19. Juli 2013 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge und MigrantInnen im Kampf für globale Bewegungsfreiheit“ (Hagen Kopp) · Kategorien: Lesetipps · Tags:

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Gegen Ausgrenzung und Entrechtung
Flüchtlinge und MigrantInnen im Kampf für globale Bewegungsfreiheit

Auf Plätzen von Berlin bis Wien, in den Internierungslagern in Griechenland oder bereits im Vorfeld des EU-Grenzregimes in Tunesien: die vielfältigen Kämpfe von Flüchtlingen und MigrantInnen verdichten sich. Spätestens seit Herbst letzten Jahres hat sich auch in Deutschland eine neue Welle selbstorganisierter Proteste entwickelt, gleichzeitig gewinnen transnationale Projekte an Kontinuität und Bedeutung.

Berlin am 13. Oktober 2012: angeführt von selbstorganisierten Flüchtlingen, die zuvor in mehreren Städten lokale Protestzelte und danach einen einmonatigen Marsch quer durch Deutschland organisiert hatten, ziehen rund 6000 DemonstrantInnen durch die Hauptstadt. Die Abschaffung der Lager und der Residenzpflicht sowie ein Stopp aller Abschiebungen bilden die drei Hauptforderungen, für die bundesweit selten zuvor so viele Menschen gemeinsam auf die Strasse gegangen sind. Antirassistischer Widerstand findet seitdem eine verstärkte Öffentlichkeit und bleibt dynamisch und ausdauernd: ein Protestcamp wird in Berlin selbst über den Winter gehalten, die nigerianische Botschaft wird wegen ihrer Kollaboration mit den deutschen Abschiebebehörden besetzt. In mehreren Bustouren bereisen die bereits organisierten Flüchtlinge unzählige Lager und  Wohnheime in allen Bundesländern, um die Nichtorganisierten anzusprechen und zu mobilisieren. Sie müssen in völlig abgelegenen „Dschungel“-Lagern wohnen, in heruntergekommenen Kasernen oder überfüllten Containern. Der Landkreis als Grenze, Gutscheine oder Lebensmittelpakete statt Bargeld, und ein Anspruch auf medizinische Versorgung allenfalls im Notfall: auf allen Ebenen sollen Asylsuchende zu spüren bekommen, dass sie unerwünscht sind. Systematisch wird ein selbstbestimmtes Leben verweigert. „Break Isolation“ lautet deshalb ein zentraler Slogan der Selbstorganisierten gegen das Lagerregime, denn es ist die Vereinzelung der Flüchtlinge, die die Betroffenen in Ohnmacht und Verzweiflung halten soll.

Empowerment gegen die verordnete Ohnmacht
In mehreren Städten haben sich in den letzten Jahren aktive Kerne von FlüchtlingsaktivistInnen gebildet und zunehmend besser vernetzt, insbesondere in der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen. Aus eigener Erfahrung wissen sie, dass die Ermutigung im Alltag  ein entscheidender Faktor für eine kontinuierliche Selbstorganisierung ist: sich selbstbewusst gegen den verbreiteten Rassismus von Hausmeistern in den Lagern zu wehren, sich von den Sachbearbeitern der Ausländerbehörden nicht mit Abschiebeandrohungen einschüchtern zu lassen, sich einer „Residenzpflicht“ zu widersetzen, die allenfalls mit willkürlichen Genehmigungen das Reisen über die Landkreisgrenze hinaus erlaubt. Diese konkreten Erfahrungen der Selbstbehauptung bleiben die überzeugenden Ausgangspunkte bei Besuchen und Treffen direkt in den Lagern, aber auch bei regionalen und bundesweiten Konferenzen. Und dieser bestehende alltägliche Widerstand gegen die rassistischen Sondergesetze traf im Frühjahr 2012 auf die überraschende Dynamik einer Protestwelle, dessen Auslöser der Tod eines Asylsuchenden in Würzburg war. Aus Angst vor Abschiebung und verzweifelt über seine Situation im Lager hatte sich dort ein iranischer Mann das Leben genommen. Seine Bekannten und MitbewohnerInnen waren nicht gewillt, diesen Tod als „bedauerlichen Vorfall“ hinzunehmen, als den ihn die Behörden und Medien in üblicher Manier abhandeln wollten. Vielmehr organisierten sie einen hartnäckigen und entschiedenen Protest inmitten der Stadt, klagten damit die unmenschlichen Zustände an und inspirierten mit gegenseitigen Besuchen Flüchtlinge in anderen Städten, ebenfalls die elende Lagersituation zu bestreiken. Würzburg war dann einige Monate später auch der Ausgangspunkt des Protestmarsches nach Berlin, mit über 30 Stationen und 600 km zu Fuss. Er wurde zu einem Marsch der Würde, der nicht nur bei den Flüchtlingen selbst sondern auch in der medialen Öffentlichkeit eine zunehmende Aufmerksamkeit gewann.

