„Eine französische Universität in einem deutschen Lager
[…] Einer der bedeutendsten Historiker des 20. Jahrhundert hat sein Hauptwerk über das Mittelmeer im Wesentlichen in deutscher Kriegsgefangenschaft verfasst: Fernand Braudel (1902 – 1985). Er war Professor am Collège de France und Mitglied der Académie Française. Jahre nach seinem Tod sind in Frankreich die Vorlesungen erschienen, die Braudel in deutscher Kriegsgefangenschaft gehalten hat. Die jetzt unter dem Titel „Geschichte als Schlüssel zur Welt“ erschienene deutsche Übersetzung enthält außerdem den autobiographischen Text „Wie ich Historiker wurde“ und ein wichtiges Nachwort des wohl besten deutschen Braudel-Kenners Peter Schöttler. Das Buch ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: als theoretisches Grundwerk über moderne Geschichtsschreibung und – wie nebenher – als Quelle für überraschende Erkenntnisse zum intellektuellen Milieu in deutscher Kriegsgefangenschaft.
[…] In seinen Vorlesungen führt er diese damals neue wissenschaftliche Aufgabenstellung im Einzelnen aus, begründet die von ihm in seinem Mittelmeer-Buch in revolutionierender Weise zum ersten Mal angewandte neue historiographische Methode und liefert so den Impuls für die neue Geschichtsschreibung, die in den letzten 50 Jahren internationaler wissenschaftlicher Standard wurde. In dem zweiten kurzen, 1972 entstandenen autobiographischen Teil des Buches gibt er weniger seinen eigenen Weg zum Historiker preis als einen kurzen Abriss der Geschichte der Zeitschrift Annales, die in der Zeit zwischen 1929 und 1939 die Grundlagen für diese „totale“ Aufgabenstellung der Geschichte legte. Nach dem Krieg wurde Braudel selbst Herausgeber der Annales.
[…] Der Herausgeber des Buches, Peter Schöttler, klärt diese meist unbekannten Tatsachen in seinem Nachwort auf. Er ist Forschungsdirektor am renommierten CNRS in Paris und Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Für Braudels Zeit im Lager in Mainz – später kam er in ein anderes in Lübeck – hat Schöttler ermittelt, dass der Historiker sogar Rektor dieser Lageruniversität war und von den deutschen Behörden mit „Magnifizenz“ angesprochen wurde. Das war in den Jahren 1941/42 – als die Nazis bereits auf dem östlichen Weltkriegs-Schauplatz eine Million sowjetischer Kriegsgefangener vorsätzlich hatten verhungern lassen. Man könnte auf den Gedanken kommen, die zumeist korrekte Behandlung französischer Kriegsgefangener durch die Wehrmacht habe nach dem Krieg – ganz im Sinne der „longue durée“ von Braudel – die zwischen den angeblichen „Erbfeinden“ kaum für möglich gehaltene deutsch-französische Freundschaft ermöglicht.“
– Fernand Braudel: Geschichte als Schlüssel zur Welt. Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941. Herausgeber und Nachwort: Peter Schöttler. Klett-Cotta, Stuttgart 2013. 228 Seiten, 22,95 Euro.
via Literatur: Eine französische Universität in einem deutschen Lager – badische-zeitung.de.