12. Februar 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die Krise der Festung Europa“ · Kategorien: FFM-Texte, Hintergrund · Tags: ,

Die Festung Europa ist nicht mit den Kreuzzügen oder der Reconquista entstanden. Sie ist nicht 500 Jahre, sondern 20 bis 25 Jahre alt. Sie dient der Aufrechterhaltung des sozialen Grabens am Mittelmeer, der in den letzten zwei Jahrzehnten so tief geworden ist wie nie zuvor in der mehrtausendjährigen historisch bekannten Geschichte des Mittelmeerraums. Die Lebensverhältnisse zwischen Südeuropa und Nordafrika befinden sich zur Zeit im Verhältnis 1:13.

Bis zur Einführung der Visapflicht für Bürger aller nordafrikanischen Staaten Anfang der 1990er Jahre konnten Tunesier zur Saisonarbeit nach Süditalien einfach hinüberschippern. Bis 1995 konnte man in Marokko ohne Kontrollen in die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla spazieren, es gab keine EU-Grenzzäune.

Angesichts der Krise, die die Festung Europa am Mittelmeer derzeit erlebt, wäre es Zeit, in die Zukunft zu blicken: Man möchte sagen, dass die Festung Europa eines Tages nur noch eine Fußnote der Geschichte sein wird – wären da nicht die abertausenden Toten, die die Abschottung der Europäischen Union produziert hat, und das Leid, das die Verarmungsprozesse auf der südlichen Mittelmeerseite erzeugt haben. Das Sterbenlassen im Mittelmeer, die Verwandlung des Mittelmeers in ein Massengrab in unseren Tagen, wird als Schande Europas und als Verbrechen an der Menschheit erinnert werden.

Das Abschottungsdebakel Europas begann mit der Arabellion (2011). Damals sind die Küstenwachen der nordafrikanischen Staaten zusammengebrochen. Zuvor, in den Jahren um 2003, waren in Nordafrika unter EU-Druck die ungenehmigte Ausreise unter Strafe gestellt und die Küstenwachen auf Verhinderung unkontrollierter Bootsabreisen ausgerichtet worden. Im Frühjahr 2011 brachen im Schwung der Begeisterung über die errungene Freiheit zehntausende Jugendliche vor allem aus Tunesien Richtung Italien auf. Die damalige Berlusconi-Regierung rief den Notstand aus und hetzte gegen die Reisefreiheit, die angeblich einen „Exodus biblischen Ausmaßes“ bewirke. Über tausend tunesische Jugendliche, die nach Dokumentation ihrer Angehörigen nahe an die italienische Küste gelangten oder gar ankamen, verschwanden.

Zeitgleich begannen die europäische Agentur Frontex und die Nato vor Tunesien und Libyen aufzuziehen, wo die Nato kriegerisch eingegriffen hatte. Im Zuge der Seeblockade wurden die internationalen Gewässer in Sektorenzonen mit dem Ziel einer lückenlosen Überwachung aufgeteilt. Die polizeilich-militärische Abschottung im Mittelmeer erreichte einen historischen Höhepunkt.

Dennoch brachen die selbstgesteuerten Überfahrten aus Tunesien nicht ab, und aus Libyen setzte eine Fluchtbewegung subsaharischer „Gastarbeiter“ und Flüchtlinge über das Mittelmeer ein. Immer mehr Bootsflüchtlinge ertranken – auch in den Sektorenzonen der lückenlosen Überwachung von Frontex und Nato. Ungefähr 2.000 Tote wurden im Jahr 2011 registriert.

Überlebende, denen ihre Liebsten vor eigenen Augen verdurstet oder ertrunken waren, meldeten sich anschließend bei Menschenrechtsgruppen. Sie waren traumatisiert, aber bahnten sich seit 2011 ihren Weg in die Öffentlichkeit. Sie hatten Handy-Aufnahmen gemacht und konnten anhand vorgelegter Satellitenbilder ihre Irrfahrt auf dem Meer rekonstruieren – und zur Identifizierung von Nato-Schiffen beitragen. Diese waren nahe vorbeigefahren, auch Hubschrauber waren herbeigeflogen, aber Seenothilfe war verweigert worden.

Mit dem Selbstbewusstsein der Flüchtlinge und MigrantInnen, die die unterlassene Hilfeleistung auf dem Mittelmeer und die mörderische Abschottung Europas anprangern, ist eine neue Situation entstanden. Nach der Schiffskatastrophe direkt vor Lampedusa am 3. Oktober 2013, die mit den Mitteln einer funktionierenden Seenotrettung hätte verhindert werden können, ist die Festung Europa in eine Legimationskrise geraten, die sich 2014 zugespitzt hat.

In dreierlei Hinsicht nimmt das Jahr 2014 in der Immigrationsgeschichte Europas eine historische Bedeutung ein: Quantitativ sind zweieinhalb Mal so viel Menschen wie auf dem bisherigen statistischen Höhepunkt 2011 (Arabellion) auf illegalisiertem Weg nachweislich eingereist. Zweitens ist das Mittelmeer zur alles überragenden Einreisezone geworden. Drittens sind inzwischen – sogar nach Frontex-Angaben – 80 Prozent der heimlich Einreisenden Asylflüchtlinge.

Zudem sind 2014 die meisten Toten – über 4.000 Personen! – in der Geschichte der EU-Außengrenze zu verzeichnen. In vielen Fällen handelte es sich um überwachte und beobachtete Schiffstragödien im Mittelmeer.

In Deutschland leben 16 Millionen Menschen „mit Migrationshintergrund“, aber nur 3,4 Prozent von ihnen (533.000) kommen aus Afrika und 2,9 Prozent von ihnen (450.000) kommen aus den Nahen Osten (ohne Türkei). Woher rührt der Entschluss zur Abschottung gegenüber dem Süden, während das tatsächliche Migrationsgeschehen in Europa andere Regionen und Kontinente betrifft?

Wenn man die neuesten Frontex-Berichte liest, so kann man konstatieren, dass ein neues Mantra ausgegeben wird. Angesichts des Imageverlusts und der Wirkungslosigkeit zunehmender Abschottungsoperationen will Frontex in den EU-Staaten „awareness“ stärken: Es geht nun auch um ideologische Aufrüstung gegenüber Afrika und Nahost.

Helmut Dietrich engagiert sich bei watchthemed.net.

abgedruckt ab 23.02.2015 in: http://www.dioezese-linz.at/portal/themen/miteinander/sozialesethik

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