Massenaktionen zur Überwindung der EU-Außengrenze nehmen in Marokko zu
Von Carla Höppner
Boukhalef ist ein Außenbezirk von Tanger. Hier sollten Ferienwohnungen für SpanierInnen entstehen. Die Fertigstellung ist jedoch bis auf Weiteres eingestellt. Es fehlt das Geld. In den Häusern leben nun MarokkanerInnen und MigrantInnen. Sie kommen vor allem aus dem Senegal und aus Kamerun.
Gemeinsam organisieren sie sich zum Schutz vor Repression. Tag und Nacht sitzt einer der alten marokkanischen Großväter an der Straßenecke. Der Respekt gegenüber dem Alter genügt oft schon, um potenziell Angreifende abzuhalten. Noch vor einigen Monaten gehörten hier polizeiliche Razzien zum Alltag. Die Polizei stürmte regelmäßig die Wohnungen der migrantischen Communities, trat die Türen ein, riss die Menschen nachts aus dem Schlaf, vertrieb sie brutal und räumte unter Schlägen die Wohnungen.
»Die Art und Weise wie die Polizei Migranten sieht, ist sehr schwierig. Sie sehen Afrikaner wie Sklaven. Die Leute hier müssen verstehen, dass wir nur Reisende sind«, so beschreibt Don King die Situation. »Wenn du die Grenze überqueren willst, ist es von Tanger aus, von dort kannst du am einfachsten rüberkommen. Wir suchen alle ein besseres Leben, wir wollen gehen und wir werden gehen.«
Immer öfter wird gemeinsam die Grenze überwunden
Wille, Wut und Solidarität führen zur täglich erfolgreicheren Überwindung der hoch militarisierten Grenze von Marokko und Spanien. Am 17. September 2013 klettern etwa 300 Flüchtlinge über den Zaun von Melilla. Über 100 schaffen es in das Stadtzentrum. Am gleichen Tag sind es in Ceuta 350 MigrantInnen, 92 können den Zaun über das Meer umschwimmen. Insgesamt 161 kommen in sechs Booten über das Meer nach Spanien. Zwölf Menschen ertrinken bei der Flucht, Hunderte sind schwer verletzt – durch Schläge und durch den Zaun.
Trotz heftiger Kritik hat sich der spanische Innenminister Jorge Fernández Díaz nicht davon abbringen lassen, den mit scharfen Klingen versehenen NATO-Draht im November 2013 erneut auf die Zäune installieren zu lassen. Erst 2007 waren sie aus »humanitären Gründen« abmontiert worden. Der Zaun um die spanische Enklave Ceuta soll zudem weiter ins Meer verlängert werden. Dafür sind alleine für 2014 Kosten in Höhe von 250.000 Euro veranschlagt. Und im Dezember 2013 verabschiedet das Europäische Parlament das Grenzüberwachungssystem Eurosur, wofür die EU bereits 250 Millionen Euro bereitgestellt hat. Durch Satelliten aus dem Weltall und Drohnen soll Eurosur die Zahl der Einreisen in die EU reduzieren.
Ganz im Gegensatz zur Logik der gesamten europäischen Politik verringert die Militarisierung der Grenzen nicht die Zahl der ankommenden Geflüchteten, sondern erhöht allein die Zahl der Toten und Verletzten. Über 20.000 Tote hat die EU bereits auf ihrem Gewissen. Dass die Zahlen trotz der teuren Militarisierung nicht sinken, zeigt ein Bericht der spanischen Menschenrechtsorganisation Asociación Pro Derechos Humanos (APDHA): Demnach erreichten 2012 6.992 Personen spanischen Boden, 2013 waren 7.550 über die Grenze von Marokko nach Spanien gekommen.
Auf dem Weg nach Europa verbringen viele Asylsuchende oft Jahre in Marokko, im Wald bei Ceuta, auf dem Berg Gurugú bei Melilla, in Tanger oder an den Orten, an die sie immer wieder von Polizei und Militär abgeschoben werden. Doch trotz der von der EU organisierten Abwehr von MigrantInnen erklimmen täglich Menschen die Zäune, steigen in Boote, verstecken sich in Lastwägen, die auf eine der Fähren gehen, oder rasen in Landrovern mit Vollgas an GrenzbeamtInnen vorbei.
