17. Juni 2013 · Kommentare deaktiviert für „Revolution und Regimewandel in Ägypten“ (Hg.: Albrecht / Demmelhuber), Rezension · Kategorien: Ägypten, Hintergrund, Lesetipps · Tags:
From:    Nadine Kreitmeyr <nadine.kreitmeyr@ifp.uni-tuebingen.de>
Date:    18.06.2013
Subject: Rez. AEG: H. Albrecht u.a. (Hrsg.): Revolution und
         Regimewandel in Ägypten
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Albrecht, Holger; Demmelhuber, Thomas (Hrsg.): Revolution und
Regimewandel in Ägypten (= Weltregionen im Wandel 14). Baden-Baden:
Nomos Verlag 2013. ISBN 978-3-8329-7872-3; 282 S.; EUR 46,00.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Nadine Kreitmeyr, Universität Tübingen
E-Mail: <nadine.kreitmeyr@ifp.uni-tuebingen.de>

Der Sammelband von Holger Albrecht (American University in Cairo) und
Thomas Demmelhuber (Universität Hildesheim) behandelt die Ereignisse in
Ägypten während des 'Arabischen Frühlings' im Jahr 2011 und 2012.

Die Beiträge bieten den aktuellen Forschungsstand der deutschen
Sozialwissenschaften über die ägyptische Revolution und ordnen die
dortigen Ereignisse in den weiteren regionalen Kontext ein. Dabei stehen
die Wandlungsprozesse in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im
Mittelpunkt der Betrachtung und werden anhand von zentralen Akteuren und
Institutionen diskutiert. Strukturen, Handlungslogiken und die
Neuaushandlung von Machtbeziehungen in Ägypten werden in den einzelnen
Beiträgen angesprochen.

Gegliedert ist der Sammelband in zwei Teile mit insgesamt zehn
Beiträgen, denen ein Überblick über die Ereignisse in Ägypten seit dem
Frühjahr 2011 (Thomas Demmelhuber/Holger Albrecht) sowie konzeptionelle
Überlegungen zur Einordnung der Revolution in Ägypten (Christoph
Schumann) vorangestellt sind. Im ersten Teil 'Regime- und
Institutionenwandel' werden Regime, Militär, Parteien und Wirtschaft
näher untersucht, während sich der zweite Teil 'Revolution und
Gesellschaft' den Auswirkungen auf Medien, Religion und verschiedene
Akteure wie beispielsweise Studenten oder Arbeitern widmet.

Der erste Teil wird von Thomas Demmelhuber mit dem Thema Elitenwandel
und Machtbeziehungen eröffnet. Darin arbeitet er die vertikalen und
horizontalen Machtbeziehungen innerhalb der Herrschaftselite seit Ende
der 1990er-Jahre heraus und befasst sich insbesondere mit dem Aufstieg
der Wirtschaftselite in den frühen 2000er-Jahren. Daran anknüpfend
diskutiert er den Aufstieg des Militärs in die Kernelite nach dem
erzwungenen Rücktritt Mubaraks. Den Militärrat als zentralen Akteur im
Machtgefüge und damit in der Politik untersucht auch Holger Albrecht. Er
stellt heraus, wie das Militär seit dem Beginn der Proteste im Januar
2011 in die Politik eingriff und eine 'strukturierende Machtposition'
(S. 84f.) erlangen konnte. Kevin Köhler betrachtet im darauf folgenden
Beitrag die ersten Parlamentswahlen in der Post-Mubarak-Ära und das sich
herausbildende Parteiensystem. Er kommt zu dem Schluss, dass die
Institutionalisierung der Parteien von Fragmentierung, Polarisierung und
einer Fokussierung auf einzelne Persönlichkeiten geprägt sei. Torsten
Matzke wiederum beschreibt die Staat-Wirtschaft-Beziehungen im Vorfeld
der ägyptischen Revolution und veranschaulicht anhand der zentralen
Leitlinien und Akteure, wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik in einen
Verteilungskonflikt und letztlich in eine Legitimitätskrise des Systems
mündete. Diese Krise bildete einen Hintergrund der Proteste in 2011,
kann seiner Ansicht nach jedoch nicht als alleinige Erklärung für die
Ereignisse angesehen werden.

Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich den Medien und zentralen
zivilgesellschaftlichen Akteuren in Ägypten. Die ersten beiden Beiträge
von Carola Richter und Christian Wolff untersuchen die Nutzung der
Medien im Kontext der Demonstrationen im ägyptischen bzw. arabischen
Frühling. Carola Richter stellt die Liberalisierung des ägyptischen
Mediensystems in der vorrevolutionären Zeit in den Vordergrund und
betont, dass vor allem das Internet als Massenmedium von
marginalisierten Gruppen wie der Muslimbruderschaft oder der 6.
April-Bewegung zur Mobilisierung genutzt werden konnte. Sie führt dies
unter anderem darauf zurück, dass das Regime mit der Kontrolle dieses
Mediums überfordert war und sich so Freiräume eröffneten. Christian
Wolff legt seinen Schwerpunkt ganz auf Internet und Öffentlichkeit. Er
diskutiert die Rolle das 'Web 2.0' in der Strukturierung von
Öffentlichkeit und Kommunikationsprozessen und positioniert sich
kritisch zur Darstellung der Revolution als 'Facebook-' bzw.
'Twitter-Revolution' (S. 174).

