16. März 2014 · Kommentare deaktiviert für Die Verzweiflung am Todesstrand Marokkos · Kategorien: Marokko, Spanien

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„Die Verzweiflung am Todesstrand Marokkos

Ihr Elend treibt Flüchtlinge in Marokko immer häufiger zu Verzweiflungstaten. In Massenanstürmen wollen sie die einzige Landesgrenze zu Europa überwinden und sterben im Kugelhagel. Eine Reportage.
von Alfred Hackensberger

Der Todesstrand liegt gleich hinter der Grenze. Es ist ein schmaler Streifen aus schwarzem Sand, der sich entlang der Straße hinzieht. Hier versuchten rund 250 Menschen aus Afrika, durch das 14 Grad kalte Wasser des Mittelmeers europäischen Boden zu erreichen. Sie wollten – koste es, was es wolle – über das Meer die Stadt Ceuta erreichen. Ceuta ist eine von zwei spanischen Enklaven auf marokkanischem Territorium im Norden des Landes.

In den Augen afrikanischer Flüchtlinge auf der Suche nach einem besseren Leben steht die Stadt für den Neuanfang. 16 von ihnen bezahlten für den Versuch, die Stadtgrenzen zu überwinden, mit ihrem Leben. Sie ertranken im Hagel aus Gummigeschossen und Rauchgranaten der spanischen Polizei, der Guardia Civil. „Schüsse knallten unaufhörlich, und plötzlich konnte man nichts mehr sehen“, erzählt Lamin aus Gambia, der ebenfalls an diesem Tag dabei war, um ins gelobte Land Europa zu gelangen. Er gehörte allerdings zu denjenigen, die es nicht auf die spanische Seite der Grenze schafften. „Marokkanische Sicherheitsbehörden waren plötzlich da und machten erbarmungslos Jagd auf uns“, berichtet der 20-Jährige. „Nur einer unserer Gruppe, Ali, erreichte Spanien. Aber er war einer von denen, die dort starben.“
Der Massensturm auf die Grenze in Ceuta ist der blutigste Zwischenfall in der jüngsten Geschichte der spanischen Enklaven in Marokko. Nur 2005 hatte es einen ähnlichen Vorfall geben. Damals starben im September mindesten zehn Menschen beim Versuch, den Grenzzaun nach Spanien zu überqueren. Die marokkanische Polizei soll auf die Migranten mit scharfer Munition geschossen haben. Seit dieser Zeit war es ruhig geblieben. Menschen aus Kamerun, dem Senegal, Niger, dem Tschad oder dem Sudan machten sich auf Alternativrouten nach Europa.

[…] Laut der Vereinigung für Menschenrechte in Andalusien (APDHA) erreichten 2013 insgesamt 4354 Migranten die beiden Enklaven. Im Vorjahr waren es nur 2861 gewesen – eine Steigerung von 34,3 Prozent. Der spanische Geheimdienst sprach von insgesamt 30.000 Migranten, die vor den Toren Ceutas und Melillas lagern, um die einzigen europäischen Landesgrenzen in Afrika mit aller Gewalt zu überqueren. „Diese Zahlen gehören zu einer populistischen Rhetorik, die vor einer bedrohlichen Welle warnt“, glaubt Judith Sunderland von Human Rights Watch (HRW). „In Marokko gibt es rund 25.000 afrikanische Migranten, von denen nicht alle nach Europa wollen. Geschweige denn lagern sie vor den Toren der Enklaven.“

Lamin und seine Gruppe sind wieder in ihr Lager in den Hügeln rund um Ceuta zurückgekehrt. In selbst gebastelten Zelten schlafen die rund 50 jungen Männer aus dem Senegal, Gambia, Niger und Mali in einer kleinen Schlucht zwischen Bäumen. Sie haben sich den Platz ausgesucht, weil er vor dem kalten Wind und den heftigen Regenschauern im Winter etwas schützt. Dazu gibt es einen kleinen Fluss, der sich durch die Berge schlängelt. „Ich habe darin gerade ein Bad genommen“, sagt Lamin, der ein kurzärmliges Trikot der deutschen Fußball-Nationalmannschaft trägt. „Mir ist ganz warm“, versichert der junge Mann, aber nach wenigen Minuten läuft ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Die anderen seiner Gruppe sind alle dick eingemummt, mit Mützen und Anoraks. […]

Einige von ihnen sind schon fünf, manche sogar zehn Jahre in Marokko. Andere sind erst vor drei Monaten oder einem Jahr angekommen. Viele haben Frau und Kinder zu Hause. Alle aber beklagen sie sich über die Brutalität der marokkanischen Polizei, die von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen bereits dokumentiert wurde. „Sie waren erst wieder vor zwei Tagen da“, sagt Babukar aus dem Senegal. „Sie kamen frühmorgens, schlugen uns, zerstörten unsere Zelte, nahmen uns die Handys und unsere Lebensmittel ab.“

