09. Februar 2014 · Kommentare deaktiviert für Italien, Abschiebeknast: Boat-people nähen sich Münder zu · Kategorien: Italien · Tags: ,

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„Flüchtlinge in Italien Im Käfig gefangen

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Im Auffanglager am Stadtrand von Rom warten Flüchtlinge auf ihre Abschiebung. Aus Protest gegen ihre ausweglose Lage nähen sich 13 Marokkaner die Münder zu.

Sie haben sich die Münder zugenäht. 13 junge Männer, vor Monaten gelandet auf der Insel Lampedusa. Sieben von ihnen haben es sogar schon zum zweiten Mal getan: Mit einer Nadel haben sie sich das weiche, empfindsame Fleisch ober- und unterhalb der Lippen durchstochen und dann haben sie Stofffäden aus ihren Wolldecken durch die blutenden Löcher gezogen. Wie verzweifelt muss man dafür sein? Nun liegen sie auf ihren schmalen Betten, die Münder geschwollen, die Augen klein und gerötet, die Körper geschwächt. Fast eine Woche schon sind die 13 jungen Marokkaner im Hungerstreik.

Die Nachricht über ihre Aktion wurde international verbreitet, denn Italien steht wegen seines Umgangs mit illegal Eingewanderten in der Kritik. „Aus Protest gegen die schleppende Bearbeitung ihrer Fälle haben 13 Insassen eines italienischen Auffanglagers bei Rom zu drastischen Mitteln gegriffen“, meldete die Nachrichtenagentur AFP in Deutschland. Mit überfüllten Booten seien sie aus Libyen nach Lampedusa gekommen, nun prangerten sie ihre langfristige Unterbringung in dem Auffanglager an, in dem sie eigentlich nur kurze Zeit hätten unterkommen sollen. Erst vor Weihnachten, dann erneut Ende Januar, nähten sie sich die Münder zu und hörten auf zu essen.

Auf eine Genehmigung, das Lager zu besichtigen, muss man als Journalist mehrere Wochen warten. Als die Erlaubnis kommt, läuft schon der zweite Protest der Marokkaner im „Zentrum für Identifikation und Ausweisung“, in italienischer Abkürzung CIE, am Stadtrand von Rom. Wie sich herausstellt, ist der Begriff Auffanglager völlig irreführend. Das CIE Ponte Galeria liegt kurz vor dem Flughafen Fiumicino, in einem wüsten Niemandsland, umgeben von hohen grauen Mauern. Kameras bewachen das Eingangstor, in der Anlage patrouillieren Polizisten. In Deutschland würde man von einem Abschiebegefängnis sprechen und von den Insassen als Abschiebehäftlingen.

An diesem Tag haben auch vier Parlamentsabgeordnete der kleinen Partei „Linke Ökologie, Freiheit“, Flüchtlingsaktivisten und ein Kamerateam die Genehmigung erhalten, die hungerstreikenden Marokkaner in Augenschein zu nehmen. Der Weg zu ihnen führt durch viele Tore, Metallzäune und eine Art Käfigsystem unter freiem Himmel, in dem Männer in Jogginghosen und Plastiklatschen durch den Regen schlurfen oder einfach nur herumstehen. Schließlich betritt der Besuchertrupp zögernd den kahlen Raum, in dem die Marokkaner auf ihren im Fliesenboden verschraubten Metallbetten liegen. Es ist stickig und dunkel. Da die Männer mit den zugenähten geschwollenen Lippen nicht reden können, treten zwei Landsleute als Sprecher auf.

„Sehen Sie nur, das ist schlimmer als ein Gefängnis hier, nein, sogar schlimmer als ein Konzentrationslager“, ruft der eine, der sich Lassad nennt, „es ist eine Hölle.“ Er deutet auf die schmutzigen Wände, die hinter den Betten gestapelten Klopapierrollen, die als Heizung dienende, schwarz-verkohlte Klimaanlage, die halb aus der Wand hängt. Seine Augen blitzen vor Wut, seine Stimme überschlägt sich. „Das sind gut ausgebildete junge Männer, keiner älter als dreißig, sie haben nie eine Straftat begangen. Sie wären eigentlich ein Gewinn für Italien“, schreit er. „Aber sie werden hier eingesperrt wie Tiere und wissen nicht, was mit ihnen passieren wird.“ […]

Die Männer in den Betten fangen an zu weinen, Lassad wird noch lauter. „Unsere einzige Schuld ist die, auf der falschen Seite des Mittelmeers geboren zu sein“, schreit er, „alle reden über Globalisierung. Aber stattdessen – Mauern, Mauern, wohin man schaut.“ Die Besucher schauen betroffen zu. […]

Seit am 3. Oktober hunderte Flüchtlinge vor Lampedusa ertranken, weil ihr Boot sank und keiner zu Hilfe kam, und seit ein Video zeigte, wie Insassen des überfüllten Flüchtlingslagers der Insel nackt mit Desinfektionsmittel abgespritzt wurden, steht Italien unter Beobachtung. Der Fall der 13 Marokkaner, die nur wenige Tage nach der Tragödie in Lampedusa angekommen waren, scheint auf den ersten Blick ein weiteres Beispiel für den unwürdigen Umgang mit Menschen, die das Mittelmeer überqueren in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch es stellt sich heraus, dass die jungen Männer wohl in jedem anderen EU-Land ähnlich behandelt würden.

