04. Januar 2015 · Kommentare deaktiviert für Alte und neu Peripherien der Festung Europa · Kategorien: FFM-Texte

von Helmut Dietrich

[Erstveröffentlichung 2002 unter dem Titel Vecchie e nuove periferie della „Fortezza Europa“ in: Derive Approdi Nr. 22, S. 96-100]

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1. Die großen Veränderungen
Dort, wo heute die Mercedes-Benz-Zentrale am Rande des neuerbauten Berliner Potsdamer Platzes steht, fand im letzten Jahr der Berliner Mauer einer der größten Märkte Europas statt. An die hunderttausend Menschen aus Mittel- und Osteuropa kamen bald jedes Wochenende mit den unterschiedlichsten Waren, die sich im Kofferraum eines Autos oder im Busgepäck transportieren ließen, und verwandelten das damalige Niemandsland in eine riesige Basarfläche. Sie hatten keine Tische dabei, als Ablage diente der Boden oder direkt die Autokarosserie. Die Wochenendnacht verbrachten sie in der Gegend im Freien oder in den Autos. “Polenmarkt” wurde diese Veranstaltung alsbald genannt, mit rassistischen Anspielungen auf alte Stereotypen.


Zwar kamen in der Tat viele aus Polen; für Westberlin galt noch keine Visapflicht für polnische Staatsangehörige, ebensowenig wie für rumänische und andere Staatsangehörige. Die KäuferInnen und Neugierige, die zu dem Basar kamen, waren zum allergrößten Teil BerlinerInnen: Deutsche und auch ansässige TürkInnen, JugoslawInnen und viele mehr. Es handelte sich also nicht um einen “Polenmarkt”, sondern um einen transnationalen informellen Platz.
Ende der 1980er Jahre enstanden mit der neuen Migration, die sich jenseits der Arbeitsmarktregulationen und Anwerbungen selbstbestimmt entwickelte, ähnliche transnationalen Plätze in Wien, Warschau, Budapest und an allen möglichen Landesgrenzen. Manche verkauften dort Fabrikwaren, die sie selbst in Großbetrieben hergestellt hatten. Da die Betriebe nicht mehr liquide waren, nahm man die Produkte einfach mit und setzte sie außerhalb der Fabriktore in Geld um. Andere nutzten die Währungsdisparitäten zwischen Ost und West, um Lebensmittel loszuwerden. Aber nicht nur ehemalige “Werktätige” machten sich zu den transnationalen Plätzen auf. Es kamen auch entlassene Orchestermusiker und Roma-Musikanten, Übernächtigte und bochbetagte völlig verarmte Leute an. Die transnationalen Plätze wurden zu Treffpunkten. Es ergaben sich Anknüpfungsmöglichkeiten für die nächsten Stationen der Migration.
Diese Orte möchte ich einleitend in Erinnerung rufen, denn sie verdeutlichen am besten, dass es sich bei dem Kollaps des sowjetisch dominierten Blocks und des Modells der nachholenden Entwicklung in den trikontinentalen Peripherien auch um einen Aufbruch handelte, um eine selbstgewählte neue Mobilität und um ein Verlangen nach transnationaler Veränderung. Menschen haben zu Abertausenden ihr Schicksal dadurch in die Hand zu nehmen versucht, dass sie kurzzeitig oder für länger einfach dorthin gegangen sind, wo sie Chancen für ein besseres Leben sahen.
In Berlin war es nur eine kurze Saison, in der es den staatlichen Verwaltungen und der Ökonomie nicht gelang, diese manifesten Aktivitäten zu instrumentalisieren oder niederzumachen. Schon in den frühen 1990er Jahren verschwand die ungesteuerte, freie Aktivität von MigrantInnen und Flüchtlinen in Berlin wieder in der Unsichtbarkeit.
Zunächst wurden diese Menschen in Berlin behördlich eingekreist. Rund um den Platz, der über die Woche verwaist war, zogen die Behörden eine Zaun. Die riesigen Wochenendversammlungen wichen in die benachbarten Stadtteile aus. Große Razzien konnte sich die Polizei nicht erlauben, zu brisant war die politische Gesamtsituation, und weder gab es damals einen Abschiebeknast für Tausende von Menschen in Berlin, noch waren die Behörden auf Massenabschiebungen vorbereitet, und weder Polen noch Rumänien hätten damals von einem Tag auf den anderen mehrere tausend Abgeschobene aufgenommen.