„Die Polizisten sind Barbaren“, ruft Ahmedu aus Mali aufgebracht. Der 36-Jährige ist der Älteste im Lager und hat sein Heimatland bereits vor fünf Jahren verlassen. „Man kann von Glück sagen, wenn sie einem nicht die Knochen brechen.“ Alle Umstehenden nicken aufgeregt zur Bestätigung. „Wir haben genug Strapazen hinter uns, und das Leben im Busch ist hart genug“, sagt Lamin verärgert. „Warum muss uns die Polizei noch zusätzlich quälen?“

Die Männer im Camp sind trotz ihrer unterschiedlichen Nationalitäten und Religionen eine verschworene Gemeinschaft. Sie haben eine gemeinsame Kasse, aus der sie Lebensmittel und Medikamente bezahlen. Im Schichtwechsel betteln sie auf der nahe gelegenen Hauptstraße oder in den umliegenden Dörfern. Was sie eint, ist ihr Traum von Europa. „Wir wollen unbedingt nach Spanien, Frankreich oder Deutschland“, sagt der 20-jährige Mohammed, der von einer Fußballprofikarriere als Torwart träumt und den Spitznamen „Neuer“ in Anlehnung an den Torhüter des FC Bayern trägt. Andere wollen als Elektriker, Schreiner oder auf dem Bau arbeiten. „In Europa finde ich immer gut bezahlte Arbeit“, behauptet Mohammed überzeugt, „selbst wenn ich als Torwart kein Geld verdienen sollte.“

Selbstmörderisch sei man jedoch nicht, erklärt Lamin, der einer der drei Camp-Sprecher ist. Man würde nicht jedes Risiko auf sich nehmen, um auf die andere Seite zu kommen. „Wir sparen auf ein Schlauchboot, mit dem wir übers Mittelmeer rudern können.“ Es werde allerdings noch viele Monate dauern, bis sie das Geld dafür zusammenhaben. „Aber wir sitzen jetzt nicht herum und warten“, fügt Lamin an. „Wenn der Grenzzaun wieder gestürmt wird, sind wir natürlich dabei.“ Dass sie dabei sterben können, darüber will keiner sprechen. Wann es das nächste Mal losgeht, wissen sie noch nicht. „Wir werden informiert“, sagt Lamin. „Es gibt so viele Gruppen, die irgendwo im Wald campieren, und wir sind mit ihnen im ständigen Kontakt.“

[… ] In Nador, der marokkanischen Grenzstadt zu Melilla, ist die Lage angespannt. Hier sollen einige Tausend Migranten in den Hügeln von Gourgour lagern. Es sind deutlich mehr als in Ceuta. Die algerische Grenze ist von Nador keine 100 Kilometer entfernt. Über das Nachbarland kommen alle neuen Flüchtlinge aus Afrika. Bis August hatte Marokko noch die meisten Migranten ins Niemandsland an der Grenze zu Algerien deportiert, die aber direkt wieder zurückkamen. Marokko reformiert gerade seine Immigrationspolitik, vergibt Aufenthalts- sowie Arbeitsgenehmigungen und setzt Migranten nicht einfach irgendwo aus.

Trotz erster positiver Schritte: Nach Gourgour in die Flüchtlingscamps‎ zu gelangen ist angesichts der Polizeipräsenz beinahe unmöglich. Jeder Wagen, der in den Augen der Behörden verdächtig ist, wird verfolgt und kontrolliert. „Wir sind auf der Suche nach Provokateuren“, rechtfertigt sich ein Zivilfahnder, der wie ein Mann des Geheimdienstes wirkt. „Wir müssen das marokkanische Volk beschützen.“ Man versucht, die Flüchtlingsproblematik so gut wie möglich von der Öffentlichkeit fernzuhalten.

„Jeden Tag kommen drei, fünf oder vielleicht auch zehn, die es über die Grenze geschafft haben“, sagt Carlos Montero Diaz. Er ist der Direktor des Zentrums für temporären Aufenthalt von Immigranten (CETI) in Melilla. Nach den Massenanstürmen am Grenzzaun ist sein Zentrum hoffnungslos überfüllt. „Wir haben Platz für 482 Menschen, heute sind es jedoch 1025.“ Man müsse ständig erweitern und nachdenken, wie mehr Unterkünfte geschaffen werden könnten. „Dabei geht es nicht nur um Schlafplätze“, erläutert Diaz. „Die Leute werden medizinisch versorgt, eine Sozialarbeiterin kümmert sich um die Probleme der Flüchtlinge, es gibt Spanischkurse, Fortbildungen für Erwachsene, und die Kinder brauchen Schulbildung.“ Es sei eine Rundumversorgung für die Insassen, die ihr Lager aber nicht verlassen könnten.

