04. März 2013 · Kommentare deaktiviert für Ägypten: „Tote und Kämpfe zwischen Bullen und Militär in Port Said“ · Kategorien: Ägypten · Tags: ,

Tote und Kämpfe zwischen Bullen und Militär in Port Said
Verfasst von: rg (Benutzerkonto: recherchegruppe aufstand). Verfasst am: 04.03.2013 – 18:55. (unmoderiert)
https://linksunten.indymedia.org/de/node/80161

Ausgangspunkt der jüngsten Auseinandersetzungen in Port Said war die geplanten Verlegung etlicher Gefangener aus den Verfahren wegen des Massakers im Fussballstadion der Stadt.
In einer geheimen Aktion sollten sie in das Gefängnis Wadi El Natron verlegt werden.
Als dies durchsickerte, mobilisierten Angehörige der Gefangenen und die Ultras der Green Eagles innerhalb kürzester Zeit Tausende, die sich direkt vor dem Knast heftigste Zusammenstösse mit den Bullen lieferten.

Diese verschossen selbst für ägyptische Verhältnisse Unmengen an Reizgas (sogar das staatliche Gesundheitsministerium spricht von 600 Menschen, die infolge des Einsatzes ärztliche Hilfe benötigten), auch wurde massiv Schrotmunition eingesetzt, 40 Menschen wurden angeschossen.

Der Hass auf die Bullen und ihr Vorgehen ist seit dem Massaker Ende Januar allgegenwärtig. ´
Bereits am Samstag war eine der zentralen Bullenstationen in Port Said gestürmt und niedergebrannt worden, nachdem ein Bullenwagen mehrere Demonstranten umgefahren hatte.
Nur durch den Einsatz der Schusswaffen gelang anschliessend den Fahrern des Bullenwagens die Flucht.

Bei den gestrigen Kämpfen wurden zwei Demonstranten getötet, als die Bullen vom Dach des örtlichen Regierungsitzes aus mit Steinen und Metallteilen auf die ungeschützten Köpfe der Demonstranten warfen. Dem 16jährige Sayed Ali El-Sayed und dem 22jährige Abdel Rahman El Said Ali wurden buchstäblich die Schädel zertrümmert.
Zu den Umständen, die zum Tode eines weiteren Demonstranten führten, liegen noch keine Informationen vor.

Als in der Stadt stationierte Armeeeinheiten in die Kämpfe intervenierten und versuchten, sich zwischen die Bullen und die aufgebrachten Menge zu schieben, wurden sie von den Bullen ebenfalls mit Reizgas beschossen. Daraufhin kam es zu stundenlangen Gefechten zwischen den Bullen und den Armeeeinheiten , die von den Demonstranten gefeiert wurden.
Jubelnde Einwohner waren auf Militärfahrzeugen zu sehen, in Parolen hiess es wie während des Sturzes von Mubarak: „Das Volk und die Armee Hand in Hand“.

Während mittlerweile der Tod von zwei Bullen durch die Gefechte, sowie die Schussverletzungen von Armeeangehörigen offiziell betätigt wurde, bestreitet die Armee, dass es die Kämpfe mit den Bullen, die von den Einwohnern der Stadt berichtet und auch dokumentiert wurden, überhaupt gegeben habe.

Videos und Bilder dazu

Unklar sind noch die Hintergründe der Auseinandersetzungen zwischen Bullen und Militär.
Zwar hat es in den vergangenen Monaten mehrmals Massenschlägereien zwischen Bullen und Militärangehörigen in Kairo gegeben, allerdings hatten diese wohl keinen politischen Hintergrund. Auffällig ist jedenfalls, dass die nach dem Massaker Ende Januar in Port Said stationierten Militäreinheiten bisher in keiner Weise gegen die Bevölkerung vorgegangen ist.
So schauten die Militärs zu, als Tausende trotz verhängten Ausnahmezustand die nächtliche Ausgangssperre missachteten und faktisch abschafften, ebenso intervenieren sie nicht gegen die „Kampagne des zivilen Ungehorsams“, die seit 2 Wochen das öffentliche Leben in der Stadt wesentlich lahmlegt.
Die Produktion im Industriebereich ist um die Hälfte gefallen, Teile der öffentlichen Verwaltung lahmgelegt, immer wieder werden wichtige Verkehrsverbindungen blockiert.

Auch noch völlig unklar sind die Umstände des Massaker an den weitgehend unbewaffneten Demonstranten Ende Januar, ob hier die örtlichen Bullen noch mit über das in Ägypten übliche Mass an Grausamkeit agiert haben, ob sie dafür Rückendeckung hatten und haben, oder ob örtliche Befehlsstrukturen eigenmächtig vorgehen, ist noch völlig unklar. Ebenso unklar ist, wer die unbekannten Heckenschützen sind, die Ende Januar z.b. aus einer niedergebrannten Bullenstation heraus das Feuer auf Demonstranten und Einwohner eröffneten.

Auf jeden Fall gibt es Spekultionen über neue Spannungen zwischen den Militärs und der Moslembrüdern. In einem aktuellen Bericht von al ahram wird eine Offizier des militärischen Geheimdientes zitiert: „Wenn die Risiken wegen der anhaltenden politischen Krise und den Streikwellen zu gross würden, sei die Armee die einzige Grösse, die die Sicherheit auf den Strassen garantieren könne.“
Propagandistisch begleitet wurde dies von einem Aufmarsch in Nasr City, bei dem 2000 Menschen, viele davon pensionierte Militärs, vor einer weiteren Machtübernahme innerhalb des Staatsapperates durch die Moslembrüder, sowie einer Unterwanderung der Armee durch Islamisten, warnten. Ebenso wurden Gerüchte über die Absetzung des Verteidigungsministers lanciert, der aus den Reihen des Militärs kommt und dem ein gutes Verhältnis zu den Moslembrüdern nachgesagt wird.