Schließlich rüstete die deutsche Regierung die Grenze gegen Flüchtlinge und MigrantInnen an der neuen Schengener Außengrenze zu Polen und der Tschechischen Republik auf und baute das Abschiebesystem umfassend aus. Damit machte sie den sichtbaren transnationalen Aktivitäten den Garaus. Aus der unkontrollierten Armutswirtschaft, die auf öffentlichen Plätzen stattfand, gingen die Sans Papiers hervor, die Klandestinen, die Geschleusten, die heimlich Reisenden.

2. Arbeitsziele und Forschungshypothesen
Doch kann man wirklich von einer “neuen” Migration sprechen, im Unterschied zu den Arbeitseinwanderungen der 1960er und 1970er Jahre? Bringen die heute Ankommenden grundsätzlich andere Erwartungen mit? Oder ist es nur die Aufnahmegesellschaft, die sich verändert hat, die den Neuankömmlingen nicht mehr den Arbeitsplatz in der Fabrik und die dazugehörigen Wohnbaracke zuweist, sondern sie buchstäblich draußen stehen lässt? Ist es vielleicht nur der politische Diskurs, der den Einwandernden heutzutage andere Veränderungspotentiale zuspricht – damals wurden sie als Ferment im “multinationalen Klassenkampf” begrüßt, heute sehen wir sie als Botschafter einer transnationalen gesellschaftlichen Selbsttätigkeit?
Wie immer man dies interpretieren mag, entscheidend scheint mir zu sein, dass sich die Orte der Realitätserkenntnis verändert haben. Waren es früher die Fabriktore, an der man die “multinationalen” und “bäuerlichen”ArbeiterInnen zu treffen versuchte, die sich nicht an die Fabrikdisziplin gewöhnen mochten, so könnten es heute die informellen Basare sowie die Treffpunkte von HausarbeiterInnen und prekären DienstleisterInnen und auch die Lager und Abschiebeknäste sein, zu denen man sich hinbegeben muss, wenn man etwas über die antagonisten Realitäten erfahren möchte.
Über die Jahrzehnte blieb auf jeden Fall ein Manko, dass der länderübegreifende Bogen an Migrationserfahrungen nur theoretisch begriffen wurde. Die militante Untersuchung fand in der Metropole statt. Den praktischen Erkenntniswegen und der militanten Initiative war es bisher nicht gelungen, an der Mobilität mit anzusetzen.
1994 gründeten wir in Berlin als überregionale Initiative die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM). Wir wollten den Flüchtlinen und MigrantInnen entgegen- und den Abgeschobenen hinterherfahren. Unser Ziel war, mit dazu beizutragen, dass die entstehende Festung Europa löchrig würde. Wir wollten an einer “underground railway” mitbauen, auf der die Menschen unkontrolliert reisen könnten, vor allem solche, die auf den üblichen heimlichen Wegen auf der Strecke blieben: Frauen und Kinder. Eine solche transnationale U-Bahn war nur denkbar, wenn sich unterschiedliche politisch aktive Strukturen hierzulande an dem Projekt beteiligen würden. Außerdem war es für uns persönlich ein Aufbruch in neue Länder, wir lernten dort Land und Leute, die politischen und sozialen Verhältnisse und die Transitsituationen kennen.
Für unsere Arbeit erhielten wir zwar kaum finanzielle, aber ansonsten eine relativ breite Unterstützung, auch aus den kritischen Wissenschaften und aus dem internationalen Spektrum. Damals befanden wir uns noch in der nicht enden wollenden Kohl-Ära, und es ließen sich durchaus unterschiedliche Kräfte in ein radikaloppositionelles Vorhaben bündeln. Ein Vorhaben, das die engagierte Forschung mit einem sozialpolitischen Aktivismus zu verbinden versuchte, gab es bislang auf dem Gebiet der Flüchtlingsunterstützung und –forschung nicht. Einige unserer Ausgangshypothesen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Wir gingen erstens davon aus, dass die Flüchtlinge und MigrantInnen der wichtigste Teil der transnationalen Bewegungen war, die die Welt veränderten. Seit dem Verschwinden der Blockkonfrontation und der militärischen Demarkationslinie zwischen Ost und West ergab sich auch für viele Menschen aus Afrika und Asien, ja sogar aus Mittel- und Südamerika die konkrete Möglichkeit, über die zerfallenden osteuropäischen Staaten nach Westeuropa unkontrolliert einzureisen. Der weltweite soziale Anspruch auf eine andere Welt, in der das Leben aller gesichert ist, äußert sich – so eine unserer Ausgangsthesen – in dem proletarischen Anspruch auf Mobilität und auf Teilhabe auch an dem westeuropäischen Reichtum. Die transnationalen Bewegungen lassen die Kampf- und Überlebenserfahrungen aus den Gecekondus und Favelas, aus den Hungerzonen Zentralafrikas und aus den Kriegsgebieten zirkulieren und etwas von dem entstehen, was wir früher “Weltproletariat” genannt haben. In dem Maße, wie sich ein antagonistisches, praktisches Wissen über die Grenzen der Akkumulationszentren hinweg konstitutiert, wird das Akkumulationsregime selbst angegriffen.
