24. Februar 2015 · Kommentare deaktiviert für Frontex-Lager in der libyschen Sahara – nzz · Kategorien: Eritrea, Europa, Italien, Libyen · Tags: , ,

Die nzz (24.02.2015) deckt mithilfe eines eritreischen Flüchtlings Frontex-EU-Lager in Kufra auf – in der libyschen Wüste, fast 1.000 km von der Mittelmeerküste entfernt. Die nzz schreibt: „Das gottvergessene Kufra ist gewissermassen der äusserste Aussenposten Europas. Weil alle Flüchtlinge aus der Region zwangsläufig hier durch müssen, hat die Europäische Union, finanziert durch die Organisation Frontex und unter libyscher Kontrolle, Auffanglager aufgestellt. Oft werden Migranten hier monatelang festgehalten, einfach um sie schon lange vor Europa an der Weiterreise zu hindern.“ Die Flüchtlingslager in Kufra sind seit 10 Jahren bekannt und äußerst berüchtigt. Eine Frontex-Delegation hat sie auf einer „Technical Mission“ schon 2007 aufgesucht, und erste EU-Missionen in die Kufra-Lager datieren aus den Jahren 2005-2006. Dass die EU und Frontex die Lager in Kufra finanziell und in beratender Steuerung übernommen haben, ist neu.

vollständiger Artikel:

nzz

Unermessliches Nadelöhr aus Sand

David Signer seit sieben Jahren in der Schweiz, wo er Landsleuten bei der Integration hilft.

„[…] Im Café lässt er [eritreischer Flüchtling Samson Kidane, Basel] sich kurz erklären, worum es geht, sagt, er habe leider nur eine Stunde Zeit, und öffnet den mitgebrachten Laptop. Es erscheint eine Power-Point-Präsentation mit den Eckdaten zu Eritrea, dann folgen Landkarten und Fotos seiner Fluchtroute und eine Auflistung der häufigsten Probleme bei der Integration in Europa. In gepflegtem Deutsch geht er effizient und systematisch die wesentlichen Punkte durch. […]Wie alle jungen Leute wird er in Eritrea zum Militärdienst eingezogen. Militärdienst, das bedeutet in Eritrea unbefristete Fronarbeit. Die Unterbringung, der Hunger, die Krankheiten – es sind harte Bedingungen. Am schwierigsten ist aber wohl die Willkür zu ertragen. Weil der Dienst immer wieder verlängert werden kann, manchmal über mehr als zehn Jahre, ist es fast unmöglich, Pläne zu schmieden, Projekte zu verwirklichen, eine Familie zu gründen, etwas aufzubauen.

[…] Dann macht er den offiziellen Militärdienst, bis er aus politischen Gründen flüchtet. «Ich kann es bis heute nicht richtig fassen, wenn ich an die Wüste zurückdenke», sagt Kidane. Er überquert die Grenze zum Sudan bei der Grenzstadt Kessela. Das ist ein gefährliches Gebiet, weil immer wieder Flüchtlinge von sudanesischen Banden entführt und nur gegen ein hohes Lösegeld wieder freigelassen werden. Sogar das dortige Uno-Flüchtlingslager ist ein richtiges Jagdrevier für Kidnapper, die es vor allem auf Frauen abgesehen haben. […]

