13. Juni 2014 · Kommentare deaktiviert für „Und vor uns liegt das Glück“ – ZEIT · Kategorien: Mittelmeerroute · Tags: ,

ZEIT Magazin Nr. 23/2014

43.000 Flüchtlinge sind 2013 übers Mittelmeer nach Europa gekommen. Unsere Reporter haben sich im April auf eine dieser Überfahrten gewagt. Die größte Gefahr lauerte jedoch nicht auf See.

Von Wolfgang Bauer

„Lauft!“, brüllt es hinter mir, die helle Stimme eines jungen Mannes, eines halben Kindes noch, „lauft!“, und ich beginne zu laufen, ohne in der Dämmerung viel zu sehen, ich renne den Pfad hinunter, in einer langen Reihe mit den anderen. Ich renne, so schnell ich kann, sehe auf meine Füße, die mal auf Erde aufsetzen, dann auf Stein. „Ihr Hurensöhne!“, schreit einer der Jungen, die uns eben aus den Minibussen gejagt haben und jetzt neben uns herrennen, uns antreiben wie ein Hirte sein Vieh. Er schlägt mit einem Stock auf uns ein, auf unsere Rücken, die Beine. Er packt mich am Arm, reißt mich fluchend voran. Wir sind 59 Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien, die Rucksäcke geschultert, die Koffer in den Händen, und rennen an einer Fabrikmauer entlang, irgendwo am Rande eines Industriegebiets im ägyptischen Alexandria.

Vor mir hebt und senkt sich der Rücken von Husam, 20, einem massigen Mann, er keucht, torkelt bald, weil er nicht mehr kann, ich schiebe ihn vorwärts, mit aller Kraft, bis er wieder zu rennen beginnt. Der Stock knallt auf uns nieder. Irgendwo vor mir weint die 13-jährige Bissan vor Angst. Sie umklammert beim Laufen den Rucksack mit ihren Diabetes-Medikamenten. Hinter mir ist Amar, 50, er trägt eine signalblaue Goretex-Jacke, er hat sie sich für diesen Tag extra gekauft. Auch er wird immer langsamer, schon länger hat er Probleme mit dem Knie, doch er hat sich zuvor geschworen, er wird nicht aufgeben. Er kommt aus Syrien, wie fast alle hier, Ägypten ist für ihn nur eine Station auf seiner Reise, er muss es schaffen. Dann biegt die Mauer scharf nach links ab, und wir sehen plötzlich, ganz nah, keine 50 Meter weg, was wir uns seit Wochen erhoffen, wovor wir uns seit Wochen fürchten. Das Meer. Glühend liegt es vor uns im letzten Abendlicht.

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