Zweitens wollten wir bewusst nicht zwischen Flüchtlingen und MigrantInnen klassifizierend unterscheiden, wie es bei den internationalen Organisationen, die für den Flüchtlingsschutz nach der Genfer Konvention arbeiten, und bei dem Mainstream der Migrationswissenschaften üblich ist. Auch die aufnehmenden Gesellschaften im Transit und die Durchreisenden wollten wir nicht in soziologischer Manier völlig voneinander trennen. Im Gegenteil stellten wir uns die Frage, wie Bündnisse und Vermischungen zwischen Transitflüchtlingen und verarmten mittel- und osteuropäischen Segmenten enstehen könnten. Würde sich in Mittel- und Osteuropa eine Gesellschaftsopposition gegen die EU-Hinterhofpolitik herausbilden, in der der migrationspolitische Cordon Sanitaire eine wichtige Rolle spielte?
Bei unserem Projekt haben wir uns drittens von der Frage leiten lassen, wie der hiesigen rassistischen Formierung Einhalt geboten werden könnte. Früher als in anderen westeuropäischen Ländern war in Deutschland die Einwanderung zum politisch-demagogischen Feld der Innenpolitik geworden. Die Bekämpfung der Flüchtlinge und MigrantInnen nutzte der Staat als Mittel zu seinem eigenen Umbau – ähnlich wie der Schengener Prozess zu einem der wichtigen Motoren der EU-europäischen Integration werden sollte. Wir wollten ausprobieren, ob es in einer solchen historisch neuen Situation nicht zu neuen oppositionellen Konstellationen und Bündnissen kommen könnte.
Manches von unserem FFM-Vorhaben ist gescheitert oder ließ sich nicht in dem erwünschten Ausmaß umsetzen. Zwar sind zahlreiche Einzelprojekte zur Unterstützung von papierlosen Flüchtlingen und MigrantInnen am Rande der FFM und natürlich auch völlig außerhalb davon entstanden, aber eine Zusammenfassung in einem großen “Railway”-Projekt ließ sich nicht realisieren. Zudem erwies sich die Hoffnung auf eine neue migrationsengagierte Opposition in Mittel- und Osteuropa als Illusion. Dennoch blieben unsere empirischen und investigativen Recherchen vor allem in den ostdeutschen Grenzgebieten und in den Abschiebeknästen und Lagern in Polen, der Tschechischen Republik, in Ungarn, Rumänien und der Ukraine nicht ohne Auswirkungen. Sie wurden zu einem wichtigen Bestandteil der mehrjährigen FFM-Arbeit, neben anderen FFM-Bereichen wie der kritischen Dokumentation der Kriminalisierung der Fluchthilfe und der Beförderung von Sans Papiers, oder dem Aufbau regionaler Kontaktnetze in den Grenzregionen sowie der Mitorganisierung von aktionsbetonten Grenzcamps.
Die folgende Skizze soll einen Einblick in die Osteuroparecherchen vermitteln und kann helfen, eine Antwort auf folgende bilanzierende Frage zu finden: War dieses Vorhaben zeitlich allzu eng an die historische Situation des Umbruchs Mitte der 1990er Jahre gebunden, oder kann man weitergehende Schlüsse aus diesen Erfahrungen ziehen, auch in Hinblick auf die derzeitigen “globalen” Vernetzungsversuche? Wenn man voraussetzt, dass die Verhältnisse in West- und Osteuropa durch Ungleichzeitigkeiten und durch unterschiedliche politische Konstellationen geprägt sind, dass also allein das Vorhandensein beispielsweise einer Indymediagemeinde in fast jedem Land noch nicht eine reale antagonistische Vereinheitlichung ausdrückt, so müsen wir uns fragen, wie eine Vernetzung zwischen ungleichen Verhältnissen aussehen kann. Diese Frage ist besonders virulent, wenn es sich um die Zusammenarbeit zwischen Gruppen im Zentrum und in den alten und neuen Peripherien handelt.