„Was sollen wir denn machen?“, fragt Silvia Agostini, die von der Präfektur abgestellte Polizei-Verantwortliche für Ponte Galeria. „Menschlich gesehen sind wir doch alle solidarisch mit ihnen. Aber wenn jemand nicht das Recht hat in Italien zu bleiben, dann muss er gehen.“ Die Mittfünfzigerin sitzt in einer Baracke in einem kargen Büro, dessen Wände sie mit Kinderzeichnungen geschmückt hat.

Die Marokkaner seien illegal nach Italien eingereist, sagt die Polizistin, und hatten keine Dokumente. „Hätten sie sofort um Asyl gebeten, wären sie in ein Flüchtlingslager gekommen.“ Aber das taten sie nicht. So landeten sie in Ponte Galeria, wo man mit Hilfe des marokkanischen Konsulats versucht, ihre Identität festzustellen. Denn wer abgeschoben werden soll, braucht erst einmal gültige Papiere. „Das ist eine ganz normale Vorgehensweise, wie sie in anderen EU-Ländern auch praktiziert wird“, betont Silvia Agostini, „auch in Deutschland“.

Das stimmt, wie Experten und auch Flüchtlingsaktivisten bestätigen. Auch in Deutschland werden Ausländer in solchen Fällen abgeschoben. Anders ist in Italien nur, dass die Abschiebehaft nicht Haft heißt. Und dass die Insassen des CIE Ponte Galeria nicht Häftlinge genannt werden, sondern offiziell „Festgehaltene“ oder gar „Gäste“ heißen.

Die Marokkaner, erzählt Silvia Agostini, seien erst im Abschiebelager auf die Idee gekommen, Asyl zu beantragen. Nun muss geprüft werden, ob sie Anspruch darauf haben. Das kann dauern. „Klar ist, dass die Chancen für Marokkaner gering sind“, sagt Silvia Agostini und fügt vorsichtig hinzu: „Wir wissen doch alle, dass das Wirtschaftsflüchtlinge sind.“

So kommt es, dass die jungen Männer seit vier Monaten in einem Gefängnis leben, obwohl sie sich außer der illegalen Einreise nichts haben zuschulden kommen lassen. Irgendwann hörten sie, dass 15 Landsleute, die mit ihnen im Boot nach Lampedusa saßen, inzwischen entlassen wurden. „Warum die und nicht wir, haben sie sich gefragt“, sagt ihr Sprecher Lassad, „sind wir Menschen der Klasse C?“ Der Grund ist wohl, dass ihre Landsleute nicht identifiziert werden konnten.

In diesem Fall ordnet der Richter an, dass ein Ausländer ohne Papiere innerhalb von sieben Tagen Italien selbstständig zu verlassen habe – was natürlich ohne Ausweis nicht möglich ist. So tauchen die Menschen unter und schlagen sich als meist obdachlose „Clandestini“ durch. Und der Staat hat sich des Problems entledigt. Etwa 60 Prozent der CIE-Insassen kommen so nach einigen Monaten frei. Bis sie in eine Polizeikontrolle geraten und wieder in Gewahrsam landen. Die übrigen werden tatsächlich abgeschoben.

In Ponte Galeria werden derzeit etwa 100 „Gäste“ festgehalten, fast alle sind Schwarzafrikaner und Araber aus den Maghreb-Staaten, ein Drittel Frauen. Gut 80 Prozent waren vorher im Gefängnis wegen Drogendelikten, Diebstahl, Gewalt. Deshalb sollen sie raus aus Italien. Aber auch sie haben keine Ausweise. In der Regel bleiben sie vier bis sechs Monate im CIE, theoretisch könnten sie bis zu eineinhalb Jahre festgehalten werden. Es ist eine Art zweite Haft ohne Verurteilung.

Zu tun gibt es absolut nichts in der Käfigwelt von Ponte Galeria. Handys sind der einzige Kontakt zur Außenwelt. Abends um zehn wird das Licht ausgemacht. Es gibt keine Schränke, keine Regale, keine Gardinen, keine Bücher. Denn all das ist brennbares Material. Die angestaute Frustration und Wut sind so groß, dass sie zuweilen explodiert. Dann zünden die „Gäste“ ihre Unterkünfte an und reißen Mauern ein. Dabei ist Ponte Galeria nicht das schlechteste Ausländerlager in Italien, wie auch der italienische Flüchtlingsrat bestätigt. Aber letztlich geht es nicht um schlechte Matratzen und schmutzige Wände. Was die Insassen quält, ist die Ungewissheit. […]“

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