26. Juni 2014 · Kommentare deaktiviert für Syrien: adopt@revolution: „Widerstand gegen ISIS“ · Kategorien: Syrien

Widerstand gegen ISIS

Wäh­rend US Aus­sen­mi­nis­ter Kerry in Bag­dad ge­lan­det ist, um zu son­die­ren, wie­viel von dem Por­zel­lan, dass Nuri al-​Ma­li­ki in den letz­ten Jah­ren im Irak zer­schla­gen hat, sich viel­leicht wie­der kit­ten lässt und nur we­ni­ge Me­di­en die Sim­pli­fi­zie­rung „ISIS vor Bag­dad“ mit An­nä­he­run­gen an die Rea­li­tät im Irak durch­bre­chen( die meis­ten deutsch­spra­chi­gen Bei­trä­ge, die dies tun, fin­det ihr auf diesem blog), schla­gen sich die Men­schen in Sy­ri­en seit Jah­ren schon mit den Fa­schis­ten von „Is­la­mi­scher Staat im Irak und in der Le­van­te“ herum.

Un­ab­hän­gig von den di­ver­sen Macht­spiel­chen der po­li­ti­schen Klas­se, von Masud Bar­za­ni, der sich via CNN als re­gio­na­le Ord­nungs­macht dem Fern­seh­volk an­dient bis Mokta­da al-​Sadr, der seine Jaish al-​Mah­di als re­ak­tio­nä­rer Alb­traum der Be­woh­ner Bag­dads wie­der­auf­er­ste­hen lässt, und all den an­ge­kün­dig­ten „prä­zi­sen Ope­ra­tio­nen“ der US Luft­waf­fe, gibt der an­hal­te­nen Wi­der­stand gegen den Teror der ISIS in Sy­ri­en Hoff­nung, dass auch im Schre­cken eines mör­de­ri­chen Bü­ger­krie­ges eine eman­zi­pa­to­ri­sche Hal­tung mög­lich ist.

In dem Bei­trag Ge­ne­ral­streik gegen ISIS in Men­bej be­rich­ten sy­ri­sche Ak­ti­vis­ten:

Mitte Mai geht nichts mehr in Men­bej, neun von zehn Ge­schäf­ten sind ge­schlos­sen, der öf­fent­li­che Ver­kehr steht weit­ge­hend still. Die Stadt liegt 90 km öst­lich von Alep­po und wird seit ein paar Tagen von einem Ge­ne­ral­streik lahm­ge­legt. Dazu auf­ge­ru­fen und den Streik vor­be­rei­tet hat­ten zi­vi­le Grup­pen rund um das lo­ka­le Zen­trum für Zi­vil­ge­sell­schaft, um gegen die öf­fent­li­che Hin­rich­tung eines an­ge­se­he­nen Ak­ti­vis­ten und die täg­li­che Un­ter­drü­ckung durch die Dschi­ha­dis­ten zu pro­tes­tie­ren.

Ende Ja­nu­ar hatte ISIS die 100.​000-​Ein­woh­ne­rIn­nen-​Stadt zum wie­der­hol­ten Male ein­ge­nom­men, nach­dem die Dschi­ha­dis­ten zu­letzt von einem brei­ten Bünd­nis der be­waff­ne­ten sy­ri­schen Op­po­si­ti­on aus der Ge­gend ver­trie­ben wor­den war. Bei ihrer Rück­kehr nach Men­bej führ­ten die Kämp­fer des al-​Kai­da-​Ab­le­gers noch stren­ge­re re­li­giö­se Ge­set­ze ein und köpf­ten zi­vi­le Ak­ti­vis­tIn­nen. Mit einem State­ment, das via Face­book ver­brei­tet wurde, such­ten die re­li­giö­sen Ei­fe­rer auch nach dem Lei­ter des Zen­trums für Zi­vil­ge­sell­schaft, das Ak­ti­vis­tIn­nen mit Un­ter­stüt­zung von Adopt a Re­vo­lu­ti­on dort auf­ge­baut hat­ten. Mit einer Pla­kat­se­rie und Graf­fi­ti rufen die Mit­glie­der des Zen­trums jetzt zu re­li­giö­ser To­le­ranz und der Un­ter­stüt­zung des Ge­ne­ral­streiks auf.

