14. Februar 2015 · Kommentare deaktiviert für „Der Mann, der uns abschottet“ – ZEIT Online · Kategorien: Lesetipps · Tags:

Fabrice Leggeri

Fabrice Leggeri wacht als Frontex-Chef über die Grenzen der EU. Dort sterben Tausende Flüchtlinge. Wie lebt er damit?

von Philip Faigle und Caterina Lobenstein

Wenn Fabrice Leggeri das Sterben an Europas Grenzen sehen will, hat er es nicht weit. Er muss nur sein Büro verlassen, mit dem Aufzug zwei Stockwerke tiefer fahren, in einen kahlen Raum mit flachen Decken und braunem Teppichboden. Hier, im elften Stock eines Büroturmes im Zentrum von Warschau, flimmern Karten von Europa über Flachbildschirme. Sie sind übersät mit grünen Punkten. Dort, wo die Punkte liegen, an den Rändern von Bulgarien und Rumänien, vor den Küsten von Griechenland, Italien und Spanien, sind in den vergangenen Monaten Flüchtlinge aufgegriffen worden. Versteckt in Lastwagen und Containern, zusammengezwängt auf Schlauchbooten und hölzernen Kähnen. Viele von ihnen haben die EU nicht mehr lebend erreicht. Im Mittelmeer starben allein im vergangenen Jahr mehr als 3.400 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen.

Fabrice Leggeri ist 46 Jahre alt, ein höflicher, kleiner Mann mit leiser Stimme und gebücktem Gang. Leggeri ist der Direktor von Frontex, jener Behörde, die über die Außengrenzen der Europäischen Union wacht: 12.000 Kilometer an Land, 45.000 Kilometer auf See, gesichert durch Stacheldrahtzäune und Überwachungskameras, Hubschrauber und Spähflugzeuge. Leggeri ist der oberste Grenzschützer der Union, in seinen Händen laufen die Fäden zusammen, mit denen die EU die Migration zu regulieren versucht. In den nächsten fünf Jahren wird er den Einsatz der europäischen Grenzschutzbeamten steuern. Er wird Schleusern die Schmuggelrouten durchkreuzen. Er wird Flüchtlingen den Weg in die EU verbarrikadieren. Er wird die Abschottung Europas organisieren. „Migrantenjäger“ nennen Menschenrechtsaktivisten die Grenzschützer von Frontex. Sie machen die Behörde mitverantwortlich für das Sterben an Europas Grenzen. Und an der Spitze steht Leggeri.

Im Januar hat er seinen Posten bei Frontex angetreten. Jetzt sitzt er in seinem neuen Büro, einem hellen Raum mit haselnussbraunem Furnier, cremefarbenen Sesseln und Panoramablick über Warschau. Wie geht es ihm damit, an der Spitze der vielleicht umstrittensten Behörde der EU zu stehen? „Zu viele Menschen sterben auf dem Weg nach Europa“, sagt Leggeri. „Aber ich als Frontex-Direktor habe keine politische Aufgabe in dieser Frage. Ich setze nur die politischen Entscheidungen um.“

Für Leggeri ist Frontex keine Abschottungsorganisation, sondern ein Bollwerk gegen Menschenhändler und Schmuggler. „Wir schützen den Schengenraum vor Kriminellen“, sagt er. Immer höher sind die Zäune um die Europäische Union in den vergangenen Jahren geworden, immer schärfer wurden die Kameras an den Grenzen, immer schneller die Boote, die vor Europas Küsten patrouillieren. Und immer schwieriger wurde es für Flüchtlinge, europäischen Boden zu betreten, um Asyl zu beantragen. Was hält Leggeri von den gewaltigen Zäunen an den Grenzen zu Griechenland und Spanien, wo Flüchtlinge abgewiesen und geschlagen werden? Das sei Sache der EU-Mitgliedsstaaten, sagt er. Was soll passieren, wenn immer mehr Flüchtlinge aus Kriegsgebieten fliehen und in Europa vor verschlossenen Türen stehen? Das sei eine Entscheidung von Europas Politikern.

