09. Juni 2014 · Kommentare deaktiviert für „Sie riskieren alles für die Freizügigkeit“ – Zeit Online · Kategorien: Deutschland, Europa, Frankreich · Tags: , ,

Flüchtlinge und ihre Unterstützer wandern aus Protest gegen Europas Asylpolitik nach Brüssel. Nicht-EU-Bürger ohne Papiere riskieren dabei ihre Abschiebung.

von Anne-Sophie Balzer | ZEIT Online

Kadar lacht und stößt die Luft durch die Zähne. „Pff, this is like holiday to me. I survived the Sahara!“ Wir laufen nebeneinander auf einem Feldweg, der die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich markiert. Deutschland, Frankreich, Deutschland, Frankreich, wir hüpfen hin und her und betreiben Länderhopping. Für mich kein Problem, ich bin Deutsche und damit Europäerin. Für Kadar ein waghalsiges Unterfangen.

20 Kilometer unserer Tagestour von Merzig nach Perl im Saarland sind schon geschafft, fünf Kilometer liegen noch vor uns. Kadar, der aus Mogadischu in Somalia kommt, kaum 20 Jahre alt ist und für seine Reise nach Deutschland mehr als ein Jahr lang und oftmals zu Fuß durch Äthiopien, den Sudan, Libyen, Tunesien und Marokko unterwegs war, ist kein bisschen müde.

Es ist der „Marsch für die Freiheit“, der hier auf dem Grenzweg zwischen Frankreich und Deutschland entlangzieht. Am 18. Mai brachen etwa 100 Menschen in Straßburg auf, um durch Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Belgien nach Brüssel zu wandern, 450 Kilometer weit. Initiiert wurde der Marsch von den Flüchtlingen und Aktivisten des Flüchtlingslagers am Berliner Oranienplatz, Unterstützung kam jedoch aus vielen deutschen Städten.

Zwischen Weizenfeldern und Kuhweiden könnten sie als Wandergruppe beim Betriebsausflug durchgehen. Protestbanner, Pappschilder und Flyer sind im Rucksack verstaut. Freedom, not Frontex, steht darauf, zum Beispiel. Sobald aber das nächste Ortsschild und die ersten Häuser in Sichtweite sind, macht die kleine Karawane Lärm: „Um Europa keine Mauer, Bleiberecht und das auf Dauer!“, singt sie. Hinter den Fenstern wackeln die Gardinen. An den Straßen hängen noch NPD-Wahlplakate. Kadar singt, so laut er kann.

In Perl im Saarland übernachtet die Gruppe. Zwei Kilometer sind es noch von hier nach Schengen im südlichsten Zipfel Luxemburgs. Schengen ist ein symbolischer Ort, er steht für Öffnung. Dort wurde 1985 das erste von mehreren Abkommen zur Abschaffung stationärer Grenzkontrollen innerhalb der EU unterzeichnet. Kein anderer Name steht für fallende Grenzen wie Schengen.

Allerdings ging die Abschaffung der Binnengrenzen mit einer Aufrüstung der EU-Außengrenzen einher. Schengen bedeutet Freiheit im Inneren und Abschottung nach außen. An Institutionen wie Frontex  geht viel EU-Geld, damit diese mit Hilfe von Satellitensuchsystemen, Drohnen, Sensoren und Wärmebildkameras Geflüchtete zu Land und zu Wasser daran hindern, die Grenzen zu passieren.

Wenn man eine leise Ahnung davon entwickeln will, was es bedeutet, Flüchtling zu sein, bietet es sich an, genau das mit ihnen zu tun: Grenzen zu überqueren. Deshalb laufe ich mit, drei Tage lang. Die Gruppe setzt sich aus Refugees – der Begriff ist selbstgewählt und bezeichnet Flüchtlinge, Migranten, Papierlose und Asylsuchende – und den sogenannten Supportern zusammen. Zu letzteren gehören Aktivisten und Leute, die gerne „gratis ein bisschen politischen Urlaub“ machen wollen; so drückt es eine Aktivistin aus.

Es ist eine Gruppe, die vieles eint, aber auch einiges trennt. Nach dem Abendessen beispielsweise spielt eine Gruppe von Refugees Fußball, an den großen Spülbecken waschen Supporter derweil das Geschirr ab. Während die Unterstützer in Workshops darüber sprechen, wie ein sensibler Umgang mit den eigenen weißen Privilegien gefunden werden kann und man zu einem sogenannten good white ally wird, ärgern sich einige Refugees, dass die Küche vegan und fleischlos kocht.

Was Refugees und Supporter vor allem unterscheidet, sind aber die Voraussetzungen, unter denen sie leben. Dass die Zahl der nicht direkt betroffenen Protest-Wanderer die der anderen übersteigt, hat damit zu tun. Ich zum Beispiel kann wandern und reisen, mir tun höchstens abends die Füße weh. Wenn aber Kadar mit seinen bunten Sneakers auf der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland hin und her hüpft, übertritt er Gesetze. Manche der Refugees haben keinerlei Papiere, viele von ihnen können nur ein paar Tage mitwandern, weil sie sich um ihren Aufenthaltsstatus sorgen oder sich ihr Geld zum Leben regelmäßig und direkt bei den Behörden abholen müssen. Denn jeder Flüchtling in Deutschland unterliegt der Residenzpflicht. Die Übertretung schon der Bundeslandgrenze ist eine Straftat und kann mit Geldstrafen, Gefängnis und im Wiederholungsfall mit Abschiebung bestraft werden. Manche Supporter haben aus Solidarität Personalausweise und Reisepässe zu Hause gelassen. Aber das Risiko ist nicht vergleichbar. In ihrem Fall ist es nur eine Ordnungswidrigkeit.

