt das Argument ernst, dass Open Border durchaus auch in eine Dystopie münden könnte: in eine Abwärtsspirale der Sozialstandards und der Löhne oder in einen Flickenteppich von Gated Communities, in denen sich die Reichen einigeln und von Wachdiensten beschützen lassen. Sein implizites Plädoyer ist, natürlich die Grenzen zu öffnen, aber diesen Schritt nicht als Lösung für die grundlegenden Probleme anzusehen. Die Ärmsten im globalen Süden könnten sich die Reise nicht leisten und offene Grenzen wären eine Brutstätte für deregulierte Arbeitsmärkte. Der Call for Open Borders enthält die Verpflichtung, der Entwicklung dieser Dystopien entgegenzuwirken.

Ich selbst habe Open Borders bislang eigentlich nicht als politisches Konzept verstanden, sondern als Ruf der Migrantinnen vor dem Zaun von Röszke und vor dem Tor in Idomeni. Harald Bauder würde mir zustimmen, dass dies der Call for Open Borders ist, aus dem sich die Verpflichtung zu allem Weiteren ergibt: Sichere Fluchtwege. Fähren über das Mittelmeer. Cities of Solidarity. Und auch die Sicherung sozialer Mindeststandards. All dies wären noch contingent possibilities, erste dringliche Schritte für die Durchsetzung gerechterer Verhältnisse. No Borders hingegen gehöre, so Bauder im 4. Kapitel, eher ins Reich der Possibilia – and cannot be seen from our current location.

Jus domicilii, Sanctuary Cities

Open Borders wären nicht denkbar ohne Anpassung des Aufenthaltsrechts. Im Rahmen der contingent possibilities plädiert Bauder für ein Citizenship denationalized (Bosniak), eine Bürgerschaft, die durch Präsenz am Aufenthaltsort begründet ist – und damit nicht durch deutsches Blut oder den Ort der Geburt.

Granting Citizenship based on the domicile principle would address many of the problems of political exclusion, labour exploitation, and human hardship that temporary and illegalized migrants face. With Citizenship, an important source of their vulnerability would be eradicated. Granted, migrants may still be in vulnerable positions … (discrimination, access to welfare, casts of migration) … However, the lack of formal citizenship would no longer be a reason for their criminalization, political and social exclusion, and economic exploitation (S. 89).

Es ist offenkundig, dass eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, zumal im gegenwärtigen europäischen Kontext, in überschaubaren Zeiträumen als nur schwer zu realisieren erscheint. Vielleicht könnte das Aufenthaltsrecht zunächst von der Staatsbürgerschaft entkoppelt werden, wie Bauböck es vorgeschlagen hat (S. 98), vielleicht könnte es als Urban Citizenship zur Angelegenheit der Städte und der Regionalverwaltungen werden. Und es könnte sein, dass die Politikverdrossenheit überall in Europa ja auch schneller als wir denken an einen Punkt führt, an dem eine andere Aufgabenteilung zwischen EU, den Nationalstaaten und den Städten zu neuen kommunalen Handlungsmöglichkeiten führt. Die meisten Weltstädte haben einen Anteil im Ausland geborener Bevölkerung von 35–40%, Brüssel hat 62%. Viele von ihnen haben keinen legalen Status.

Stadtluft macht frei – an diese historische Spur aus der Zeit, in der sich die Städte gegen die Übergriffe der Territorialfürsten zur Wehr zu setzen wussten, knüpft Bauder im 6. Kapitel an. Es geht dabei nicht zuerst um Utopien wie bei Lefebvre und Harvey, a city made up of free citizens, free from the devision of labour, social classes, and class struggles, making up a community, freely associated …, sondern zunächst um das, was in nächsten Schritten möglich ist, eben um contigent possibilities, sprich Sanctuary Cities. Bauder beschreibt die Proteste der mexikanischen Migrantinnen in den USA im Jahre 2006, in denen die Protestierenden sich zwar auf nationale Kategorien bezogen und „God Bless America“ skandierten, aber dennoch: these protests effectively mobilized cities as strategic locations (S. 101). In diesem Klima blühte auch das sanctuary city movement auf, das seine Wurzeln in der Unterstützung von amerikanischen deserters und mittelamerikanischen Kriegsflüchtigen hatte.