3. Wie entsteht die Kategorie der Flüchtlinge?
Wenige Monate nach Gründung der FFM quartierte ich mich für mehrere Wochen in einer Sozialsiedlung am Rande Bukarests ein. Ich war mit dem Auto unterwegs, eine längere Hotelunterkunft war sowieso nicht zu bezahlen, und einen “freien” Mietwohnungsmarkt wie im Westen gab es nicht. Wie in manchen anderen Nachbarstaaten hatte die rumänische Regierung kurz vor dem politischen Umbruch den Großteil der Wohnungen den darin Wohnenden übereignet. Überall in Osteuropa trafen MigrantInnen auf vergleichsweise einfache und gute Wohnmöglichkeiten, denn viele Wohneigentümer vermieteten notgedrungen einzelne Zimmer oder ganze Appartements und rückten selber enger zusammen. Dieses informelle Vermietungswesen sollte sich als das stabilste Hindernis gegen Denunziationen durch die ansässige Bevölkerung erweisen. Der Rassismus war seit 1990/1991 in Rumänien wie in seinen Nachbarstaaten vor allem gegen Roma stark angestiegen, von zahlreichen Übergriffen und regelrechten Pogromen wurde mir berichtet. Dagegen hielt sich der Rassismus gegenüber ausländischen Flüchtlingen und MigrantInnen in gewissen Grenzen, da die Bande der informellen Wirtschaft die Leute im Transit und ihre VermieterInnen offensichtlich zusammenhielten. – Kurzum, in Bukarest fand ich eine kleine Wohnung in einem Wohnblock. Ich brauchte eine erste Zeit, um zu begreifen, dass mich die Leute ringsum ohne Interesse oder mit zurückhaltender Freundlichkeit in ihre Umgebung aufnahmen und dass die heterogene und fluktuierende Belegung von Wohnungen in dem Block als ganz gewöhnlich galt.
Ein Jahr später fand ich in der Ukraine die These bestätigt, dass Transitreisende informell Unterkünfte finden konnten, während es gleichzeitig so gut wie keinen bezahlbaren “offiziellen” Wohnungsmarkt gab. Zeitweise kam ich in einem internationalen Studentenwohnheim unter, deren BewohnerInnen immer weniger einer studentischen und immer mehr einer transnationalen Armutsbevölkerung ähnelten.
Damals hatte die ukrainische Regierung erste Gesetze erlassen, mit denen sie die Flüchtlinge getrennt von der übrigen Wohnbevölkerung erfassen wollte, sie sollten im Gegenzug im Einzelfallverfahren legalisiert werden. Um die Schwierigkeiten zu verstehen, die bei der Umsetzung dieser Gesetze entstanden, muss man sich vor Augen halten, dass in der Ukraine das sowjetische Propiska-Wesen noch nicht abgeschafft war. Es handelt sich dabei um mehr als ein reines Meldewesen eines Landeseinwohneramts, denn es beinhaltete gewisse sozialstaatliche Garantien wie den Zugang zur Gesundheitsversorgung. In der Transitmigration passierte nun folgendes: Jemand vermietet beispielsweise einer afghanischen Familie mit fünfzehn Kindern seine Zweizimmerwohnung, vielleicht für 150 oder 100 Dollar, was in der Ukraine eine Menge Geld ist.
Dieser Vermieter wird sich trotz neuer Gesetze weigern, auch noch schriftlich zu bescheinigen, daß dieser Flüchtling seit vielleicht drei Jahren mit fünfzehn Personen in seiner Wohnung wohnt, denn die Rückmeldung würde ziemlich schnell an die Steuerbehörde gehen, und der Steuersatz läge dann zwischen 60 und 80%. Außerdem müßte er angeben, wie viele Personen dort leben. Die Gebühren für Abwasser, Heizung, Fernwärme – alles geht pauschal nach Personen pro Haushalt. Die Nebenkosten müßten für die ganze Zeit nachgezahlt werden, unterm Stich müßte der Vermieter mehr zahlen, als er in der ganzen Zeit eingenommen hat. Kein einziger Flüchtling, der halblegal in Kiev wohnte, meldete sich daher zur Legalisierung seines Status mit den erforderlichen Wohnungspapieren.