Omar aus dem Sudan zum Beispiel müsste jetzt eigentlich in Niedersachsen in seiner Wohnung sitzen. Seit zwei Jahren lebt er in Deutschland, sein Aufenthaltsstatus wird zweimal im Jahr überprüft. „Das Schlimmste ist die Unsicherheit, dass man nicht weiß, wie lang man bleiben darf“, sagt er. Arbeiten darf er nicht. Er lacht viel, auf dem Marsch gehe es ihm gut, sagt er. Aber er seufzt, als er von seiner Nachbarin erzählt, die ihn am Anfang nicht einmal gegrüßt habe und deren Gras er nun regelmäßig mähe und auf deren Katze er aufpasse. „Wir haben den ganzen Tag nichts zu tun. Wir sitzen nur und warten. Wir essen, wir schlafen, das ist mein Leben.“

Perl am nächsten Morgen. An diesem Tag will die Gruppe die luxemburgische Grenze passieren. Alle schreiben sich die Nummern von zuständigen Anwälten auf Arme und Hände, für den Fall, dass jemand verhaftet werden sollte. Es gibt ein Auto, das diejenigen schnell wegbringen soll, die Angst bekommen. Unten an der Mosel, die die Grenze zu Luxemburg markiert, hält die Gruppe eine Pressekonferenz ab. Ein paar Lokaljournalisten stehen zwischen den Parolen singenden Menschen und halten sich an ihren Aufnahmegeräten und Notizbüchern fest. Eine Neuformulierung des Schengen-Abkommens wird verlesen. Die Verfasser fordern Asyl für alle politisch und religiös Verfolgten, die Öffnung der EU-Außengrenzen, ein Ende der illegalen Abschiebungen und des sogenannten Racial Profilings. Sie wollen Schengen für alle.

Während die Karawane über die Brücke und hinüber nach Luxemburg läuft, überqueren einige Refugees in einem symbolischen Akt den Grenzfluss mit einem Schlauchboot. Statt 120 Menschen wie bei den Mittelmeerüberfahrten sitzen nur 15 Personen im Boot, manche von ihnen sind tatsächlich auf diesem Weg nach Europa gekommen. In der Mitte des Flusses unterzeichnen sie ihren Schengen-Vertrag, wie es im Jahr 1985 EU-Politiker auf einem Mosel-Ausflugsschiff taten. In Gedenken an die vielen ertrunkenen Geflüchteten springen die Refugees ins Wasser, um zum Ufer zu schwimmen.

„I am the lucky one, Gott sei Dank“

Trésor ist einer von ihnen. Er ist erst vor einigen Wochen nach Deutschland gekommen und einer derjenigen, die es geschafft haben, hohe Stacheldrahtzäune an den Grenzen der spanischen Enklave Melilla zu überwinden, den Gummigeschossen der Wachleute auszuweichen und von Spanien weiter nach Deutschland zu reisen. Auch Abdi hat eine solche Odyssee hinter sich. Mit einem gefälschten Pass reiste er aus Somalia in die EU ein. In seiner Heimat herrscht die al-Shabaab-Miliz, ein sicheres Leben war für ihn dort nicht mehr möglich. Seit eineinhalb Jahren lebt er nun in Hanau in einem Lager, er würde gern studieren und Ingenieur werden, bislang aber muss er mit einem Deutschkurs zufrieden sein. „You have to make a decision„, sagt er, „du musst eine Entscheidung treffen“. Er habe sich fürs Überleben entschieden. „I am the lucky one, Gott sei Dank.“ Sich auf Deutsch bei Gott zu bedanken, hat Abdi schnell gelernt.

Nachtrag: Als ich die Gruppe verlasse, ist die Stimmung ausgelassen. Unermüdlich sind Refugees und Supporter von Haus zu Haus gelaufen und haben noch dem unfreundlichsten Menschen erklärt, was diese laute Truppe macht und wozu das gut sei. Zwei Radfahrer haben an Ort und Stelle eine nicht unerhebliche Summe Geld gespendet. Am nächsten Tag wird die Gruppe weiterziehen, über Luxemburg-Stadt nach Brüssel. In Luxemburg, wo die EU-Innenminister unter anderem über Maßnahmen beraten, wie Europa auf den wachsenden Strom illegal einreisender Flüchtlinge reagieren kann, kommt es am Donnerstag zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei, die von beiden Seiten unterschiedlich dargestellt wird; die Polizei klagt über Gewalt seitens der Demonstranten, die Demonstranten klagen über Gewalt seitens der Polizei. Pfefferspray kommt zum Einsatz, und es gibt Festnahmen, darin stimmen die Angaben überein.

Die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström derweil fordert von den Mitgliedsstaaten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen legale Möglichkeiten zur Einreise anzubieten.

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