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Todesfall in der JVA Landshut: Die Verzweiflungstat des Muslim H.
Von Gesa Mayr
Der Asylbewerber Muslim H. zwang bei seiner Abschiebung ein Flugzeug zur Rückkehr nach München. Wenig später starb der 28-Jährige in der JVA Landshut – unter ungeklärten Umständen. Hätten die Behörden seine psychischen Probleme erkennen müssen?
Hamburg – Am 1. April holten Polizisten Muslim H. aus einem Passauer Gefängnis ab und fuhren ihn zum Flughafen nach München. Er hatte in Ungarn Asyl beantragt und war unerlaubt nach Deutschland eingereist. Rückführung nennt man das in Deutschland. Für Muslim H. bedeutete das die größte Verzweiflung.
In München stieg er ohne die Beamten in ein Lufthansa-Flugzeug nach Budapest. Zwischen den ausgestreckten Fingern seiner Hand versteckte er eine Rasierklinge. Kurz nach dem Start verletzte er zunächst eine Flugbegleiterin mit Faustschlägen, dann hielt er einer zweiten die Rasierklinge an den Hals. Er wollte unbedingt, dass das Flugzeug umdreht, schließlich landete die Airbus-Maschine mit 76 Passagieren wieder in München.
Fast acht Wochen saß Muslim H. wegen des Vorwurfs der Geiselnahme in einem bayerischen Gefängnis. In der JVA Landshut galt der 28-Jährige als ruhig und unauffällig. Doch in der Nacht zum 24. Mai begann er laut Polizei in seiner Zelle zu randalieren, zerschlug ein Fenster und verletzte sich mit einer Scherbe. Als Justizvollzugsbeamte versuchten, ihn zu beruhigen, ging er demzufolge auf sie los.
Es gab ein Gerangel, die Beamten drückten H. zu Boden. Am Ende war H. tot, vermutlich ein Atem- oder Herzstillstand, und die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen gegen acht Mitarbeiter der JVA auf. Zurück blieb die Frage, warum acht Menschen nötig waren, um einen randalierenden Häftling zu beruhigen. Und warum der junge Mann so verzweifelt war, dass er sich selbst verletzte.
Auch sein Pflichtverteidiger Martin Paringer spricht von einem ruhigen Mann. „Auf mich hat er einen zugewandten und umgänglichen Eindruck gemacht.“ Er habe H. nur ein-, zweimal getroffen. Doch entgegen einiger Medienberichte habe er keine Anzeichen dafür gesehen, dass H. besser in einer Psychiatrie untergebracht werden sollte. Allerdings habe er mit dem zuständigen Staatsanwalt darüber beraten, ob H. vielleicht auf eine verminderte Schuldfähigkeit begutachtet werden sollte. Die Untersuchung durch einen Landgerichtsarzt hatte noch ausgestanden. „Er war tief verzweifelt“, sagt Paringer.
Demnach erklärte Muslim H. dem Rechtsanwalt, er sei aus dem Kosovo nach Ungarn getrampt und habe dort Asyl beantragt. Doch die Bedingungen seien unsagbar schlecht gewesen, er habe keinerlei Unterstützung erhalten, die Unterbringung sei katastrophal gewesen. Zweimal versuchte Muslim H. nach Deutschland zu flüchten, beide Male wurde er geschnappt. Beim zweiten Versuch stoppte ihn die Polizei in einem Zug bei Passau. Er wurde in das dortige Gefängnis gebracht und sollte am 1. April per Flugzeug zurück nach Ungarn reisen.
Panik vor einer Rückkehr nach Ungarn
Doch offenbar hatte Muslim H. große Angst vor einer Rückkehr nach Ungarn. „Jeder Tag, den ich in Deutschland verbringe, ist ein guter Tag“, zitiert Paringer seinen Mandanten. Selbst ein Gefängnisaufenthalt in Deutschland schien ihm besser als eine Rückkehr nach Ungarn. Das sei wohl die Motivation für seine Verzweiflungstat im Flugzeug im April gewesen.
Warum er überhaupt aus seinem Land flüchten musste, sagte er nicht einmal seinem Anwalt. Auch sonst gibt es kaum Details zu dem Mann. Keine Kinder, keine Eltern, keine Frau – „er sagte mir, er habe keine Angehörigen“, sagt Paringer. „Ich konnte niemanden für ihn anrufen.“ Unterdessen wachsen Zweifel an der Identität des Mannes. Paringer zufolge hat das kosovarische Konsulat nicht bestätigt, dass H. aus dem Land stammt.
Flüchtlingsrat und Grüne fordern Abschiebestopp nach Ungarn
H.s Angst vor einer Rückkehr nach Ungarn scheint nicht unbegründet. Erst vor wenigen Tagen veröffentlichte eine Menschenrechtsorganisation einen Katalog mit dramatischen Mängeln. Der Flüchtlingsrat Bayern fordert schon lange einen Abschiebestopp in das Land. „Die Bedingungen für Asylbewerber in Ungarn werden deutlich beschönigt“, sagt Sprecher Stephan Dünnwald. Viele der Antragssteller säßen nach zwei Monaten wieder auf der Straße. Fast die Hälfte der Asylbewerber würden nach ihrer Ankunft in Ungarn in Haft genommen – und es gebe Indizien, dass die Betroffenen dort nicht nur mit Gewalt, sondern auch mit Medikamenten ruhiggestellt würden.
Auch die Grünen reagierten auf den Tod von Muslim H. und kündigten im bayerischen Landtag einen Dringlichkeitsantrag an, „um Abschiebungen in Länder mit schlechten Asylstandards umgehend zu stoppen“. „Offenbar hat man ignoriert, dass die eigene Situation als ausweglos empfunden wurde“, sagte die flüchtlingspolitische Sprecherin Christine Kamm. Solche Verzweiflungstaten seien keine Einzelfälle. Die Partei fordert mit dem Antrag zudem Aufklärung von der Staatsregierung, wie es zu dem Tod von Muslim H. kommen konnte.
„Komischer Fall“
Unterdessen ermittelt Markus Kring von der Staatsanwaltschaft Landshut gegen alle acht JVA-Mitarbeiter, die sich im Verlauf des Geschehens in der Zelle von H. befanden, wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Er hat zu prüfen, ob die Anwendung von Zwang, also die Gewalt der Beamten gegen H., verhältnismäßig und damit rechtmäßig war.
Doch es scheint verwunderlich, dass acht Mitarbeiter nötig waren, um einen 28-Jährigen zu Boden zu ringen. Die Geschichte sorgt auch in Justizkreisen für Argwohn, man spricht von einem „komischen Fall“. Hätte nicht früher auffallen müssen, dass Muslim H. gefährdet war?
Der Flüchtlingsrat Bayern wirft den Behörden Verantwortungslosigkeit vor. Nach eigener Aussage forderte die Organisation bereits nach H.s Festnahme, dass er psychologisch untersucht wird. Auch wenn ein psychologisches Gutachten geplant war: „Da haben die Behörden falsche Prioritäten gesetzt“, sagt Dünnwald. Staatsanwalt Kring sagt, H. habe sich weder während seiner Haft in Passau noch in Landshut auffällig verhalten. Nach der Flugzeugentführung habe er bereitwillig aufgegeben und sich abführen lassen. Demnach seien die Anforderungen für eine Unterbringung in einer Psychiatrie nicht einmal im Ansatz erfüllt gewesen.
Was genau zum Tod von Muslim H. führte, soll nun der toxikologische Befund der Rechtsmedizin klären. Was ihn zur Verzweiflung trieb, scheint mittlerweile jedoch eindeutig.