Die Flüchtlinge fürchteten sich sogar vor ihrer Legalisierung. Denn wenn ihre Wohnorte bekannt würden, dann müssten sie damit rechnen, dass die Polizisten sie nicht nur, wie damals üblich, auf der Straße anhalten und um fünf bis zehn Dollar pro Kontrolle berauben, sondern ihre Wohnungen überfallen würden.
Die Herausbildung einer bürokratisch definierten Schicht wie die der MigrantInnen und Flüchtlinge ist daran gebunden, dass die gesamte Bevölkerung in gewissem Maß kontrolltechnisch erfasst ist. Wenn allgemein Arbeit, Wohnung und Personenstatus nur als ungefähre Größen bekannt sind, stößt die administrative Erfassung von Flüchtlingen, MigrantInnen und anderen mobilen Armutsschichten schnell an institutionelle Grenzen. Anders als in den stark “verstaatlichten” Gesellschaften des Westens handelte es sich damals in Osteuropa um weitgehend “informelle” Gesellschaften: Das beschriebene Meldewesen stimmte nicht mit der Realität überein, denn ein großer Teil der Bevölkerung lebte anderswo als die Register angaben. Die Sozialversorgung, so es sie denn gab, erfolgte pauschal, die formale Arbeit, das Einkommen und die Nebeneinkünfte entsprachen in keiner Weise den Planziffern der alten Ökonomie oder der neuen Marktwirtschaft. Afrikanische und südamerikanische StudentInnen, die in Kiev und in anderen Städten zur Zeit der Sowjetunion angekommen waren, hatten ihre Stipendien verloren und bangten nun um ihre Wohnheimplätze. Viele von ihnen verwandelten sich in eine Art kommerzielle BeraterInnen für Menschen, die emigrieren oder weiterflüchten wollten. Anderen, die auf der Durchreise alles verloren hatten, blieb ebenfalls nur die Möglichkeit der kommerziellen Fluchthilfe, bis sie selbst die nötigen Gelder für die nächsten Grenzüberschreitungen zusammen hatten. Und wer Zigaretten und anderes auf den transnationalen Plätzen in Kiev oder Bukarest verkaufte, entwickelte dort zusammen mit Einheimischen oder Ferngereisten neue Existenzstrategien. An die hierzulande festbetonierten Kategorien von AsylantragstellerInnen, von Flüchtlingen mit Asyl und ohne, von Geduldeten und Aufenthaltsberechtigten aus humanitären Gründen, von Arbeitsberechtigten und denen ohne Arbeitsgenehmigung war damals in der Ukraine oder in Rumänien nicht zu denken.
Auf diesen Punkt der komplexen Überlebensstrategien konzentrierten sich zahlreiche Interviews, die ich in den Zeiten in jenen zentral- und osteuropäischen Ländern geführt habe, mit Leuten aus den unterschiedlichsten Ländern, Gesellschaftsschichten und Existenzweisen. Gleichzeitig gelangten die Kontrollvorhaben in den Blick, mit denen sich diese Staaten in einen Cordon Sanitaire Westeuropas verwandeln sollten – Vorhaben, die nicht allein in einer politischen Autonomie der zwischenstaatlichen Beziehungen artikuliert wurden, sondern auf eine Gesellschaftsveränderung “von oben” abzielten.
In dem Maße, wie die zentral- und osteuropäischen Staaten dazu übergingen, die “eigene” Bevökerung neu zu erfassen, durch neue Personalausweise und Pässe, durch die Neuregelung des Melde- und Sozialwesens, in dem Maße konnten sich die neuen Ausländerbürokratien etablieren und die Figur des “Ausländers”, des “Flüchtlings” und so weiter neu kreieren. Die bürokratische Separierung dieser Gruppen war eines der Indizien eines profunden Gesellschaftswandels.