Haben die Menschen die gefährlichen Überfahrten überlebt und betreten europäischen Boden, wird ein Großteil der angekommenen Geflüchteten von der Guardia Civil, Frontex, marokkanischem Militär, Küstenwache oder Polizei einfach wieder zurück nach Marokko befördert. Diese Praxis ist illegal. Spanische Behörden haben die Pflicht, die Schutzgesuche der Ankommenden zu prüfen. Die spanische Schiffsüberwachung hat 2013 in der Meerenge von Gibraltar 6.135 Boat People gezählt, unter ihnen 4.631 Flüchtlinge in Seenot. Über die Hälfte von ihnen wurden mithilfe der marokkanischen Küstenwache nach Marokko zurückgebracht.
Spanien und Marokko reagieren mit Gewalt
Der europäische Repressionsapparat ist in Spanien am stärksten ausgebaut. Schutz Suchende können gegen illegale Haft in Abschiebegefängnissen, Push-Backs, also das ungesetzliche Zurückdrängen von Flüchtlingen in Grenznähe, und illegalen Abschiebungen kaum vorgehen. In Marokko sind die von Europa ausgehenden Menschenrechtsverletzungen sichtbarer. Die extra dafür bezahlten Türsteher Europas machen die Drecksarbeit für ihre Nachbarinnen.
»Ich bin jetzt schon vier Jahre in Marokko«, erzählt Noir, ein Mann aus Kamerun. »Ich habe mein Land am 10. Januar 2010 verlassen. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich die Zäune attackiert habe. Ich habe es in Melilla versucht, in Ceuta und wieder in Melilla, mehr als zehn Mal. Und wenn ich reingekommen bin, hat mich die Guardia Civil gestoppt und zurück zu den Marokkanern geschoben.« Diese gängige Praxis ist illegal. Fast alle MigrantInnen, die über Marokko nach Europa reisen, erzählen von drei bis zehn Push-Backs, die sie erlebt haben.
Der Kampf der Geflüchteten geht weiter. Der Kampf ums Überleben in Marokko beinhaltet auch, einen Ort zu finden, an dem die Wunden der NATO-Draht-Klingen, die Schläge der Polizei, gebrochene Beine und Arme genesen können, an dem sich auf einen neuen Versuch die Grenze zu überqueren vorbereitet werden kann.
Den 4. Dezember 2013 wird wohl im Stadtteil Boukhalef niemand vergessen. Bei einer der regelmäßigen Polizeirazzien stirbt Cédric, ein junger Mann aus Kamerun. Nachdem die Polizei ihn durch ein Treppenhaus jagt, fällt er vom Dach eines fünfstöckigen Gebäudes. Innerhalb einer halben Stunde kommen Freunde und Bekannte zusammen. Unter Polizeischikanen und Anfeindungen marokkanischer BewohnerInnen tragen über 500 MigrantInnen den zertrümmerten Leichnam ihres Freundes in einer wütenden Demonstration durch die Stadt. Der Tod Cédrics verbunden mit der lautstarken Forderung, diese Todesfälle endlich zu stoppen, schlug Wellen in ganz Marokko. Seitdem haben die Polizeirazzien in den migrantischen Vierteln erheblich nachgelassen. Bis heute traut sich die Polizei in Uniform nicht nach Boukhalef.
Die Wut und die Entschlossenheit halten an. Seit Januar sind die gemeinsamen Versuche die EU-Zäune zu überwinden erfolgreicher und entschiedener als je zuvor. Bereits jetzt ist die Zahl der Menschen, die es nach Europa schaffen, doppelt so hoch, wie im Vorjahr, und das trotz Frontex und Eurosur.
Am 6. Februar 2014 gelingt es erneut 400 MigrantInnen, in Ceuta den EU-Zaun im Meer zu umschwimmen. Dabei werden sie sowohl von marokkanischer Polizei als auch von der Guardia Civil brutal attackiert. Unter anderem beschießt die Guardia Civil Schwimmende mit Tränengas und Gummigeschossen und fährt mit einem Boot über die Menschen im Wasser. Offiziell starben 17 Personen.
Ibraim, Noir und Amarou, Zeugen, die diese Attacke überlebten, berichten von mehr als 25 Toten. Es gibt immer noch viele Vermisste. 200 MigrantInnen erreichen an diesem Tag lebend den Strand, sie werden sofort festgenommen und illegaler Weise durch ein kleines Tor im Zaun nach Marokko zurückgeschoben.
