08. Juli 2013 · Kommentare deaktiviert für Ägypten, Platz Tahrir: Der „tiefe Staat“ und die Vergewaltigungen · Kategorien: Ägypten · Tags: ,

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/gewalt-gegen-frauen-schatten-ueber-dem-neubeginn-in-aegypten-12273628.html

„[…] Mit systematischer sexueller Gewalt versuchen offenbar bestellte Banden in Ägypten, Frauen vom Demonstrieren abzuhalten und zu demoralisieren. Eine Deutsche in Kairo entkam nur knapp einer Gruppe Vergewaltiger am Tahrir-Platz.Von Markus Bickel, Kairo

Den zweiten Umsturz in Ägypten binnen kurzer Zeit hat Tanja Göbel verpasst. In der vergangenen Woche, in der Muhammad Mursi vom Militär gestürzt wurde, hielt sie sich fern vom Tahrir-Platz. Zu groß war ihre Angst, wieder ins dichte Gedränge auf dem Platz zu geraten, zu groß die Furcht, dass noch einmal passieren würde, was ihr dort im Januar widerfuhr. Damals wollte sie eigentlich mit Tausenden anderen den zweiten Jahrestag des Sturzes Husni Mubaraks feiern. Daraus wurde nichts. Schon am Eingang scharten sich Dutzende Männer um die junge Deutsche, trennten sie gewaltsam von einer Freundin und deren Mann. Enger und enger schloss sich der Kreis, ehe die Kerle zupackten. Sie rissen ihr die Hose runter, den Pullover hoch, den Büstenhalter vom Leib.

Von vorne, von hinten, immer wieder befingerten die Männer sie, zerrten und zogen an ihr herum. Völlig zerfetzt war ihre Unterhose, als sie sich nach Minuten endlich befreien konnte. Aber das merkte sie erst viel später. Ein großer Mann kam ihr zur Hilfe. Mit aller Kraft klammerte sie sich an seinen Rücken, um aus der Menge der Vergewaltiger hinauszukommen. Noch auf der Flucht über den Platz liefen ihre Peiniger hinter ihr her, zerrten weiter an ihrer Hose. Als sie endlich draußen war, in der Obhut einer Hilfsorganisation für Opfer sexueller Übergriffe, konnte sie nicht aufhören zu weinen.

Ein halbes Jahr später hat Göbel die Demütigungen noch immer nicht ganz überwunden. Monatelang war sie völlig durcheinander, alle zwei Wochen bekam sie Blutungen. Waden und Oberschenkel waren von Prellungen und Schürfwunden übersät. Heute sitzt sie in einem Café auf der anderen Seite des Nils, im Fernsehen laufen die Bilder von den neuen Massenprotesten auf dem Tahrir-Platz. […]

Revolution, Teil zwei: Nach Mubarak ist nun auch Muhammad Mursi gestürzt, der zweite Präsident in dreißig Monaten. Doch wie über dem stolzen 25. Januar 2011 liegt auch über den neuen ägyptischen Jubeltagen im Juni und Juli ein Schatten: Mehr als hundert Frauen wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen in den vier Tagen des Aufstands – bis zum Mittwoch dieser Woche, an dem Mursi abgesetzt wurde – vergewaltigt. Anfang des Jahres, als die Bande über Göbel herfiel, waren es 19 Opfer allein in einer Nacht.

„Dieses Gefühl, völlig ausgeliefert und hilflos zu sein, trifft jede Frau in ihrer Ehre“, sagt die blonde Frau, die seit Jahren in der ägyptischen Hauptstadt lebt, fließend Arabisch spricht, und sich immer furchtlos und frei bewegte in der hektischen Millionenstadt. […]

Schon Anfang 2011 erlitt der Ruf des Platzes als Symbol friedlichen Protests erste Schrammen: In den letzten Stunden des Mubarak-Regimes wurde die amerikanische Journalistin Lara Logan von Männern „mit den Händen“ vergewaltigt, wie sie später zu Protokoll gab. Seitdem ist das Bewusstsein vieler Aktivisten geschärft: Auf dem Bildschirm in dem lauten Wasserpfeifencafé, in dem Tanja Göbel ihre Geschichte erzählt, sieht man einen schwarzen Ring vor der Bühne des Tahrir-Platzes. Die Organisatoren haben mit Seilen einen Bereich für Frauen abgesperrt – es ist der Versuch, ein Mindestmaß an Schutz zu gewähren.