    The sanctuary city movement had a considerable impact in numerous cities across the USA. Baltimore, Chicago, San Francisco,and dozens of other cities have passed sanctuary legislation or implemented sanctuary policies. Sanctuary measures typically ban the use of municipal ressources to enforce federal immigration-related laws. For example, they can prohibit city employees from collecting and disseminating information on a person’s status, and ensure the delivery of municipal services independent of al local resident’s status or citizenship. With their focus on „presence“ in a city sanctuary politics effectively implement the domicile principle at the municipal scale. In most cases, sanctuary politics have been the result of tiereless activist campaigns that lobbied municipal governments and pressured local administrations to commit to creating an environment of hospitality for migrants and refugees. (S. 102)

Bauder beschreibt dann, wie sich die Bewegung nach Toronto ausweitete: der erste Schritt war eine DADT Kampagne: Don’t Ask, Don’t Tell, die sich an die Stadtverwaltung, die städtischen Dienstleister, die Schulen und die Polizei wendete. Die Kampagne begann 2004. Es bildete sich ein Solidarity City Network, das es durch Beharrlichkeit schließlich erreichte, dass der Toronto City Council die Stadt im Februar 2013 zur Sanctuary City erklärte. Auch wenn es in Europa unter den gegenwärtigen Bedingungen vielleicht schwieriger ist als in den USA und Kanada, sich solch einen Beschluss eines Stadtrats vorzustellen, so wäre doch eine Art DADT Kampange als Startpunkt vorstellbar. Und wenn es in unserer Stadt so weit kommt, werden wir Harald Bauder als Ehrengast einladen.

No Social Movement

Auf das 7. Kapitel, Right to the Future, möchte ich nur kurz eingehen. Es verweist zurück auf die Diskussion der Possibilia im 1. und im 4. Kapitel, auf die Möglichkeit der Überwindung überkommener sozialer und politischer Strukturen, und setzt damit einen Rahmen für das Spannungsfeld, in dem die contingent possibilities in einem schwebenden Zustand der Vorläufigkeit gehalten werden. Mir gefällt das. Die Diskussion von Identity und Belonging unter Bezug auf Marx und Harvey hätte vielleicht durch einen Blick in Manuel Castell’s Power of Identity oder besser noch durch die Beiziehung von Texten über soziale Bewegungen im globalen Kontext angereichert werden können (als erstes fällt mir dazu Asef Bayat ein, sodann Abdoumaliq Simone, neben vielen anderen – der Bezug auf die „Arbeiterklasse für sich“ wirkt schon ein wenig anachronistisch, ein Bezug auf die transnationalen Formen von Diaspora wäre vielleicht überzeugender). Die Passagen zu KMII als Keimzelle für Solidarformen lesen wir natürlich gern.

Damit sind wir bei dem Thema, was das Buch nicht ist: Es ist kein Buch über Migration und kein Buch über Freedom. Wer etwas über Migration lesen möchte, wird vielleicht lieber zu Dirk Hoerder’s Cultures in Contact greifen, und zu den europäischen Flüchtlingen im 20. Jahrhundert ist das Buch von Michael Marrus, Die Unerwünschten, ebenfalls aus Toronto, nach wie vor lesenswert. Freiheit indes, das ist ein Bereich der Possibilia (ich übernehme den Begriff gerne) und somit ein Bereich des Noch-Nicht-Denkbaren und der Praxis. Es ist gut, dass Bauder hier nicht ausufert. Herausgekommen ist ein wirklich gutes Buch über Open Borders und contingent possibilities. Es wäre toll, wenn viele Aktivistinnen und Studierende, aber auch kommunale Würdenträger und Politikerinnen es lesen würden. Eine Inspiration für anstehende Aufgaben.

W.B. 05.11.16

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