Die Beobachtung und Analyse des Behördentransfers von West nach Ost, des Aufbau von Ausländer-, Asyl- und Abschiebeverwaltungen entwickelte sich deswegen zu einem der Schwerpunkte der FFM-Recherchen. Zum Teil waren es deutsche Behörden, die dabei Pate standen, zu nennen sind insbesondere das deutsche Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL), das mittlerweile über das umfangreichste europäische Archiv über Flüchtlinge und ihre Herkunftsländer verfügt, das die Asylentscheidungspraxis in vielen europäischen Ländern mitbestimmt und das die Verwaltungsstäbe anderer Staaten aus- und weiterbildet, sowie die einschlägigen Polizeiapparate (Bundesgrenzschutz, Bundeskriminalamt und die Landespolizeien). Einen weiteren Anteil an dem West-Ost-Transfer von Behörden und einer entsprechenden Gesellschaftspolitik haben die Schengen-Arbeitsgruppen, zu nennen sind hier der K.4-Ausschuss, sodann CIREFI und CIREA, die vor allem im Obskuren arbeiten, jenseits jeglicher parlamentarischen und öffentlichen Kontrolle, sowie internationale Organisationen, die sich in der Öffentlichkeit gerne den Mantel NGO-ähnlicher Einrichtungen umhängen.
In den frühen 1990er Jahren erfolgte der West-Ost-Transfer häufig bilateral. Die deutsche Bundesregierung finanzierte den Aufbau von Abschiebeknästen in Polen, der Tschechischen Republik und anderswo und schickte ihre Verwaltungsspezialisten ostwärts. Seit Mitte der 1990er Jahre ist eine EU-isierung zu beobachten. Das Modell der bilateralen Rückübernahmeverträge, der Institution des “Sicheren Drittstaats” und der Schengener ausländergesetzlichen Normen wird sowohl im Rat der Europäischen Union (“Dritte Säule”) wie bei der Kommission koordiniert und nach Osteuropa exportfähig gemacht. In den letzten Jahren kann man einen verstärkten Einfluss globaler internationaler Organisationen konstatieren. Zwei internationale Organisationen seien an dieser Stelle besonders hervorgehoben, die nach unseren Recherchen einen maßgeblich Anteil an der Formierung des osteuropäischen Cordon Sanitaire haben: die International Organization for Migration (IOM / OIM, Genf) und das International Centre for Migration Policies Development (ICMPD, Wien) haben die flüchtlingsfeindliche Aufrüstung der Grenzen in Osteuropa und die dortige Etablierung von Lagern und Abschiebebürokratien vorangetrieben. Diese Organisationen sammeln das internationale Know How der modernen Flüchtlingsbekämpfung. Sie versammeln nationalstaatliche Behörden, Komitees der EU und der Beitrittsländer, der USA und Australiens an Runden Tischen und auf migrationspolitischen Konferenzen (“Budapester Prozess” u.a.), jenseits der Parlamente und der allgemeinen Öffentlichkeit und erweisen sich als Träger der flüchtlingsfeindlichen Globalisierung, die wir dieser Tage erleben. Die Außengrenzen, die die USA, die EU und ihre Beitrittsländer und Australien umgeben, und die Lagerpolitik entwickeln sich zu einem einheitlichen Standard.
Die Recherchen in Zentral- und Osteuropa, die die FFM im Laufe der Jahre veröffentlich hat, sind im Rückblick nützliche Dokumentationen dafür, dass es sich bei der Sozialtechnik der Lager und Grenzen nicht um eine randständige Frage handelt, die nur wenige Prozent der Bevölkerung trifft. Die gesamte informelle Gesellschaftlichkeit ist davon betroffen. Dass Gesellschaften und Communities nicht steuerbar und nicht kontrollierbar sind, und dass die Migration diese selbständige Bewegung am deutlichsten verkörpert, scheint zur größten Herausforderung des Globalisierungsregimes zu werden.

4. Aktionsforschung
Mit den Recherchen ergab sich eine praktische Zusammenarbeit mit Einzelpersonen und kleinen Gruppen in Zentral- und Osteuropa, die sich üblicherweise in Nichtregierungsorganisationen (NGOs) engagieren. Die politische Form der NGOs stellte sich gerade in den Transformationsländern als sehr eine zweifelhafte Angelegenheit heraus. Viele flüchtlingspolitisch wichtige NGOs entstanden auf Initiative und in Abhängigkeit des UNHCR und der nationalstaatlichen Ausländerverwaltungen. Politisch hatten manche NGO-MitarbeiterInnen aufgrund ihrer Dissidentenvergangenheit Bekanntschaften und Loyalitäten bis direkt in die neuen Regierungsapparate hinein. In der Regel reichte das binnenpolitische Spektrum einer NGO von links bis rechts, und was die wirtschaftspolitische Ausrichtung angeht, fand sich jede Position von neoliberalen bis karitativen Ansätzen. Trotz dieser mannigfachen Handicaps und unserer Skepsis haben wir im Laufe der Jahre in wohl jedem der bereisten Länder Einzelpersonen gefunden, die für nichtkonforme Ideen und Aktionen aufgeschlossen waren. Mit ihrer Hilfe gelang es uns, in die neuen Abschiebelager zu kommen und zahlreiche Internierte zu interviewen.