´[…] In Ägypten, wo Begrapschen und Belästigung als Kavaliersdelikte gelten, haben es die Täter leicht. Daran hat auch der Sturz des Autokraten Husni Mubarak nichts geändert: Wie ein roter Faden zieht sich der autoritäre Charakter der Revolte durch die zweieinhalb turbulenten Übergangsjahre. Militär, Polizei und Geheimdiensten haben ihre Stellung bis heute gesichert, der „tiefe Staat“ , der alle Machthaber überdauert hat, lebt weiter. Aus seinen Kreisen kommen die Täter, die Vergewaltigungen gezielt einsetzen. Schon lange vor Mubarak gehörte sexuelle Erniedrigung zu den Taktiken des Systems, um Frauen zum Schweigen zu bringen. Vor Gruppenvergewaltigungen, wie sie im Januar unter Mursi erstmals flächendeckend stattfanden, schreckte das alte Regime aber noch zurück. […] Ausgerechnet Ägyptens neuer starker Mann, Armeechef Abd al Fattah al Sisi, gestand im Sommer nach dem Sturz Mubaraks ein, dass die von vielen Ägyptern verehrten Streitkräfte sogenannte „Jungfräulichkeitstests“ rund um den Tahrir-Platz durchgeführt hatten. Dahinter steckte der Plan, Frauen in ihrer Würde herabzusetzen, sie von politischem Protest abzuhalten und als unmoralisch zu diskreditieren. Als der von Islamisten dominierte Schura-Rat Anfang des Jahres über die Vorfälle beriet, machten Abgeordnete die vergewaltigten Frauen selbst dafür verantwortlich – der Tahrir-Platz sei eine Brutstätte für Prostitution, Vergewaltigung und sexuelle Belästigung geworden, hieß es.

Aus Angst, dass Ärzte die Polizei informierten, wagten sich viele Opfer nicht in öffentliche Kliniken, erzählt Tanja Göbel, die jede Woche mit anderen Frauen zusammenkommt, denen das Gleiche wie ihr widerfuhr. Der moralische Druck im konservativen Ägypten ist enorm, allein das Wissen um die Tat würde ganze Familien zerstören und Ehen auseinanderreißen. Darum entscheiden sich viele lieber fürs Schweigen.

Dabei müssen die Übergriffe organisiert sein. Zu groß ist die Menge derer, die sich um die Frauen scharen, als dass sie sich spontan zusammenfinden könnten. Manchmal sind es mehr als vierzig. Bei Dutzenden solcher Fälle in einer Nacht – wie am vergangenen Sonntag – müssen also Hunderte Männer mit genau diesem Ziel zu den Protesten gehen: Frauen zu erniedrigen und ihnen die Teilnahme an öffentlichen Protesten zur Hölle zu machen. Die Polizei schaut weg. Zwar sind Verfahren gegen Hintermänner aus dem Innenministerium anhängig, und Geständige haben schon zugegeben, Geld für Übergriffe bekommen zu haben. Doch bis zur Verurteilung ist es noch ein langer Weg.

Ein Thema ist die organisierte sexuelle Gewalt in Ägypten inzwischen dennoch: Freiwillige haben sich in Gruppen wie der Kampagne gegen sexuelle Übergriffe „OpAntiSH“ (Operation Anti Sexual Harassment) oder den „Tahrir Body Guards“ zusammengefunden, um im Notfall die Frauen aus der Gewalt der Täter zu befreien. […] sowohl verschleierte Frauen als auch T-Shirt-Trägerinnen, Ägypterinnen und Ausländerinnen zählen zu den Opfern. In der ersten Nacht des Aufstands gegen Mursi, vor genau einer Woche, traf es eine Großmutter – und eine Frau, die mit ihren kleinen Kindern unterwegs war. Über Ägyptens zweitem Umsturz liegt schon jetzt ein dunkler Schatten.“

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