23. Juli 2013 · Kommentare deaktiviert für Fahndung nach Flüchtlingen / MigrantInnen und der Antiterrorismus · Kategorien: Deutschland · Tags:

Der NATO-Bündnisfall

http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58646
(Eigener Bericht) – Aktuelle Medienberichte bestätigen die Einbindung auch des deutschen Inlandsgeheimdienstes in die Internetspionage-Kooperation mit den Vereinigten Staaten. Demnach verfügt nicht nur der Bundesnachrichtendienst (BND), sondern auch das für die Spionage im Inland zuständige Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) über eine spezielle NSA-Software namens XKeyscore, die umfassende Ausspäh-Maßnahmen erlaubt; die Rede ist von annähernder „Totalüberwachung“.

Das BfV war bereits zuvor eng in die transatlantische Geheimdienstkooperation eingebunden. Die Behörde beteiligte sich mehrfach an Verhören deutscher oder in Deutschland ansässiger Opfer von CIA-Verschleppungen; Klagen von Gefangenen etwa in syrischer Haft über dort erlittene Folter wurden ignoriert. Verhöre eines deutschen Staatsbürgers durch einen BfV-Mitarbeiter in einem – für Folter berüchtigten – Gefängnis in Afghanistan sind zumindest für das Jahr 2010 noch belegt. Der frühere Schweizer Sonderermittler des Europarats Dick Marty bekräftigt seine Ansicht, die zur Zeit scharf kritisierte NSA-Internetspionage gehe – wie die CIA-Verschleppungspraktiken – auf die Ausrufung des NATO-Bündnisfalls am 4. Oktober 2001 zurück. Dass der Bündnisfall bis heute in Kraft ist, hat der Deutsche Bundestag zuletzt im Dezember 2012 bestätigt.

Annähernd Totalüberwachung
Wie der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, einräumt, ist der deutsche Inlandsgeheimdienst im Besitz der Spionagesoftware XKeyscore. Dabei handelt es sich um ein Programm, das vor allem vom US-Militärgeheimdienst NSA genutzt wird. Es ermöglicht einem Medienbericht zufolge „annähernd die digitale Totalüberwachung“.[1] Mit ihm lasse sich etwa „rückwirkend sichtbar machen, welche Stichworte Zielpersonen in Suchmaschinen eingegeben haben“. Zudem sei es „in der Lage, für mehrere Tage einen ‚full take‘ aller ungefilterten Daten aufzunehmen“; dieser umfasse neben den allgemeinen Verbindungsdaten „auch zumindest teilweise Kommunikationsinhalte“. Die NSA speise, heißt es, in XKeyscore einen großen Teil des von ihr abgegriffenen deutschen Online-Datenmaterials ein. BfV-Chef Hans-Georg Maaßen, der noch zu Monatsbeginn behauptet hatte, nichts von dem NSA-Spähprogramm Prism zu wissen, und der Mitte Juli geäußert hatte, man werde in Zukunft noch entschlossener gegen Internet-Spionage in Deutschland vorgehen müssen, besteht nun auf der Aussage, die aus den USA gelieferte Software werde in seiner Behörde lediglich „getestet“; Datenaustausch mit US-Diensten werde mit ihr nicht bewerkstelligt.[2]

Folter
Der Fall XKeyscore belegt einmal mehr, dass nicht nur der BND, sondern auch der deutsche Inlandsgeheimdienst spätestens seit dem 11. September 2001 aktiv an der umfassenden Kooperation der westlichen Spionageapparate teilnimmt. Das beinhaltet keineswegs nur den Informationsaustausch, sondern etwa auch die Anwesenheit bei Verhören von Opfern der CIA-Verschleppungen. Ein Beispiel ist ein Verhör des Deutsch-Syrers Mohammed Haydar Zammar in einem Damaszener Foltergefängnis in der zweiten Novemberhälfte 2002. Der in Deutschland ansässige Zammar war 2001 – vermutlich mit Hilfe von Informationen deutscher Behörden – auf Betreiben der CIA in Marokko ergriffen und anschließend in die syrische Hauptstadt verschleppt worden, wo er mutmaßlich gefoltert wurde. Im Juli 2002 erhielten deutsche Behörden erste Verhörprotokolle, wobei über die syrische Folterpraktiken keinerlei Illusionen bestehen konnten: Der damalige Kanzleramts-Referent Guido Steinberg – heute Mittelost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) – hatte gewarnt, in Syrien sei „bei Gefangenen mit politischem Hintergrund Folter eher die Regel als die Ausnahme“ (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Die beiden Mitarbeiter des BfV, die im November 2002 dennoch an der Befragung Zammars in Damaskus teilnahmen, mussten zur Kenntnis nehmen, dass dieser sich bei ihnen tatsächlich über Folter beklagte. Der damalige BfV-Präsident Heinz Fromm beruhigte den BND-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages im März 2008 jedoch, Zammar habe „nicht den Eindruck gemacht, als stehe er unter Druck“.[4]