Auf die Plätze …
Kairo, Madrid, New York: 2011 ist das Jahr, in dem die Besetzungen von öffentlichen Plätzen zu einem zentralen Mittel neuer Protestbewegungen werden. Nicht nur in Deutschland haben Flüchtlinge und MigrantInnen diese Form des Widerstandes aufgegriffen. In Amsterdam, Den Haag und Wien wurden im Herbst 2012 ebenfalls Plätze und später Kirchen besetzt. Und am 23. März 2013 fanden zeitgleich in Bologna, in Amsterdam und Berlin Demonstrationen mit jeweils einigen tausend Beteiligten statt, selbst Budapest erlebte seine ersten Flüchtlingskundgebungen. Diese Parallelität ist längst noch kein Ausdruck einer europaweiten Koordination. Dazu sind die  jeweiligen Ausgangsbedingungen wie auch die Zusammensetzung und die spezifischen Forderungen der Protestierenden zu unterschiedlich. Doch es entstehen mehr und mehr direkte Verbindungen, gemeinsam ist ihnen jedenfalls der Widerstand gegen Entrechtung und Ausgrenzung im „harmonisierten“ europaweiten Migrationssystem. Und nicht selten fließen die Kampferfahrungen entlang der Transitrouten ein. Denn diese neue Welle von Flüchtlingsprotesten und Streiks im Innern der EU korrespondiert mit den ausdauernden sozialen und politischen Kämpfen an den Außengrenzen.

Grenzregime tödlicher Abschreckung
Ob an der griechisch-türkischen Grenze und in der Ägäis, in den Meerengen von Sizilien oder Gibraltar, rund um die Insel Lampedusa oder um die Enklaven Ceuta und Melilla: die Bilder an den verschiedenen Hotspots, den sogenannten Brennpunkten der Außengrenzen, gleichen sich. Monströse Zaunanlagen und High-Tech-Überwachung, EU-finanzierte Abschiebeknäste und Dauereinsätze der Grenzschutzagentur Frontex prägen die Situation entlang der wichtigsten Nachbarstaaten. Die Ukraine, Türkei, Libyen, Tunesien, Marokko und sogar westafrikanische Länder sind aus der Perspektive der EU wesentliche Stationen der Transitmigration und sollen – mittels ökonomischem Druck und finanziellen Anreizen – so weit als möglich in die Migrationskontrolle eingebunden werden. Diese Externalisierungsstrategie, die Vorverlagerung des Grenzregimes Richtung Süden und Osten, hat tausendfachen Tod und Leid zur Folge, einkalkuliert im Sinne einer EU-Abschreckungsstrategie gegen die „illegale Migration“.

Die tödlichen Ereignisse im Oktober 2005 in Ceuta und Melilla, den spanischen Enklaven in Marokko, gelten gemeinhin als Zäsur: auf den kollektiven Sturm von MigrantInnen zur Überwindung der Zäune reagierten spanische und marokkanische Grenzpolizei mit Plastikgeschossen und sogar scharfer Munition. Mindestens 14 Menschen starben, hunderte wurden mit Bussen Richtung algerischer Grenze gebracht und dort in der Wüste ausgesetzt. Trotz massiv verschärften Kontrollen und Repressionen gegenüber TransitmigrantInnen in Marokko und trotz einer wahnwitzigen Aufrüstung der Zaunanlagen in Ceuta und Melilla bleibt diese Grenze bis heute hart umkämpft. Immer wieder schaffen es Einzelne mit Überklettern oder Umschwimmen, und im April 2013 waren es wieder mehrere Hundert, denen kollektiv die Überwindung gelungen ist.

