In Libyen warten Hunderttausende Menschen auf ihre Flucht nach Europa. Der zerfallene Staat ist seit der Intervention des Westens 2011 ein Paradies für Schmugglerbanden.
von Ulrich Ladurner
600.000 Menschen warten in Nordafrika darauf, auf den europäischen Kontinent überzusetzen. Oder sind es 300.000? Oder irgendwas dazwischen? So ganz genau kann der italienische Innenminister Angelino Alfano es nicht sagen. Aber die Monsterzahl hat er schon mal in die Welt gesetzt. Alfano berief sich auf Berechnungen seiner Geheimdienste. Geheimdiensten aber sollte man nicht trauen, aus Prinzip und aus Erfahrung nicht.
Wer mit einer so riesigen Zahl von 600.000 hantiert, suggeriert das Bild einer bevorstehenden Massenbewegung von den Ausmaßen einer sturzbachartig sich zutragenden Völkerwanderung. Er evoziert die Vision eines belagerten Kontinents. Das schürt bei den Europäern tiefsitzende Ängste – und sie werden sich bald in den Wahlergebnissen niederschlagen. Am 25. Mai wählen die Europäer ein neues Parlament. Rechtspopulistische Parteien, die mit eben solchen Ängsten vor einer Invasion arbeiten, sind im Aufwind.
Nein, das hier ist keine Verschwörungstheorie. Das ist nur ein Hinweis darauf, dass Geheimdienstinformationen immer hinterfragt werden müssen, auf ihren Wahrheitsgehalt und auf ihre politischen Motive.
Das Label der „Schutzverantwortung“
Und nein, das hier ist auch keine Leugnung, dass Migration aus Nordafrika eine zentrale Herausforderung für Europa ist. Weil es aber so ist, ist Präzision gefragt. Wenn man schon den Blick auf Nordafrika richtet, sollte er schärfer und genauer sein. Wohin also sollte man etwa schauen? Nach Libyen.
Dort herrschen heute — nach allem was man weiß — Milizen. Der Staat scheint zerfallen zu sein. Es ist ein Paradies für Schmugglerbanden.
Libyen ist Somalia am Mittelmeer, das ist freilich eine Übertreibung — aber keine allzu große.
Sie soll auch dazu dienen, die Europäer aufzurütteln. Libyen? War da was?
Ja, da war was.
Als es 2011 darum ging, den Diktator Muammar al-Gaddafi zu stürzen, da waren mit Ausnahme der Deutschen alle Europäer sehr engagiert, allen voran die Franzosen und Briten, auch die Italiener mischten ordentlich mit. Die Intervention der Nato führte man unter dem Label der „Schutzverantwortung“, welche die internationale Gemeinschaft überall auf der Welt für bedrängte Zivilisten habe.
Diese „responsibilitiy to protect“ aber ist nach ihren Erfindern ein Dreistufenmodell. Stufe 1: Vorbeugen. Stufe 2: Intervention. Stufe 3: Wiederaufbau. Drei Stufen, die also mit einander verbunden sind.
In Sachen Libyen gab es nur Stufe 2: Intervention — und dann kam das große Vergessen. Die große Leere. Und die italienischen Geheimdienste füllen sie mit der Zahl von 600.000 Menschen, die auf dem Sprung nach Europa seien. Vielleicht — man sollte ja nicht ungerecht sein — vielleicht will der italienischen Innenminister Angelino Alfano auch nur das, was dieser Artikel versucht: Libyen dem Vergessen zu entreißen.