Mit einer Er­klä­rung, die wir hier do­ku­men­tie­ren, un­ter­stützt auch die zi­vi­le lo­ka­le Selbst­ver­wal­tung den Streik.

Werte Mit­bür­ge­rIn­nen,

indem ihr dem Auf­ruf zum Ge­ne­ral­streik folgt, be­rei­chert ihr wie­der ein­mal den Kampf gegen das As­sad-​Re­gime und seine Ver­bün­de­ten. Das ist eine große Leis­tung und zeigt euer Ver­ant­wor­tungs-​be­wusst­sein, eure Liebe zur Re­li­gi­on und zur Hei­mat und eure enor­me Op­fer­be­reit­schaft.

Euer Streik ver­kör­pert unser aller Ab­leh­nung der mör­de­ri­schen Be­sat­zung un­se­rer Stadt und das trotz der Bru­ta­li­tät der Mit­glie­der von ISIS und ihrer An­grif­fe. Die­ser Streik ist eine zi­vi­li­sier­te Form des Pro­tests, die den ISIS-​An­hän­gern völ­lig fremd ist.

Wir be­grü­ßen und schät­zen die­sen he­roi­schen Schritt und ver­spre­chen, wei­ter recht­schaf­fen und stand­haft für die Be­frei­ung die­ser Stadt und von ganz Sy­ri­en aus den Fän­gen des As­sad-​Re­gimes und des­sen kri­mi­nel­len ISIS-​An­häng­sels zu strei­ten.

Es lebe das Freie Sy­ri­en!

Als Re­ak­ti­on ver­such­ten die Dschi­ha­dis­ten, die La­den­be­sit­zer zum Öff­nen ihrer Ge­schäf­te zu zwin­gen und nah­men meh­re­re Per­so­nen fest, als die sich wei­ger­ten. Ab­ge­se­hen von Apo­the­ken be­tei­lig­ten sich alle Ge­schäf­te der Stadt an dem Aus­stand. Trotz der Re­pres­si­on hielt der Streik wie an­ge­kün­digt einen gan­zen Tag an, was die brei­te Ab­leh­nung der Men­schen aus Men­bej ge­gen­über ISIS aber auch dem As­sad-​Re­gime aus­drückt. Die In­itia­to­ren pla­nen be­reits, die Is­la­mis­ten mit wei­te­ren, ähn­li­chen Ak­tio­nen unter Druck zu set­zen.

In dem Bei­trag Dair az-​Zor: Eine Stadt zwi­schen Re­gime und ISIS,

wird er­neut ein­drucks­voll die schwie­ri­ge Si­tuaon be­schrie­ben, die im Span­nungs­feld zwi­schen Assad Re­gime, ISIS und tra­di­tio­nel­len Herr­schafts­in­stru­men­ta­ri­en für die Ak­ti­vis­ten be­ste­hen:

Dair az-​Zor liegt am Eu­phrat. Die Gren­ze zum Irak liegt nur ei­ni­ge Ki­lo­me­ter weit ent­fernt. Ur­sprüng­lich war es ein ru­hi­ges Städt­chen. Ein wenig ab­seits ge­le­gen von den gro­ßen Bal­lungs­zen­tren Sy­ri­ens ist Dair az-​Zor nur be­schwer­lich zu er­rei­chen. Heute ist der Groß­teil der Stadt zer­stört. Elek­tri­zi­tät und flie­ßend Was­ser gibt es nur noch in den zwei Stadt­tei­len, die vom Re­gime kon­trol­liert wer­den. Bas­har ist Arzt und in die­ser Stadt auf­ge­wach­sen. Ei­gent­lich ist er Uro­lo­ge, aber die Re­vo­lu­ti­on hat sein Leben ver­än­dert.

