Ein Comic über europäische Migrationsverhältnisse, der aufrütteln sollte
Von Martin Reiterer
23.000 Menschen sind seit dem Jahr 2000 auf dem Weg nach Europa umgekommen oder verschwunden. Das ist vor kurzem durch das Projekt „The Migrants Files“ bekannt geworden. Die Erschütterung angesichts dieser Zahl zeigt aber auch, wie sehr wir Menschen im Allgemeinen, und die europäische Öffentlichkeit im Besonderen, abgebrüht zu sein scheinen gegenüber den niedrigeren Zahlen, die uns fast alltäglich über Unglücksfälle im Zusammenhang mit Flüchtlingen ins Haus gesandt werden.
Zahlen, die vergessen werden
Hinzu kommt, dass Zahlen allmählich wieder in Vergessenheit geraten, solange die Menschenschicksale, die hinter ihnen stehen, nicht an Anschaulichkeit gewinnen, die wir brauchen, um zu verstehen. Der Finne Ville Tietäväinen hat in fünfjähriger Arbeit und mit größter Sorgfalt einen Comic gezeichnet, der differenzierte Einblicke in die Situation von Flüchtlingen vermittelt, für die Europa ein Hoffnungsschimmer darstellt(e). In „Unsichtbare Hände“ geht es um jene Gruppe von Menschen, die ohne Papiere von Afrika nach Europa, genauer: von Marokko nach Spanien kommen. Sie sind nicht abgeschoben, sondern sie werden an die Gewächshausindustrie in der Provinz Almería (Andalusien) vermittelt.
In Form von Comic-Reportagen haben in letzter Zeit bereits mehrfach Zeichner auf die Situation von Flüchtlingen in Europa aufmerksam gemacht. Neben der deutschen Zeichnerin Paula Bulling („Im Land der Frühaufsteher“) hat auch der in den USA lebende, auf Malta geborene Comicstar Joe Sacco eine Reportage über die „Unerwünschten“ auf der Mittelmeerinsel gezeichnet („Reportagen“). Tietäväinens „Unsichtbare Hände“ beruhen gleichfalls auf intensiven Recherchen und Gesprächen mit Flüchtlingen, Schwarzarbeitern, Grenzbeamten und Menschenhändlern, die der Autor zusammen mit dem Anthropologen Marko Juntunen in Marokko und Spanien durchgeführt hat.
Comic anstatt Reportage
Anstatt für eine Reportage hat sich Tietäväinen für eine Comicerzählung entschieden, die die vielfach dokumentierten fragmentarischen Einzelerlebnisse in ein anschauliches Bild zusammenfasst und in einen Lebenszusammenhang einbettet.
Auf mehr als 200 großformatigen und aufwendig kolorierten Seiten erzählt der Autor die Geschichte Rashids: Der Schneidergehilfe lebt in einem Armenviertel in Tanger, nach verzweifelten Versuchen, seine Familie durchzubringen, entscheidet er sich für die „Harraga“, so die arabische Bezeichnung für die illegale Einreise in die EU. Mit der Überfahrt auf der Meerenge von Gibraltar setzt die Erzählung ein: Es handelt sich lediglich um 14 Kilometer, aber unter den Bedingungen zeitgemäßer Schlepperei, nachts auf einem kleinen, überfüllten Boot, wird das Unterfangen für jeden Einzelnen zu einem Risiko auf Leben und Tod.
Während Rashid die lebensgefährliche Reise übers Meer überlebt, erwartet ihn auf der anderen Seite ein zäher Überlebenskampf als Arbeiter in den Plastik-Gewächshäusern unter sklavenähnlichen Bedingungen, was der Comic in seiner ganzen Vielschichtigkeit präzise darstellt. Dass die andalusische Intensivkultur – wie der Fachbegriff für die auf Anwendung intensiver Düngemittel und Pestizide fußende Anbauindustrie lautet – auch als „Plastikmeer“ bezeichnet wird, drängt unfreiwillig ein zweites Mal das Bild des unaufhörlich vom Ertrinken Bedrohten auf. Und noch eines setzt sich fort: „Europa sieht vom Meer auch nicht anders als Afrika aus“, hatte Rashid auf der Überfahrt festgestellt. Jetzt, angesichts des Plastikplanenmeers bestätigt sich diese „hnlichkeit, als trostlose Ernüchterung: „Ganz .. . wie Guadalupe, der Slum . . . um meine Heimatstadt.“ Das bittere Ende einer Illusion dauert an.
Tietäväinens Zeichnungen, sein gelegentlich grober Strich, mögen mitunter gewöhnungsbedürftig sein, bemerkenswert ist jedoch, wie sein Comic eine ganze Reihe von Fragen zur Sprache bringt: Welche Überlegungen und Sachzwänge gehen einer Flucht voraus? Wie ticken die Schlepperfirmen und welche Schlingen und Fallen legen sie? Welche persönlichen Konflikte ergeben sich für die Betroffenen in Europa? Welche Rolle spielen Religion und ethnische Zugehörigkeit? Und wie funktioniert das System der „illegalen“ Arbeitgeber?
Komplexe Figuren
Ohne Beschönigung gibt Tietäväinen den Figuren die Komplexität zurück, die ihnen nur allzu oft abgesprochen wird. Unüberhörbar ist allerdings auch der Aufruf an Europa: Das System der Ausbeutung dokumentenloser Migranten in Almería (was auf Arabisch mit unbeabsichtigtem Zynismus „Meeresspiegel“ heißt) trägt Züge eines dislozierten (Post-)Kolonialismus und stellt die Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik der EU zutiefst infrage. „Es ist ein unglückseliger Kreislauf“, so der Autor, „für den die EU mitverantwortlich ist.“ Indem sie zulässt, dass ein ganzer Kontinent mit Billiggemüse versorgt wird, das unter menschenunwürdigen Verhältnissen produziert wird. Indem sie dieses Wirtschaftsmodell tatsächlich jahrelang subventioniert (hat). Indem sie in den Ausbau der „Festung Europa“ unverhältnismäßig viel mehr investiert als in die Beseitigung der Ursachen der Ausbeutung.
Neben all den erschütternden Geschichten kommt es im Comic immer wieder auch zu berührenden Szenen und melancholischen Bildern. Von einem mauretanischen Reisegefährten erhält Rashid einen Walkman mit Liedern eines finnischen Schlagersängers: Die Liedtexte, die im Comic als rätselhafte Geheimwörter unübersetzt bleiben, erzählen, so Tietäväinen in einem Interview, von Heimweh und Einsamkeit finnischer Gastarbeiter im Ausland. Europa hätte die Voraussetzungen, dies besser zu verstehen.
via Wiener Zeitung