Die Menschen im Camp stammen aus insgesamt 40 verschiedenen Ländern. Der überwiegende Teil kommt aus Afrika, es gebe aber auch Leute aus Pakistan, Bangladesch, Myanmar, und seit letzten Sommer seien auch Syrer dazugekommen. Sie sind auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg zwischen Rebellen und dem Regime von Präsident Baschar al-Assad. „Wir spüren hier alle Auswirkungen der Konflikte Afrikas und des Nahen Ostens“, sagt der Leiter des Immigrationszentrums. „Was in Melilla und in Ceuta passiert, betrifft ganz Europa.“ Jeden Monat werden Migranten aus dem Auffanglager auf die spanische Halbinsel gebracht. „Diesen Monat waren es 44 Afrikaner und 295 Syrier, die als Kriegsflüchtlinge unser Zentrum verlassen konnten.“ […]

In Spanien werden die Migranten ebenfalls in einer staatlichen Institution untergebracht, aber die können sie nach einigen Wochen verlassen. In den Enklaven ist der Aufenthalt bis zu fünf Jahre befristet. „Ich bin mit Frau und Sohn bereits ein Jahr und sechs Monate in Melilla“, sagt Kevin aus Nigeria, der im Stadtzentrum von Melilla für einige wenige Euros Taxis wäscht. „Ich weiß bis heute nicht, wie es weitergehen wird. Alles steht in den Sternen.“ Kevin ist einer der wenigen, der in einem Motorboot entlang der marokkanischen Küste in die Enklave geschmuggelt wurde. „500 Euro habe ich für mich und meine damals schwangere Frau bezahlt.“ So viel Geld haben die meisten der Migranten nicht. Deshalb versuchen sie, über den Zaun zu klettern. „Das ist kostenlos“, sagt Kevin und wischt noch einmal mit seinem Tuch über das Fenster eines Wagens.

Der Flüchtlingsstrom wird weiter ansteigen, davon ist der Leiter des Auffanglagers in Melilla überzeugt. „Solange Europa nicht in den Ursprungsländern investiert, um dort die Entwicklung anzukurbeln, wird alles noch schlimmer.“ Seiner Meinung nach müssen die Ursachen hinter der Flucht – Armut und Arbeitslosigkeit – bekämpft werden, und nicht deren Symptome. „Erst dann wird es keine Menschen mehr geben, die in Melilla und Ceuta die Grenzzäune stürmen.“

Der Delegierte der spanischen Regierung in Melilla plädiert hingegen für Einwanderungsbeschränkungen. „Sie müssen gerecht und solidarisch sein“, sagt Abdelmalik al-Barkani, der erste Muslim in dieser Position. Aufklärungsarbeit in den Ursprungsländern der Migranten ist in seinen Augen unverzichtbar. „Man sollte Visa für drei oder sechs Monate erteilen, damit die Menschen sehen, auf was sie sich einlassen“, sagt der 52-Jährige. Die meisten seien doch in Europa verloren, und viele würden auf der Straße als Kriminelle oder in der Prostitution enden. „An diesem neuerlichen Flüchtlingsstrom tragen auch die Mafia und Menschenhändler einen bedeutenden Anteil“, sagt al-Barkani. Ohne sie würde es nicht so viele Migranten geben. […]

Von Informationskampagnen sind die Europäer jedoch weit entfernt. Am Freitag wurde in Paris auf einem Vierergipfel von Spanien, Marokko, Frankreich und Portugal über die Kontrolle der Grenzen und den „Kampf gegen irreguläre Einwanderung“ verhandelt. Auf einem Treffen am Rande verständigten sich der spanische und der marokkanische Innenminister auf die Notwendigkeit eines „koordinierten Verfahrens“. Konkret bedeutet das: unmittelbare Deportation aller, die Ceuta und Melilla illegal betreten. Für al-Barkani, den Vertreter Madrids in der Enklave, ist das ein sinnvoller Schritt. „Es muss etwas getan werden und das möglichst schnell“, sagt er. „Sonst kommen mehr und mehr, und alles läuft aus dem Ruder.“

Für Lamin, Babukar, Mohammed und all die anderen Migranten, die in den Wäldern in Marokko hausen, mag das alles wie ein Komplott klingen. Sie haben das Gefühl, die Europäer beraubten sie ihrer Zukunftschancen. Dabei haben sie und ihre Familien jahrelang so viele Opfer und Strapazen auf sich genommen, um dem Elend zu entfliehen. Aber auch eine Verschärfung der Gesetze wird sie nicht abhalten können. „Die Marokkaner haben mich dreimal verhaftet, deportiert, und jedes Mal bin ich wiedergekommen“, sagt Mohammed aus dem Lager in der Nähe von Ceuta. „Mir bleibt keine Alternative. Zu Hause habe ich nichts“, sagt er und zieht den Reißverschluss seines Anoraks hoch, um ein bisschen weniger zu frieren.“

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