Die nachfolgenden Beiträge untersuchen unterschiedliche
gesellschaftliche Gruppen und deren Beiträge während und nach den
Protesten von 2011. Florian Kohstall zeichnet anhand des Aktivismus der
Studenten und Professoren wichtige Konfliktlinien in der ägyptischen
Gesellschaft und Politik nach. Insbesondere die Hochschule als
'politische Ersatzarena' und die sich herausbildende Hochschulpolitik
werden als Indikator für die politische Transformation Ägyptens
herausgestellt (S. 204ff.). Irene Weipert-Fenner geht im anschließenden
Beitrag auf  die Merkmale und Strategien der Arbeiterbewegung in der
vorrevolutionären Zeit ein und verdeutlicht deren Bedeutung in den
Protesten von 2011. Dabei arbeitet sie heraus, inwiefern das Ansätze und
Strategien der Arbeiterbewegung im Jahr 2011 denen früherer
Demonstrationen und Streiks ähnelten. Die letzten Beiträge dieses Teils
des Sammelbandes beschäftigen sich anschließend mit der
Muslimbruderschaft und der neu entstandenen koptischen Bewegung als
religiöse Gruppen, die an den Aushandlungsprozessen nach dem Rücktritt
Mubaraks mitwirkten. Ivesa Lübben analysiert die Position und
Selbstwahrnehmung der Muslimbruderschaft in der Transformation des
politischen Systems. Dabei geht sie insbesondere auch auf die
Beziehungen zum Militärrat ein. In seinem Beitrag über die Kopten
Ägyptens thematisiert Sebastian Elsässer abschließend die latenten und
sichtbaren religiösen Konfliktlinien. Diese sieht er als Grund für die
deutliche politische Mobilisierung der Kopten sowie die Herausbildung
einer koptischen Bewegung, die zudem mit einer stärkeren Vertretung
koptischer Anliegen in der Öffentlichkeit einhergingen.

Der vorliegende Sammelband präsentiert dem Leser verschiedene
Perspektiven auf die Revolution in Ägypten im Zeitraum von Januar 2011
bis Sommer 2012. Die Publikation zeichnet sich durch mehrere Aspekte
aus: Im Gegensatz zu ersten Bestandsaufnahmen unmittelbar nach dem
Beginn des Arabischen Frühlings löst sich der vorliegende Band von einer
rein deskriptiven Ebene. Die Autoren kontextualisieren die aktuellen
Veränderungen in Regime, Institutionen und Gesellschaft und verknüpfen
ihre Analysen mit der Forschung der vergangenen Jahre. Weiterhin
zeichnet sich der Sammelband durch seine Vielfalt an Quellen aus, die
die Autoren heranziehen. Persönliche Interviews, Zeitungsberichte,
Internetquellen sowie wissenschaftliche Arbeiten in englischer,
deutscher und arabischer Sprache sind nur einige Beispiele. Insgesamt
bieten die Beiträge zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine kritische
konzeptionelle und theoretische Auseinandersetzung mit der
Autoritarismus- und Transitionsforschung nach den Ereignissen von 2011,
wobei die Beiträge im Einzelnen unterschiedlich tief in die Diskussion
eintauchen. Christoph Schumanns konzeptioneller Beitrag sowie Thomas
Demmelhubers Analyse des Regime- und Elitenwandels stechen hier
besonders positiv hervor. Mit ihren Analysen zweier besonderer
Akteursgruppen geben Florian Kohstall (Hochschulpolitik) und Irene
Weipert-Fenner (Arbeiterbewegung) Aufschluss über den Weg zur Revolution
bzw. über kurz- und mittelfristige Entwicklungstendenzen. Ihre Arbeiten
zeichnen sich dabei vor allem durch ihre detaillierte Darstellung und
überzeugende Kontextualisierung aus; zudem verknüpfen sie
gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Faktoren. So
diskutiert Florain Kohstall in seinem Beitrag zur Hochschulpolitik nach
dem Rücktritt Mubaraks am Beispiel der Präsidentschafts- und
Dekanatswahlen an staatlichen und privaten Hochschulen das
Spannungsverhältnis von Veränderungstendenzen und dem Festhalten an
etablierten Verhaltensweisen. Angesichts eines nur partiell vorhandenen
Reformwillen auf Seiten der zuständigen staatlichen Institutionen, der
Wiederwahl bisheriger Amtsträger sowie der Unterrepräsentation der
jungen Ägypter in Entscheidungsprozessen an Universitäten kommt er zu
einer eher kritischen Einschätzung der politischen Transformation
Ägyptens (S. 198f., 204-7).

Insgesamt handelt es sich um ein sehr empfehlenswertes Buch über den
Arabischen Frühling in Ägypten, das dem eigenen Anspruch, über "reine
politikwissenschaftliche 'Brennpunktforschung' hinaus zu wirken" (S. 9),
gerecht wird.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Götz Nordbruch <goetz.nordbruch@web.de>

URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-2-203>

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