Die Hartnäckigkeit der Migrationsbewegungen
Nachdem 2008 und 2009 die ägäischen Inseln ein Hauptziel der MigrantInnen waren, änderte sich die Route im Jahr 2010. Nun wurde die griechisch-türkische Landgrenze entlang des Evros-Flusses zum zentralen Ort des Transits. Auch Frontex-Einsatz und sofortige Inhaftierungen konnten die selbstbestimmten Einreisen zunächst nicht stoppen. Die Krise und die geringeren Überlebensmöglichkeiten, systematische Razzien der Polizei und rassistische Pogrome sowie schließlich die Mobilisierung tausender Grenzpolizisten an die Landgrenze haben das Bild im Spätsommer 2012 erneut verschoben. Es kommen weniger, aber nun erneut über See und auf die Inseln, auch wieder nach Lesbos. Dort ist es Solidaritätsgruppen Ende November gelungen, ein offenes Aufnahmezentrum für die Ankommenden durchzusetzen (1). Denn geschlossene Lager und Knäste sind üblicherweise die Realität in Griechenland. Tausende sitzen hier nach den Grossrazzien im letzten Jahr fest, und das mittlerweile bis zu 18 Monaten, nachdem die griechischen Migrationsgesetze einmal mehr den EU-Normen angepasst wurden. Vor diesem Hintergrund kommt es im April 2013 zu massiven Revolten der internierten Flüchtlinge und MigrantInnen.

Mit dem Sturz des Diktators Ben Ali haben sich in Tunesien zahlreiche neue zivilgesellschaftliche Akteure entwickelt, darunter die Organisationen der Angehörigen der vermissten und ertrunkenen Harragas (2), die mit ihren Protesten nicht nur Aufklärung über das Schicksal ihrer Verwandten und FreundInnen verlangen. Sie fordern gleichzeitig die Abschaffung des EU-Visumsregimes und kritisieren die eigene Regierung für deren Kollaboration mit der EU. „Wir haben die Revolution für Würde und Demokratie gemacht,“ formulierte die Sprecherin einer Gruppe tunesischer Mütter von Verschwundenen im Juli 2012 auf einer internationalen Versammlung. Und weiter: „Die Regierung ist tatenlos, unsere Söhne haben die Revolution gemacht, aber wir haben immer noch keine Ergebnisse über ihren Verbleib. Es wird eine zweite Revolution geben, wenn sich die Situation nicht ändert.“ Als im September 2012 erneut ein Boot kurz vor Lampedusa kentert und 79 tunesische MigrantInnen – darunter auch Kinder – sterben, kommt es kurz darauf in El Fahs, einem der Herkunftsorte der Opfer, zu einem lokalen Aufstand mit Streiks und Blockaden. Gleichzeitig protestieren immer wieder TransitmigrantInnen aus subsaharaischen und ostafrikanischen Ländern, die während des Bürgerkrieges aus Libyen nach Tunesien geflohen und dann gezwungen waren, dort in Choucha, direkt an der Grenze, in Zeltlagern des UNHCR in der Wüste zu leben. Sie fordern  die Weitereise in ein für sie sicheres Aufnahmeland und viele schaffen es auch, als anerkannte Flüchtlinge sogenannte Resettlement-Plätze in den USA oder Europa zu bekommen.  Doch einigen hundert Flüchtlingen wird dieser Status bzw. die Weiterreise verweigert, seit Januar 2013 befinden sie sich im Dauerprotest, im April 2013 sogar mitttels Hungerstreik vor dem UNHCR-Büro in Tunis (3).