Als Arzt vom Spe­zia­lis­ten zum Hel­fer in allen Lagen

Als Arzt in einem Un­ter­grund­kran­ken­haus nahe der Front ist er zum Chir­ur­gen und sogar zum Ge­bur­ten­hel­fer ge­wor­den. Ärzte gibt es fast keine mehr in Dair az-​Zor. Die, die blei­ben, be­han­deln und über­neh­men alles – Schuß­wun­den, Am­pu­ta­tio­nen, Ge­bur­ten. Die Be­din­gun­gen, unter denen sie ar­bei­ten, sind ka­ta­stro­phal, die me­di­zi­ni­sche und tech­ni­sche Aus­rüs­tung be­schränkt sich auf das Ru­di­men­tärs­te. Doch diese hu­ma­ni­tä­re Ar­beit mach­te ihn zum Ge­such­ten vom Re­gime. Jeder, der nicht in den staat­li­chen Kran­ken­häu­sern ar­bei­tet, ist ge­fähr­det, denn er wird be­schul­digt, die Auf­stän­di­schen zu un­ter­stüt­zen. Un­ko­or­di­niert haben die Scher­gen des Re­gimes mal sei­nen Vater, mal sei­nen Bru­der ver­haf­tet, im Glau­ben sie hät­ten ihn ge­fan­gen ge­nom­men. Doch die Si­tua­ti­on ist für Bas­har und seine Fa­mi­lie zu ge­fähr­lich ge­wor­den. Aus die­sem Grund hat er wi­der­wil­lig die Flucht über die Tür­kei nach Deutsch­land an­ge­tre­ten.

Vor drei­ein­halb Mo­na­ten ist er in Ber­lin an­ge­kom­men. Der schlan­ke Mann ist vol­ler Ta­ten­drang und möch­te auch hier in Deutsch­land hel­fen. Die ers­ten Schrit­te sind Deutsch ler­nen und auf das Asyl­ver­fah­ren war­ten. Nun sitzt er vor uns, in dem Büro von Adopt a Re­vo­lu­ti­on. In einem wei­ßen Hemd, einer dunk­len leich­ten Hose, mit einer le­der­nen Um­hän­ge­ta­sche. Mit sei­nen schlan­ken, lan­gen Hände ges­ti­ku­liert er, um seine Ant­wor­ten auf Ara­bisch und in ge­bro­che­nem Eng­lisch zu un­ter­strei­chen. Wir wol­len von ihm wis­sen, wie geht es den Men­schen, was den­ken, wen un­ter­stüt­zen, was glau­ben sie und wie funk­tio­niert das Leben noch in Dair az-​Zor.

Die ge­teil­te Stadt

Die Stadt, die vor der Re­vo­lu­ti­on 500.​000 Ein­woh­ner hatte, also einst der Größe von Nürn­berg ent­sprach, ist zwei­ge­teilt. Den Wes­ten mit rund 250.​000 Be­woh­nern kon­trol­liert das Re­gime, im öst­li­chen Rest der Stadt leben nur noch un­ge­fähr 13.​000 Men­schen. Alle an­de­ren sind ge­flo­hen oder in den Wes­ten der Stadt ge­zo­gen. Denn ob­wohl die Men­schen in den “be­frei­ten Ge­bie­ten”, wo also das Re­gime nicht mehr das Sagen hat, po­si­tiv über die Re­vo­lu­ti­on spre­chen, do­mi­niert die ma­te­ri­el­le und öko­no­mi­sche Not. In den vom Re­gime kon­trol­lier­ten Be­rei­chen gibt es zu­min­dest ei­ni­ge Stun­den am Tag Strom und teil­wei­se noch flie­ßend Was­ser.

Ei­ni­ge, die die Flucht er­grif­fen, haben es di­rekt in die Tür­kei ge­schafft. An­de­re sind zu­erst in die kur­di­schen Ge­bie­te ge­flo­hen, wo sie al­ler­dings keine lang­fris­ti­ge Per­spek­ti­ve sahen und wei­ter in die Tür­kei oder zu­rück­kehr­ten. In Dair az-​Zor selbst je­doch gibt es keine wei­te­ren kon­fes­sio­nel­len Span­nun­gen, denn vor allem leben dort Sun­ni­ten. Kur­dIn­nen, Ala­witIn­nen und an­de­re Min­der­hei­ten sind nur mar­gi­nal ver­tre­ten.