Während in Deutschland in den frühen 1990er Jahren die Institution der Abschiebelager bereits etabliert war, konnten wir auf unseren Recherchen in Zentral- und Osteuropa von Lagern erfahren, die irregulär, extralegal und in der Öffentlichkeit unbekannt waren. Da diese Lager zugleich als Teil der so genannten “Sicheren Drittstaaten” eine wichtige Funktion für den flüchtlingspolitischen Cordon Sanitaire Westeuropas hatten, richteten wir unsere investigativen Recherchen auf diese Einrichtungen. Unsere Hoffnung war, dass eine kritische Öffentlichkeit zu dem Thema augenblicklich die repressive West-Ost-Kooperation unterminieren müsste und manche Abschiebehäftlinge dadurch befreit werden könnten.
Die meisten Abschiebungen aus Deutschland gingen Mitte der 1990er Jahre nach Rumänien. 1994 hatte die rumänische Fluggesellschaft TAROM, die diese Abschiebungen im Auftrag der deutschen Bundesregierungen geschäftsmäßig übernommen hatte, auf dem Flughafen Otopeni am Rande von Bukarest ein informelles Abschiebelager eingerichtet. Im März 1995 konnte ich mit einem rumänischen Menschenrechtsaktivisten die Gefangenen besuchen. Die Flüchtlinge waren zum Teil bereits bis auf westeuropäische Flughäfen gelangt, aber dort gesetzeswidrig am Aussteigen gehindert worden. Die Fluggesellschaft TAROM fürchtete die Carrier Sanctions, die Bussgelder für den Transport von visalosen Passagieren, und hielt im Einvernehmen mit den rumänischen Behörden Flüchtlinge in einem abgelegenen Teil des besagten Flughafens fest. Bei unserem Besuch befanden sich dort Iraker und KurdInnen aus dem Nordirak sowie aus der Türkei, sodann Flüchtlinge aus Burundi, Nigeria, Indien, Pakistan und China. Unter ihnen befand sich eine Frau, die nach einer Schussverletzung schwer erkrankt war, mit ihrem kleinen Kind. Sie war mehrmals zwischen Flughäfen verschiedener Länder hin- und hergeschoben worden.
Da Mitte der 1990er Jahre die Bestimmung des “Sicheren Drittstaats” in Deutschland durchaus noch umstritten war und Rumänien in aller Kürze keine legale Grundlage für dieses und weitere Lager würde herstellen können, gelang der FFM mit der Veröffentlichung der Interviews in Tageszeitungen und zum Teil als Filmdokumente im Fernsehen damit ein kleiner perspektivischer Durchbruch. Es konnte deutlich gemacht werden, dass die deutsche Regierung und ihre Abschiebebehörden für die entstehenden Lager in Osteuropa in dieser Phase hauptverantwortlich war. Die rumänische Regierung ließ einige der Gefangenen frei. Grundsätzlich gelang es aber nicht, die Abschaffung des Flughafenlagers durchzusetzen.
Eine weitere “engagierte” Recherche haben wir im Oktober 1996 mit einem jungen polnischen Aktivisten in drei Abschiebeknästen Polens unternommen. Damals gab es ungefähr 500 Ab­schiebehäftlinge in Polen. Die mit Geldern der deutschen Bundesregierung errichteten Polizeilager hatten einige Jahre leergestanden, weil der Oberste Gerichtshof die Institution als verfassungswidrig untersagt hatte, solange nicht die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen geschaffen wären. An zwei Tagen suchten wir 122 der 500 Gefangnen auf und machten Kurzinterviews mit ihnen. Die meisten stammten aus Pakistan, Sri Lanka und Indien. 21 von ihnen waren aus der Bundesrepublik nach Polen zurückgeschoben worden, obwohl die Nachweise fehlten, dass sie ihren Transit über Polen genommen hatten. Alle besuchten Häftlinge gingen aufgrund offizieller mündlicher Zusagen nach ihrer Festnahme davon aus, dass sie einen Asylantrag ge­stellt hatten. Wir fanden heraus, dass in den Abschiebeknästen aber nur sechs Personen als Asylantragsteller registriert waren. Kein Häftling konnte eine Bescheinigung der Registrierung seines Asylantrags vorlegen. Kein Häftling war sich über die Ort und Art der Haft im klaren und wusste etwas über die Wider­spruchsmöglichkeiten gegen die Haftanordnung.