Transnationale Kampagnen und Strukturen
Spendenkampagnen westeuropäischer Netzwerke hatten im Januar 2013 ermöglicht, dass die TransitmigrantInnen aus Choucha mit Bussen zu Protesten ins 500 km entfernte Tunis fahren konnten. Doch transnationale Solidarität geht längst über das Sammeln von Geld hinaus. Drei Beispiele: Mit einem Nobordercamp auf Lesbos 2009 entstanden nicht nur vielfältige Kontakte vor allem in die afghanische und ostafrikanische Migrationscommunity, die sich über die Konfrontation mit Dublin II (4) in weitere gemeinsame Kämpfe verlängert hat. Es gab auch einen Schub für Monitoring- und Unterstützungsprojekte entlang dieser – statistisch gesehen – wichtigsten Migrationsroute von der Türkei über Griechenland Richtung Nordwesteuropa (5).
Mit der Buskarawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung von Bamako nach Dakar Anfang 2011 (6) gelang ein neuer Schritt in der euro-afrikanischen Zusammenarbeit. Insbesondere mit Gruppen in Mali hat sich ein kontinuierlicher Austausch stabilisiert.
Und mit dem arabischen Frühling ergaben sich neue Möglich- und Notwendigkeiten in der Kooperation mit Organisationen in Nordafrika. Mit dem Fall der Wachhundregimes in Tunesien und Libyen und angesichts der rigiden EU-Visumspolitik stiegen wieder vermehrt MigrantInnen in Boote, um via Lampedusa und Sizilien nach Europa zu gelangen. Viele kamen und kommen dabei ums Leben, immer wieder auch deswegen, weil die Grenzschützer die Rettung verweigern. Vor diesem Hintergrund startete im Juli 2012 mit Boats4People ein neues Projekt euro-afrikanischer Solidarität gegen das tödliche Grenzregime auf See mit einem Schwerpunkt in Tunesien.

Stehen diese Nobordercamps, Karawanen und Solidaritätsboote in den umkämpften Grenzräumen für öffentlichkeitswirksame Aktionen und eher symbolische Interventionen, so haben sich aus den Kontakten und Kooperationen längerfristige Strukturen entwickelt, die sich zunehmend besser vernetzen. Das so gewonnene Wissen findet vielfache Umsetzungen, so z.B. in dem virtuellen Fluchthilfe-Leitfaden von Welcome to Europe, der zur konkreten Unterstützung von Flüchtlingen und MigrantInnen „on the move“ nützliche Adressen und praktische Informationen aus allen wichtigen Transit- und Zielländern in 4 Sprachen anbietet (7). Ende letzten Jahres wurde eine „Transborder-Map“ erstellt, eine Karte, die einen ersten Überblick bietet über die wachsende Anzahl sich vernetzender Initiativen entlang der Außengrenzen der EU (8). Sie soll demnächst zu einer interaktiven Plattform ausgebaut und ergänzt werden, um die Kämpfe und Kampagnen für globale Bewegungsfreiheit in einem gemeinsamen Rahmen sichtbar zu machen. Der Verstetigung und Vertiefung der Proteste und ihrer Vernetzung dient auch ein internationales Flüchtingstribunal, das vom 13. bis 16. Juni 2013 in Berlin stattfindet (9). Vor dem Hintergrund (neo)kolonialer Gewaltverhältnisse sollen die täglichen Menschenrechtsverletzungen an den inneren wie äußeren Grenzen öffentlichkeitswirksam dokumentiert und skandalisiert werden. An den Vorbereitungen beteiligt sind zwar auch RechtsanwältInnen und UnterstützerInnen, doch in erster Linie werden es Flüchtlinge selbst sein, die ihr Leiden und ihre Kämpfe beschreiben und die damit selbstbewusster denn je ihr Recht auf Bewegungsfreiheit einfordern.

Hagen Kopp, kein mensch ist illegal/Hanau

Anmerkungen:
(1)    http://lesvos.w2eu.net/
(2)    Arabischer/nordafrikanischer Begriff für MigrantInnen, die sich ohne Visum auf den Weg machen, übersetzt als „Grenzverbrenner“;
(3)    http://chouchaprotest.noblogs.org/ und http://voiceofchoucha.wordpress.com/
(4)    EU-Asylverordnung, die Flüchtlinge im EU-Land der ersten Registrierung festhalten soll;
(5)    http://infomobile.w2eu.net/
(6)    http://afrique-europe-interact.net
(7)    http://w2eu.info/
(8)    http://www.noborder.org/
(9)    http://www.refugeetribunal.org/

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