Der spanische Innenminister erklärt, die Polizei hätte weder Gummigeschosse noch Tränengas eingesetzt. Doch Videos von der Aktion und Zeugenaussagen von Überlebenden entlarven diese Erklärung als dreiste Lüge. Es gibt Kundgebungen in mindestens elf spanischen Städten, in Tanger, Berlin und Amsterdam. Der öffentliche Druck hat Konsequenzen: Die Guardia Civil soll keine Gummigeschosse mehr auf MigrantInnen abfeuern dürfen, die Grenzpraxis unterliegt derzeit einer etwas stärkeren menschenrechtlichen Aufsicht.
Kooperationen über das Mittelmeer hinweg
Am 18. März versuchen über 1.000 MigrantInnen gemeinsam, den Zaun in Melilla zu überwinden. 500 Menschen schaffen es in das Stadtzentrum. Seitdem kommen in Marokko immer häufiger 1.000 bis 1.500 Geflüchtete zusammen, um gemeinsam die Grenze nach Europa zu überwinden. Oft werden sie brutal vom Militär zurückgestoßen, aber ebenso oft erreichen sie auch ihr Ziel. Die solidarische Organisation der MigrantInnen in Marokko nimmt stetig weiter zu. Am 3. April bleiben bei einer Zaunaktion 25 Personen bis zu zehn Stunden oben auf dem Zaun von Melilla sitzen. Parallel fanden direkt am Zaun Protestkundgebungen statt, in denen der sofortige Stopp des unsinnigen Sterbens an der Grenze gefordert wurde.
Amarou, der seit Anfang des Jahres durch ein neues Gesetz in Marokko Papiere und eine Arbeitserlaubnis bekommen hat, meint: »Wir wollen eine politische Karawane zum Zaun organisieren. Ich rede mit allen Leuten darüber, das ist der Anfang.« Und Noir und seine Freunde überlegen, was solidarische Gruppen in Marokko und Europa unternehmen können. »Alles was ich fordern kann von Leuten, die Migranten unterstützen wollen, ist, dass sie alle diese Szenen filmen, wenn Migranten ihre Chance wagen. So könnt ihr die Wahrheit sehen, denn die marokkanische und spanische Polizei sagt nicht die Wahrheit.«
Inzwischen hat die Vernetzung begonnen, um die blutigen Geschehnisse an der spanisch-marokkanischen Grenze zu dokumentieren. Organisationen in Marokko wie AMDH (Marokkanische Vereinigung der Menschenrechte) oder CMSM (Rat der subsaharischen MigrantInnen in Marokko) haben sich mit der Plattform Protection Migrants zusammengeschlossen, um öffentlichen Druck auf die marokkanischen Behörden auszuüben. Bei einer Pressekonferenz am 15. April in Rabat forderen sie, die Gewalt an den Grenzen zu beenden.
Die aus europäischen AktivistInnen bestehende Gruppe No Borders Morocco hat sich zum Ziel gesetzt, eine Vernetzung an der europäischen Außengrenze in Marokko aufzubauen. Auf der Plattform Watch the Med (watchthemed.net) können MigrantInnen Rechtsverletzungen auf See melden. Das aus migrantischen und europäischen AktivistInnen bestehende netzwerk Welcome to Europe stellt auf der gemeinsamen Webseite www.w2eu.info Informationen für MigrantInnen auf ihrem Weg nach und durch Europa zusammen.
Vor wenigen Tagen ging in Tanger der Blog Sexion Doundou an den Start. Darin publizieren MigrantInnen in Marokko ihre Geschichten auf Englisch, Französisch und Spanisch. Doundou heißt Leben auf Wolof, das im Senegal und in Gambia gesprochen wird.
»Vielleicht öffnen sich die Grenzen irgendwann, aber das wird nicht heute passieren«, so Don King, der auf dem Blog schreibt. »Die Welt muss sich zuerst noch weiterentwickeln. »Aber wir haben die Hoffnung, dass die junge Generation, jene sein wird, die die Welt mischt und die Grenzen öffnen wird. Das ist, was ich über die Dinge denke: keine Grenzen. Mehr und mehr Menschen fangen an, sich über das Grenzsystem zu beschweren. Das war vorher nicht so. Und jetzt kämpfen Leute gegen die Probleme an den Grenzen. Und sie machen weiter und werden mehr.«