28. Februar 2015 · Kommentare deaktiviert für EU Abschreckung des Ertrinkenlassens funktioniert nicht – nzz · Kategorien: Mittelmeer · Tags: , , ,

nzz

„[…] Seltsamerweise erscheinen am Laufmeter Bücher wie «Der Afrika-Boom» oder «Afrika ist das neue Asien», und zugleich riskieren Tausende ihr Leben, um diesem boomenden Kontinent zu entkommen. Diese Desperados sind nicht naiv. Befragungen zeigen, dass sie mehrheitlich über die Risiken Bescheid wissen. Migration ist ein Prozess, der sich selber verstärkt. Emigranten ziehen weitere Emigranten nach. Es gibt Länder mit einer Migrationstradition, und es ist doch anzunehmen, dass sich dort die Wahrheit über Europa früher oder später herumspricht. Aber offenbar ist der Leidensdruck grösser. Es ist vor allem der Mangel an Perspektiven und Hoffnungen, der die jungen Ausbrecher deprimiert.

Sie nehmen enorme Strapazen auf sich und riskieren ihr Leben, wenn sie nur ein winziges Versprechen am Horizont sehen. Die jungen Afrikaner leben nicht sorglos im Hier und Jetzt, wie es das Klischee will. Auch sie wollen sich entfalten und vorwärtskommen. Aber alles bremst sie: Die Schulen und Universitäten sind marod, der öffentliche Verkehr, die ärztliche Versorgung, die Verwaltung sind ein Desaster, Arbeitsplätze kriegt man nur durch Beziehungen oder Schmiergeld, verdient man endlich etwas, muss man es verteilen, auch Heiraten kann man nur mit Geld, und überall herrschen Traditionalismus, Konformismus, Sexismus, Autoritarismus, Aberglauben. Trotz beeindruckenden Wachstumszahlen vieler afrikanischer Länder haben sich die Lebensbedingungen der meisten Bewohner nicht verbessert, aber die meisten Regierungen kümmert das kaum. Das ist der eigentliche Skandal am Flüchtlingsdrama vor Lampedusa. […]

Heute wagen mehr Flüchtlinge die Fahrt über das Mittelmeer als vor einem Jahr, als die Schiffbrüchigen dank der Aktion «Mare Nostrum» auch auf hoher See gerettet wurden. So zynisch es klingt: Man kann Flüchtlinge im Meer ertrinken lassen, Schlepper verhaften, zehn Meter hohe Zäune errichten, Migranten schon in der Sahara stoppen und in Auffanglager stecken, ihnen in Europa Arbeitsrecht und Sozialunterstützung verweigern oder auch nicht – das System von Abschreckung oder Anreiz versagt. Solange sich die Verhältnisse in den Herkunftsländern nicht grundlegend ändern, reisst der Zustrom nicht ab. Die Verwandtschaft wird weiterhin die Ersparnisse zusammenkratzen und denjenigen losschicken, der es am ehesten schaffen könnte. Afrika hat die grösste Migrationsrate der Welt. Schätzungsweise 35 Millionen Afrikaner leben ausserhalb ihres Heimatlandes. Und diese mobilen Millionen gehören eher zum dynamischen, mutigen Teil der Bevölkerung. […]

Man sage nicht, Afrika sei eben arm. Länder wie Nigeria oder Kongo-Kinshasa, aus denen viele Flüchtlinge kommen, verfügen über immense Reichtümer. Bloss sieht die Mehrheit der Bevölkerung nichts davon. Sowohl Präsident Goodluck Jonathan als auch Joseph Kabila sind vollauf damit beschäftigt, sich durch allerlei Tricks den nächsten Wahlsieg zu sichern. Für Probleme wie Boko Haram oder die jahrzehntelange Misere der Bevölkerung in Ostkongo bleibt dabei keine Zeit. Dafür ist das Ausland zuständig. Nein, Afrika ist nicht arm. Das Geld ist lediglich extrem ungerecht verteilt. Und diejenigen, die es haben, verschleudern es, anstatt im Land zu investieren, und verscheuchen noch diejenigen, die fähig und bereit wären, etwas für den Aufbau zu tun. […] Gibt es im Land keine Möglichkeit, mit der eigenen Energie etwas Sinnvolles anzufangen, überstrahlt eben die Versuchung der Emigration alles. Jeder Europäer würde in dieser Situation sein Glück auch woanders suchen.“

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