Schon während der Unruhen nach Mursis Machtdekreten und dem Durchpeitschen des islamistisch gefärbten Verfassung hatten Sprecher des Militärs in Richtung Moslembrüder Warnungen ausgesprochen, man werde zur Not wieder intervenieren, wenn die Situation außer Kontrolle zu geraten drohe. Der Versuch der Militärs , einen „nationalen Dialog“ zu initieren, scheiterte aber ebenso wie alle anderen Bemühungen, zu einer Verständigung zwischen der bürgerlichen Opposition und den Moslembrüdern zu kommen.
Auch der neue US Aussenminister Kerry ist da nicht viel weiter gekommen. Während seines Kairo Besuches vorgestern und gestern kam es nicht zu Treffen mit allen Parteien. wichtige Vertreter der „Nationalen Rettungsfront“ verweigerten ein Treffen mit Kerry, ebenso verwahrten sie sich gegen sein Ansinnen, gefälligst doch an den Wahlen Ende April teilzunehmen.

Inwieweit es den USA gelungen ist, das fragile „Bündnis“ zwischen Armee und Islamisten neu zu justieren, ist auch offen, trotz der Druckmittel, über die die USA mit der Militärhilfe (1,3 Milliarden US Dollar jährlich) und den wirtschaftlichen Hilfen (Kerry sagte gerade in Kairo weitere 250 Millionen zu) verfügen.

Den Nachschub an Reizgas aus den USA dürften die ägyptischen Bullen jedenfalls dringend benötigen. Im Januar wurde für 2,5 Millionen US Dollar neues Gas aus den USA geordert.
Die ägyptischen Bullen setzen CN, CS und auch CR weiterhin in Massen ein, so auch gestern in Kairo.
Nachdem es schon vor einer Woche zu militanten Auseinandersetzungen gekommen war, als die Bullen versucht hatten, den Platz wieder für den Verkehr zu öffnen, gingen gestern Zivibullen mit Kanthölzern und Schlagstöcken gegen Demonstranten auf dem Tahrir Platz vor.
Ein Teil der Zelte auf der Mitte des Platzes wurden niedergerissen, angebliche Waffenfunde legitimierten die Festnahme von Teilnehmern des sit ins auf dem Platz. Innerhalb kurzer Zeit strömten hunderte Wütende, darunter auch Leute vom black bloc, zum Platz, heftige Kämpfe mit den Bullen, die einige Wagen verloren, als diese in Flammen aufgingen. (Fotoserie) . Kämpfe mit Molotovs, Steinen und Reizgas bis zum Abend, am Ende sind 69 Aktivisten von den Bullen festgesetzt.

Heute nun begleiten Tausende die Leichen der gestern ermordeten Demonstranten durch die Strassen von Port Said. Sprechchöre gegen die Bullen, das Innenministerium und gegen die Moslembrüder.
An anderer Stelle neue heftige Kämpfe mit den Bullen, das Hauptquartier der Sicherheitskräfte und Teile des örtlichen Regierungssitzes (Foto oben) stehen in Flammen. Es wird erneut scharf geschossen, ein Demonstrant wird mit einer Kugel im Kopf im kritischen Zustand im Krankenhaus eingeliefert, nachdem die Bullen das Feuer eröffnet haben.
Nachdem die Bullen auch heute erneut mit Tränengas auf Militärangehörige geschossen haben, eröffnen diese das Feuer aus scharfen Waffen auf die Bullen und zwingen diese zum Rückzug.
Es ist derzeit kein Ende der Kämpfe in Port Said absehbar.

Ingesamt ist die Sitution in Ägypten derzeit äußerst instabil, täglich gibt es kleinere Zusammenstösse zwischen Streikenden und den Bullen , so z.B. in Luxor, wo Eisenbahner Bahnlinien blockieren, die Ultras von Al Ahly haben gestern die Zentralbank und die Strasse zum Flughafen blockiert, weshalb Kerry erst 2 Stunden später abfliegen konnte. Derzeit sind alle Zugänge zum staatlichen TV blockiert, weil das Sicherheitspersonal sich im Ausstand befindet.
Die „Kampagne des zivilen Ungehorsams“ in den Städten am Suez Kanal führt immer wieder auch zu Kämpfen mit den Bullen, in Mansoura kam es gestern zu neuen Kämpfen. In der Industriestadt Mahalla haben mehrere oppositionelle Gruppen angekündigt, parallel zu den Wahlen Ende April eine eigene „Volksvertretung“ zu initieren.

Seit 2 Monaten berichten Menschenrechtsaktivisten davon, dass die Bullen wieder massiver foltern. Der Tod von Mohamed al-Gendy reiht sich ein in eine Reihe von weiteren systematischen Folterungen, die die Angst der Mubarakdiktatur zu reinstallieren versuchen.
Sollten die Islamisten und der Bullenapparat, der ohne strukturelle Veränderungen von Mubarak übernommen wurde, damit scheitern, dürfte erneut die Stunde des Militärs schlagen.
Die jüngste Entwicklung in Port Said könnte ein Vorbote dieser Entwicklung sein.

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