Ein wei­te­rer Flücht­lings­strom ist in die Pro­vinz Raqqa ge­flo­hen, doch als dort die Ex­tre­mis­ten von ISIS, also „Is­la­mi­scher Staat im Irak und Groß­sy­ri­en“ die Kon­trol­le über­nah­men, sind viele wei­ter in die Tür­kei ge­zo­gen oder auch zu­rück in die vom Re­gime kon­trol­lier­ten Ge­bie­te ihrer Hei­mat­stadt ge­gan­gen. Dort sind sie we­nigs­tens si­cher vor den Fass­bom­ben des Re­gimes. Die Luft­waf­fe wirft wei­ter täg­lich vier bis sechs Fass­bom­ben auf die Stadt und Pro­vinz Dair az-​Zor, außer auf den Stadt­ab­schnitt, den es selbst kon­trol­liert.

Kei­ner glaubt mehr an Assad, doch vor ISIS haben alle Angst

Kaum je­mand, er­zählt Bas­har, glaubt in der Stadt noch, dass Assad noch ein­mal in der Lage sein wird, das ge­sam­te Land zu re­gie­ren ge­schwei­ge denn zu ver­ei­nen – auch nicht dort, wo das Re­gime re­giert. Mitt­ler­wei­le ste­hen die meis­ten Städ­te ent­lang des Eu­phrats unter Selbst­kon­trol­le durch lo­ka­le Räte. Doch diese wie­der­um sind davon ab­hän­gig, dass die be­waff­ne­ten Kräf­te, die vor Ort sind, sie agie­ren las­sen. Denn egal wel­che be­waff­ne­te Grup­pe ge­ra­de die Macht hat, eine der wich­tigs­ten Fi­nanz­quel­len sind immer in­of­fi­zi­el­le Steu­er­ein­nah­men.

In den “be­frei­ten Ge­bie­ten” der Pro­vinz Dair az-​Zor konn­te sich ein recht sta­bi­les öko­no­mi­sches Leben ent­wi­ckeln, da neben Öl und Gas auch Ge­trei­de und Zu­cker an­ge­baut wer­den. Diese Güter wer­den von Ge­schäfts­män­nern ge­kauft und in die Tür­kei und den Irak ex­por­tiert. Doch außer für Ex­port­gü­ter bleibt die ira­ki­sche Gren­ze wei­ter­hin ge­schlos­sen. So wer­den weder Hilfs­gü­ter hin­ein noch Men­schen aus Sy­ri­en her­aus ge­las­sen. Auch in­ter­na­tio­na­le Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen sind in Dair az-​Zor ei­gent­lich nicht an­zu­tref­fen. Un­ter­stüt­zung, etwa für Bin­nen­flücht­lin­ge, gibt es wenn dann di­rekt aus der lo­ka­len Be­völ­ke­rung oder von den mo­de­ra­ten Is­la­mis­ten.

Es ist kein Ge­heim­nis, dass sie die Sym­pa­thi­en der Be­völ­ke­rung als auch der Ak­ti­vis­tIn­nen haben. Im Ge­gen­satz zu ISIS. Aber die länd­li­chen Stam­mes­struk­tu­ren sind vie­ler­orts stark und op­po­tu­nis­tisch. Sie wen­den sich immer den­je­ni­gen zu, die ge­ra­de die mi­li­tä­ri­sche Ober­hand haben – zur Zeit sind das die mo­de­ra­ten Is­la­mis­ten.

Beide Bei­trä­ge sind auf deutsch auf der web­site der Kam­pa­gne adopt a re­vo­lu­ti­on ver­öf­fent­licht wor­den. Un­ab­hän­gig von allen sons­ti­gen Dif­fe­ren­zen rufen wir wei­ter­hin dazu auf, für die Kam­pa­gne zu spen­den. Dem Rest bleibt nur das ohn­mäch­ti­ge Star­ren auf die Macht-​und-​Rän­ke­spiel­chen der geo­po­li­ti­schen und re­gio­na­len Macht­fak­to­ren.

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