Ein transatlantischer Freundschaftsdienst
Ein weiterer derartiger Fall betrifft nicht nur das BfV allgemein, sondern seinen heutigen Präsidenten persönlich; er zeigt darüber hinaus besondere Vorteile der transatlantischen Geheimdienstkooperation. Dabei handelt es sich um die Vernehmung des in Bremen ansässigen, im Januar 2002 von der CIA aus Afghanistan nach Guantánamo verschleppten Murat Kurnaz sowie eines zweiten aus der Bundesrepublik stammenden Häftlings am 23. und 24. September 2002; das Verhör führten zwei Mitarbeiter des BND und ein Angestellter des BfV vor Ort in Guantánamo durch. Kurnaz sei damals „sehr froh und erleichtert“ gewesen, „endlich ein deutsches Befragerteam zu sehen“ und nicht eines aus den USA, deren Geheimdienst ihn verschleppt hatte, hieß es danach in einem Bericht des BND: In der Hoffnung auf „Vorteile bis hin zu einer früheren Entlassung“ habe der Internierte „alle Fragen offen“ und „ausführlich“ beantwortet. In einem weiteren Vermerk urteilte das BfV, das Geheimdienst-Team habe Kurnaz beim Verhör „glaubhaft vermittelt“, er sitze „nur einer befragenden Institution gegenüber“ – einer deutschen.[5] Dies aber war nicht der Fall: Die Deutschen waren, wie es in einem BfV-Vermerk vom 29. Oktober 2002 heißt, in Begleitung eines US-Geheimdienstlers vom Joint Intelligence Staff in Berlin angereist, der Kurnaz nicht als solcher kenntlich war, zumal er perfekt Deutsch sprach. BND und BfV verhalfen den US-Diensten mit dieser – mutmaßlich illegalen – Täuschung zu einem erfolgreichen Verhör.

Eine transatlantische Karriere
Wie die nach Guantánamo entsandten deutschen Geheimdienst-Mitarbeiter später übereinstimmend berichteten, boten ihre dortigen US-Kontaktpersonen – autorisiert durch das Pentagon – damals an, Kurnaz in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen. Die rot-grüne Regierungskoalition lehnte dies jedoch ab. In einem Gutachten begründete dies der damalige Referatsleiter für Ausländerrecht im Bundesinnenministerium mit der Behauptung, Kurnaz, der einen türkischen Pass besaß, habe durch seine mehr als sechsmonatige Abwesenheit – gemeint war die US-Folterhaft in Kandahar und Guantánamo – sein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik verwirkt. Diese Behauptung, die Kurnaz vier weitere Jahre Haft auf der US-Militärbasis einbrachte – er konnte letztlich erst im August 2006 nach Deutschland ausreisen -, wurde vom Verwaltungsgericht Bremen als gesetzeswidrig eingestuft. Der Referatsleiter stieg dennoch 2008 zum Abteilungsleiter für Terrorismusbekämpfung im Bundesinnenministerium auf – und wurde schließlich im Juli 2012 Präsident des BfV. Hans-Georg Maaßen, der noch vor wenigen Tagen bekräftigt hat, nichts von den US-Spähprogrammen zu wissen, auf deren Resultate die US-Behörden auch ihre Operationen gegen in Deutschland ansässige Personen stützen, ist im vergangenen Juli mit dem Bemühen gescheitert, an der Freien Universität (FU) Berlin eine Honorarprofessur zu bekommen. Der Akademische Rat der FU wies sein Ansinnen mit Verweis auf die Kurnaz-Affäre zurück.