Aber er schafft es, diese Klippe zu umschiffen, und erreicht die sudanesische Hauptstadt Khartum. Er bleibt ein paar Monate dort, versucht umsonst, eine Arbeit zu finden. Als illegal Eingereister ist das schwierig. Sein Ziel, die libysche Hauptstadt Tripolis an der Küste, ist mehr als 2000 Kilometer entfernt. Zwischen den Städten liegt praktisch nur Niemandsland, fast menschenleere Wüste. Schliesslich findet er für viel Geld eine Mitfahrgelegenheit. Die Schlepper zwängen mehr als dreissig Personen auf einen Pick-up. Kidane muss aufpassen, dass er nicht erdrückt wird oder herunterfällt. Das Metall wird während der Fahrt so heiss, dass man sich nicht daran festhalten kann. Schliesslich überqueren sie die Grenze nach Libyen und gelangen in die Kufra-Oasen. Das gottvergessene Kufra ist gewissermassen der äusserste Aussenposten Europas. Weil alle Flüchtlinge aus der Region zwangsläufig hier durchmüssen, hat die Europäische Union, finanziert durch die Organisation Frontex und unter libyscher Kontrolle, Auffanglager aufgestellt. Oft werden Migranten hier monatelang festgehalten, einfach, um sie schon lange vor Europa an der Weiterreise zu hindern.Endlich geht die Fahrt weiter. Nun beginnt der schwierigste Teil. Es gibt keine Strassen mehr, oft verfahren sich die Schleuser und lassen die menschliche «Ware» einfach im Sand zurück. «Gegen Mittag steigt das Thermometer auf über fünfzig Grad, nachts wird es eisig kalt», sagt Kidane. «Kein Dorf, kein Tier, keine Pflanze. Gelegentlich sah man menschliche Gerippe im Sand. ‹Das sind eure Geschwister›, sagte der Fahrer.»Irgendwann kippt das Fahrzeug. Mehrere Passagiere brechen sich Beine und Arme. Aber an medizinische Hilfe ist nicht zu denken. Bald schon wird auch der Trinkwasservorrat knapp. Der Schlepper «streckt» das Wasser mit Benzin. «Einige brachten es nicht über sich, das zu trinken, und verdursteten. Andere tranken ihren eigenen Urin.»

Zurückgeschafft und betrogen

Schliesslich erreicht Kidane die libysche Küstenstadt Benghasi. In einem Lastwagen, zwischen Schachteln mit Gemüse versteckt, fahren sie in Richtung der Hauptstadt Tripolis. Es gibt mehrere Kontrollposten. An einem muss einer der blinden Passagiere niesen. Das verrät sie. Sie werden ins Gefängnis geworfen und zurück nach Kufra deportiert – in einem Container auf einem Lastwagen. «120 Flüchtlinge waren dort während 24 Stunden eingesperrt. Unter dem Eisen wurde es unerträglich heiss und wir kriegten kaum Luft», erzählt Kidane. «Einige verloren das Bewusstsein.»

In Kufra wird Kidane abermals inhaftiert und verbringt eine Woche in einer Zelle, zusammen mit 50 anderen Insassen. Der Polizeichef, der sie eigentlich nach Eritrea zurückführen sollte, verkauft sie für je 30 Dollar an einen Schlepper. Der knüpft ihnen je 200 Dollar ab und bringt sie zum zweiten Mal auf den Weg Richtung Norden.

Nach einer weiteren Odyssee kommt Kidane endlich in Tripolis an. Aber das Leben dort ist ein Spiessrutenlaufen. «Junge Libyer schlugen uns und verlangten Geld», so erinnert er sich. «Nachts schliefen wir manchmal in Kleidern und Schuhen, weil man dauernd mit Polizeikontrollen rechnen und davonrennen musste.» Wieder versucht er, einen Job zu ergattern, aber es ist hoffnungslos. Er bezahlt einen Schlepper für die Überfahrt nach Italien, aber der Mann verschwindet mit dem Geld. «Ich kannte einen, dem passierte das fünfmal», erzählt Kidane. «Er wurde verrückt.» Manche müssen jahrelang warten, bis sie den Absprung schaffen.

Die meisten Flüchtlinge durchqueren die Sahara im Winter, weil es dann kühler ist und man nicht so viel Wasser braucht. Die Weiterreise über das Mittelmeer in den kalten Monaten ist jedoch gefährlich. Also harrt Kidane in Tripolis bis zum Frühling aus.

Für 1200 Dollar findet er schliesslich eine Passage nach Sizilien. Das Himmelfahrtskommando dauert über fünfzig Stunden. Drei seiner Reisegefährten sterben. Er bleibt ein paar Tage in Syrakus, dann schlägt er sich nach Mailand durch. Eigentlich will er – wegen seiner Englischkenntnisse – nach London, aber das stellt sich als schwierig heraus. So landet er schliesslich in Basel und dann in Obwalden, wo er Asyl erhält. […]“

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