Leggeri ist kein Politiker, er ist ein Bürokrat. Sein halbes Leben hat er im Staatsdienst verbracht. Im Elsass ist er aufgewachsen, später studierte er in Paris Geschichte, an der École Nationale d’Administration, jener Kaderschmiede des französischen Beamtenapparats, die auch Frankreichs Präsident François Hollande durchlief und von der es oft heißt, sie produziere keine Persönlichkeiten, sondern Diener. Treue Diener des Staatsapparats. Fast 20 Jahre lang arbeitete Leggeri in der Verwaltung, für kleinere Kommunen, für das französische Innenministerium, die Europäische Kommission. Eine lautlose Beamtenkarriere, frei von Skandalen und Schlagzeilen. 2005, als Leggeri in einer nordfranzösischen Kommune seinen Dienst antrat, fragte ihn ein Lokaljournalist nach seinen Karriereplänen. Leggeri sagte damals, er habe nur einen Plan: so gut wie möglich dem Staat zu dienen.

Auch als oberster Grenzhüter der EU scheint Leggeri hinter seinem Amt zu verschwinden. Bittet man ihn um seine Meinung, antwortet er mit Floskeln. Fragt man ihn nach seiner Verantwortung, verweist er auf seine Dienstherren: „Die Verantwortung für die Grenzsicherung tragen die Nationalstaaten“, sagt er. „Wir koordinieren die Einsätze nur.“ Leggeris Sprache ist so steril wie sein Büro. Auf dem Schreibtisch steht eine angebrochene Plastikwasserflasche. Sie ist der einzige persönliche Gegenstand in diesem Raum.

Der Bürokrat Leggeri hält sich bedeckt. Der Mensch Leggeri hätte vermutlich viel zu erzählen über die humanitäre Katastrophe, die an den Rändern Europas zum Alltag geworden ist. Leggeri hat sich im Laufe seiner Karriere immer wieder mit Migration beschäftigt. Als er in den neunziger Jahren Beamter im französischen Innenministerium wurde, erlebte er, wie das Land über die harschen Einwanderungsgesetze der Rechten stritt. Als er Berater der Europäischen Kommission wurde, war er zuständig für die Gründung von Frontex, jener Agentur, die er heute leitet. Sogar den Namen Frontex – eine Abkürzung für frontières extérieures – hat er damals erfunden.

Die umstrittenen Push-back-Aktionen

Als er später in die Abteilung zur Eindämmung der illegalen Migration im französischen Innenministerium wechselte, erlebte er die wohl umstrittenste asylpolitische Entscheidung der Regierung Hollande: den Fall Leonarda. Das 15-jährige Roma-Mädchen Leonarda Dibrani wurde 2013 bei einem Schulausflug aufgegriffen und sollte zurück in den Kosovo geschickt werden – ohne seine Eltern. Tausende Franzosen zogen damals auf die Straße. Und Leggeri saß mittendrin im Apparat, der die Abschiebung veranlasst hatte.

Leggeris Vorgänger, der Finne Ilkka Laitinen, war Generalmajor beim finnischen Grenzschutz. Unter seiner Führung wurde Frontex zum Symbol für die Abschottungspolitik der EU. Frontex galt als intransparente Behörde. So undurchsichtig wie der verspiegelte Büroturm, in dem der Frontex-Chef über Warschau blickt. Mit Leggeri, glauben die Gegner der europäischen Flüchtlingspolitik, könnte Frontex zugänglicher werden für eine Politik, die nicht nur die Grenzen, sondern auch die Menschenrechte der Flüchtlinge besser schützt. „Ein Bürokrat ist besser als ein harter Hund“, sagt Ska Keller, die für die Grünen im Europaparlament sitzt. „Aber auch Bürokraten können blind werden für ihre Schuld. Korrektes Handeln schützt nicht vor Menschenrechtsverstößen.“ Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl setzt ähnliche Hoffnungen in den neuen Frontex-Direktor: „Leggeri scheint vom Duktus her die Sorgen von Menschenrechtsorganisationen ernster zu nehmen“, sagt Karl Kopp, Europareferent von Pro Asyl. „Aber es kommt jetzt darauf an, dass er den Worten auch Taten folgen lässt.“