Wir fassten die Ergebnisse in Kurzberichten zusammen und veröffentlichten sie mit prominenter politischer Unterstützung. Die meisten Abschiehäftlinge gelangten in der Folge in ein Asylverfahren, wurden deswegen freigelassung und zogen dann auf heimlichen Wegen weiter.
Die Aktionsrecherchen haben es möglich gemacht, über die Praktiken der Grenzpolizeien, der Rück- und Abschiebungen Details zu erfahren. Die Flüchtlinge, denen eine heimliche Wiedereinreise nach Westeuropa gelingt, stehen hierzulande verständlicherweise grundsätzlich für keine Interviews über frühere Abschiebungen zur Verfügung. Erst als wir ihnen, den Abgeschobenen, hinterhergereist sind, oder mit anderen Worten, als wir ihnen in die Zwischenzonen Zentral- und Osteuropas entgegengefahren sind, war die subjektive Dokumentation dessen möglich, was heutzutage “Außengrenze” heißt. Es ist die subjektive Perspektive nicht nur der Opfer, der Gefangenen und Abgedrängten, sondern auch die klare Perspektive der Überwindung dieser Außengrenze.

5. Vorläufige Bilanz
Vernetzung, so möchte ich resümieren, sollte sich nicht allein auf gleichgeartete Initiativen andernorts, rund um den Globus, beziehen, sondern vordringlich auf soziale Ungleichzeitigkeiten. Will man den Fehler anderer nicht wiederholen, die die eigene Partei mit der “Klasse” verwechselten und damit letztlich ein Herrschafts- und Elitenprogramm betrieben, so ist heute zum Ausgangspunkt zu machen, dass die Mehrheit der Menschheit außerhalb der Welt der Computer, der Kreditkarten und der legalen Reisewege lebt. Das Mittel der militanten Untersuchung ist neu zu entdecken und aufzuwerten.
Doch ist die Zeit vorbei, in der sich viele von uns auf die flüchtlingsfeindlichen Bollwerke konzentriert haben. Die Festung Europa ist löchrig, die Einwanderung findet statt, ob legal oder illegal. Die Lage zahlreicher Flüchtlinge ist weiterhin von staatsrassistischen Maßnahmen gekennzeichnet, die aus dem Arsenal des Notstands stammen. Doch viele Themen, nicht nur das der Wohnung, des Einkommens und der Gesundheit, kommen hinzu: Wie können Versuche eines neuen gesellschaftlichen Lebens aussehen – mobil, transnational, unkontrolliert und solidarisch?
Außerhalb der Welt der MigrantInnen und Flüchtlinge kann man feststellen, dass manche Maßnahmen, die der Staat an der separierten “Ausländer”-bevölkerung ausprobiert hat, nun übertragen werden. Die “Bewegung der Bewegungen” wird nach den Genua-Demonstrationen zum Gegenstand der Schengener Polizeipolitik. Die Vereinsüberwachungen werden mithilfe der “Sicherheitsgesetze” nach dem 11. September 2001 auch auf manche inländischen Assoziationen ausgedehnt. Und schließlich kann die Antikriegsbewegung es nicht bei dem Hissen weißer Laken und bei inländischen Latschdemos belassen, sondern hat den Kontakt zu JugoslawInnen, AlbanerInnen, AfghanInnen – und zu KurdInnen und IrakerInnen zu suchen. Eine Vermischung, eine widerspenstige Unübersichtlichkeit wird entstehen. Sie wird nicht so sehr durch Koordinationsbüros herzustellen sein, sondern dadurch, dass wir selbst unsere angestammten Felder und Vorstellungen von Politik verlassen und neu zu fragen lernen, wie die Lebens- und Widerstandsbedingungen auch jenseits der globalisierten Elektronikwelt aussehen.

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