4. Oktober 2001
Die praktische Kooperation des BfV mit den US-Diensten ist deswegen auch für die transatlantischen Aktivitäten in Sachen Internetspionage von Bedeutung, weil beides nach Auffassung von Experten auf NATO-Beschlüsse aus der Zeit unmittelbar nach dem 11. September 2001 zurückgeht. So hat etwa der frühere Sonderermittler des Europarats zu Verschleppungen und Geheimgefängnissen der CIA, der Schweizer Liberale Dick Marty, kürzlich seine Auffassung bekräftigt, Ausgangspunkt für sämtliche gemeinsamen Geheimdienst-Aktivitäten sei die Auslösung des NATO-Bündnisfalls, die am 12. September 2001 ausgerufen und am 4. Oktober 2001 in aller Form beschlossen wurde. Laut Marty wurde noch am 4. Oktober 2001 eine Geheimsitzung einberufen, auf der die Geheimdienste – unter Führung der CIA – faktisch freie Hand erhielten.[6] Dazu passt die Erklärung der Bundesregierung, es gebe zwar alte Übereinkünfte mit den Alliierten des Zweiten Weltkriegs, die höchst umfassende Geheimdienst-Aktivitäten etwa der USA auf bundesdeutschem Boden erlaubten (german-foreign-policy.com berichtete [7]); doch seien sie nicht der Hintergrund der aktuellen Ausspäh-Aktionen.

Bis heute in Kraft
Tatsächlich ist der „Bündnisfall“ ungebrochen in Kraft – bis heute. Zuletzt hat dazu der Deutsche Bundestag am 13. Dezember 2012 erklärt [8]: „Der Angriff auf die USA im Sinne des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen, aus dem die gemeinsame Reaktion der NATO resultierte, war mit den Anschlägen des 11. September 2001 nicht abgeschlossen, sondern wurde fortgesetzt, hat auch in weiteren Anschlägen und Anschlagsversuchen seinen Ausdruck gefunden und dauert bis heute an.“ Entsprechend sind die Geheimvereinbarungen vom 4. Oktober 2001, die Marty bereits vor Jahren anprangerte [9], mutmaßlich ebenfalls noch wirksam. Ob einige aufsehenerregende Fälle nicht nur der Jahre 2001 bis 2006, sondern auch noch der jüngsten Zeit auf sie zurückgehen, ist bisher völlig ungeklärt. So wurde etwa in der Zeit vom 3. bis 6. Oktober 2010 sowie am 27. und 28. November 2010 ein deutscher Staatsbürger von Mitarbeitern des BND und des BfV im für Folter berüchtigten US-Militärgefängnis Bagram bei Kabul verhört – ganz wie Kurnaz im September 2002 in Guantánamo.[10] Im Oktober 2010 wurde ein anderer deutscher Staatsbürger, Bünyamin E., in Pakistan unweit der Grenze zu Afghanistan durch eine US-Drohne getötet; welche Angaben über ihn die deutschen Behörden zuvor an US-Dienste übermittelt hatten, ist bis heute nicht geklärt.[11] Am 1. Juli hat der Generalbundesanwalt mitgeteilt, man habe das wegen E.’s Tötung eingeleitete Strafverfahren eingestellt: Weil E. „einer organisierten bewaffneten Gruppe“ angehört habe, sei der tödliche Angriff auf ihn „kein Kriegsverbrechen“.[12] Mindestens ein weiterer derartiger Fall ist bekannt, wird von der Bundesregierung jedoch beschwiegen – ganz wie die Internet-Spionage, an der sich nicht nur der Auslands-, sondern auch der Inlandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland beteiligt, nach Auffassung von Experten wie Dick Marty im Rahmen des NATO-Bündnisfalls.

Weitere Informationen zur Thematik finden Sie hier: Befreundete Dienste (I), Befreundete Dienste (II), Die westliche Wertegemeinschaft, Bei Freund und Feind und Kein Rechtsstaat.

[1] Deutsche Geheimdienste setzen US-Spähprogramm ein; www.spiegel.de 20.07.2013
[2] Der Aufklärungsdruck wächst; www.tagesschau.de 21.07.2013
[3] s. dazu Deutsch-syrischer Herbst
[4] Verfassungsschutz machte gemeinsame Sache mit Syrien; www.tagesspiegel.de 06.03.2008
[5] Rechtswidrige Vernehmung; www.berliner-zeitung.de 27.01.2013
[6] Ist der Nato-Bündnisfall der Schlüssel? www.berliner-zeitung.de 09.07.2013
[7] s. dazu Befreundete Dienste (I), Bei Freund und Feind und Kein Rechtsstaat
[8] Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen; Deutscher Bundestag, Drucksache 17/11466
[9] s. dazu Oktober 2001
[10] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Neskovic, Christine Buchholz, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE vom 1. April 2011; Deutscher Bundestag, Drucksache 17/5074
[11] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Herbert Behrens, Nicole Gohlke weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE vom 6. Mai 2013; Deutscher Bundestag, Drucksache 17/13169
[12] Keine Anklage wegen eines Drohnenangriffs in Mir Ali/Pakistan am 4. Oktober 2010; www.generalbundesanwalt.de 01.07.2013

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