Besonders umstritten waren in den letzten Jahren die sogenannten Push-back-Aktionen: illegale Operationen, bei denen Flüchtlinge von Grenzbeamten zurückgeschickt wurden, hinter den Zaun oder hinaus aufs Meer. Jeder Flüchtling hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Doch dafür muss er die EU erst einmal betreten – legal ist das für die meisten kaum möglich. Wer es schafft, auf EU-Territorium zu gelangen, darf Asyl beantragen, wer hilflos auf offener See treibt, muss gerettet werden. Erst wenn sein Asylantrag abgelehnt wird, dürfen die Behörden ihn wieder ausweisen.

Tatsächlich aber haben Grenzbeamte immer wieder gegen diese Rechte verstoßen. In der spanischen Exklave Ceuta schoss die Küstenwache mit Gummigeschossen auf Flüchtlinge, die versuchten, an Land zu schwimmen. In Griechenland sollen Grenzpolizisten mehrfach Flüchtlinge in Seenot aufs offene Meer zurückgedrängt haben. Zum Beispiel in der Nacht zum 20. Januar 2014. Damals starben vor der griechischen Insel Farmakonisi drei Frauen und acht Kinder aus Afghanistan, weil ihr Boot im Schlepptau der griechischen Küstenwache sank.

Frontex bestreitet, an solchen Push-back-Aktionen beteiligt zu sein. Doch Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl glauben das nicht. „Seit Jahren finden im Einsatzgebiet von Frontex im griechischen Grenzgebiet systematische Menschenrechtsverletzungen statt“, sagt Karl Kopp. Er erhofft sich vom neuen Frontex-Chef Leggeri, dass die Behörde in Zukunft noch genauer über die Einsätze Rechenschaft ablegt. „Bisher gibt es eine Verantwortungslücke“, sagt Kopp. „Wenn es hart auf hart kommt, schieben sich die nationalen Grenzschützer und Frontex gegenseitig den Schwarzen Peter zu.“

Fragt man Leggeri nach jener Nacht vor der griechischen Insel Farmakonisi, nach den Grenzbeamten, die nicht helfen wollten, und den Kindern und Frauen, die damals starben, wird seine Stimme plötzlich laut und fest. „Ich sage das ganz klar: Push-back-Aktionen verstoßen gegen EU-Recht, gegen internationales Recht und gegen die Menschenrechte“, sagt Leggeri. „Solche Aktionen darf es in Zukunft nicht geben und wird es nicht geben.“ Wie genau er dafür Sorge tragen will, das lässt er offen.

Nach einer Stunde Gespräch klopfen Leggeris Assistenten an die Tür. Der Direktor müsse zum Flughafen, sagen sie, das Taxi stehe bereit. Leggeri will an diesem Tag nach Sizilien fliegen, ein Dienstantrittsbesuch am Mittelmeer. Wenige Tage später, als Leggeri wieder zurück in der Warschauer Zentrale ist, werden in den Gewässern vor der italienischen Küste wieder Menschen sterben. Mindestens 29 Flüchtlinge erfrieren auf hoher See, in den meterhohen Wellen vor Lampedusa. Ihre Leichen werden an Land gebracht, aufgebahrt und mit Planen abgedeckt. Für die Angehörigen der Toten, für die Sanitäter auf den Rettungsbooten, für die Anwohner der Küstenstädte ist dieser Vorfall ein Drama. In der Frontex-Zentrale in Warschau, auf den Flachbildschirmen von Fabrice Leggeri, ist er lediglich ein kleiner grüner Punkt.

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