15. Juni 2014 · Kommentare deaktiviert für Arabellion – ein „blinder Aufstand“? Thesen zum kapitalistischen Zusammenbruch – telepolis · Kategorien: Lesetipps · Tags: ,

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Leben im Zusammenbruch

Die Desintegration des kapitalistischen Weltsystems ist längst im vollen Gange, sie wird nur nicht als solche wahrgenommen

Nun bricht auch die mühsam aufrechterhaltene Fassade zusammen, die das irakische Staatsgebilde in den vergangenen Jahren darstellte. Während die Millionenstadt Mosul ohne nennenswerten Widerstand der irakischen „Armee“ in die Hände der Steinzeitislamisten der ISIL fiel und kurdische Milizen die Metropole Kirkuk okkupierten (Dschihadisten-Blitzkrieg), drohen die USA und der Iran eine abermalige Militärintervention in dem in Auflösung begriffenen Land an (Irak: Werden die USA militärisch eingreifen?).

Der einsetzende Staatszerfall des Irak lässt eine riesige „poststaatliche“ Region entstehen, die in strukturloser Willkür- und Gewaltherrschaft (Anomie) versinkt, bei der konkurrierende Milizen und Banden um Macht und Ressourcen kämpfen. Dies scheint das traurige Resultat des „arabischen Frühlings“, der noch vor wenigen Jahren eine Demokratisierung der gesamten Region einzuläuten schien.

Der arabische Frühling, in dessen Verlauf viele der autoritären Regimes zwischen Tunis und Damaskus gestürzt oder in ihren Grundfesten erschüttert wurden, ist längst einem schwarzen Herbst aus Zerfall und Reaktion und gewichen. Neben brutaler autoritärer Restauration (Ägypten) und einer fragilen Demokratisierung (Tunesien) haben die Massenaufstände in Tunesien, Libyen, Jemen, Ägypten und Syrien vor allem zur irreversiblen Schwächung oder Auflösung staatlicher Strukturen beigetragen. Längst greift man im Westen auf Begriffe wie den des „failed State“ zurück – die ursprünglich dem subsaharischen Afrika vorbehalten waren -, um das sich in weiten Teilen der arabischen Welt entfaltende Chaos einordnen zu können.

Von gescheiterten Staaten war anlässlich dieser jüngsten Desintegrationsprozesse im Irak die Rede:

Vom östlichen Mittelmeer bis fast zum Kaspischen Meer entsteht ein Korridor kaputter Staaten und todkranker Nationen. Der Irak ist jetzt, allein schon mit seiner Armee, die bislang noch in jedem Ernstfall desertiert ist, auf geradem Weg in den „failed state“. Das große, alte Syrien gleich daneben wirkt wie ein Land ohne Zukunft, eine Wiege künftigen Hasses, eine schwärende Wunde. An der irakisch-syrischen Grenze entsteht jenes mörderische Kalifat, das sich im schlechtesten Fall zu einem von obskuren Stämmen und Terroristen bevölkerten Niemandsland entwickelt und schon jetzt an die „tribal areas“ von Pakistan erinnert, in denen keine Staatsmacht gilt.

Die Diagnose „Failed State“ – die eigentlich nichts erklärt – wird inzwischen routinemäßig ausgestellt, wenn die Folgen der Zerfallsprozesse in der Peripherie des kapitalistischen Systems beschrieben werden sollen. So warnte etwa die Washington Times bereits Anfang September 2013, dass auch Syrien zu einem „gescheiterten Staat“ zu werden drohe, der einen „sicheren Hafen für Terroristen“ bilden würde, sollte nicht noch eine „göttliche Intervention“ in dem bereits entlang ethnischer und religiöser Linien fragmentierten Land stattfinden. Seit dem Beginn des Bürgerkrieges sei „die nationale Identität verschwunden. Die Bürger identifizieren sich nun mit der Regierung oder den Rebellen, mit den Aleviten, den Sunniten oder den Schiiten…“ Syrien stelle inzwischen „einen vergrößerten Spiegel der gegenwärtigen Situation in Libyen“ dar, wo es keine Zentralregierung mehr gebe. Libyen werde von Milizen und Kriegsherren beherrscht, die „Gewalt anwenden, um Territorien zu erobern und zu halten.“

Eine ähnlich düstere Bilanz des Umbruchs in dem ehemaligen Wüstenstaat lieferte auch der britische Independent. Noch vor knapp zwei Jahren, kurz nach dem Sturz Gaddafis, habe Verteidigungsminister Philip Hammond britische Geschäftsleute aufgefordert, „ihre Koffer zu packen und nach Libyen zu fliegen, um am Wiederaufbau und dem antizipierten Rohstoffboom zu partizipieren“. Doch nun habe die Regierung in Tripolis „die Kontrolle über einen Großteil des Landes an Milizionäre verloren“, so dass die Ölförderung nahezu gänzlich zum Erliegen kam. Immer wieder besetzten Milizen Teile der Ölinfrastruktur Libyens, um ihre Partikularinteressen durchzusetzen.

Auch beim Irak handelte es sich längst um einen Zombie-Staat, der nur noch ein Schlachtfeld für unzählige miteinander konkurrierende Gruppen bildet, die sich entlang religiöser oder ethnischer Trennlinien formierten. Im Zweistromland fand bereits vor der aktuellen Offensive der Islamisten ein permanenter Bürgerkrieg niedriger Intensität statt, der nur deswegen hierzulande kaum Aufmerksamkeit erhält, weil die unzähligen Anschläge und Massaker einen medialen Abstumpfungseffekt zeitigten, der – auch angesichts des alltäglichen Massenmordens in Syrien – nur bei bestialischen Terrorakten noch überwunden werden kann.

Die renommierte amerikanische Zeitschrift Foreign Affairs stellte der US-Besatzungspolitik im Irak schon 2012 ein vernichtendes Zeugnis aus. In dem Artikel „The Iraq We Left Behind“, der wenige Monate nach dem Abzug der letzten regulären US-Kampftruppen aus dem geschundenen Land erschien, wurde ein Bild willkürlicher, „mit Korruption und Brutalität gesättigter“ irakischer Machtverhältnisse gezeichnet, in denen „politische Führer Sicherheitskräfte oder Milizen benutzen, um Gegner zu unterdrücken oder die Bevölkerung einzuschüchtern“. Während der irakische Staat nicht in der Lage sei, selbst grundlegende Bedürfnisse der Bevölkerung wie die Wasser- oder Stromversorgung sicherzustellen, sorge eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit dafür, dass „kriminelle Gangs und militante Fraktionen“ weiterhin keine Nachwuchssorgen hätten. Auch Foreign Policiy sieht den Irak „nah an einem gescheiterten Staat“.

„Scheitern der Modernisierung“ im globalen Süden

Es ist offensichtlich, dass etliche arabische Staaten kurz davor stehen, in ähnliche anomische Zustände abzudriften, wie sie in Afghanistan, Somalia und weiten Teilen des subsaharischen Afrikas bereits herrschen. Wieso „scheitern“ diese Staaten? Wieso geht der arabische Frühling, der mit großen Hoffnungen auf eine Demokratisierung und Modernisierung der versteinerten arabischen Regime verbunden war, in etlichen Ländern in Chaos der Anomie unter?

Die gegenwärtigen Verwerfungen stellen nur die jüngste Etappe eines langfristigen Prozesses dar: des Scheiterns der kapitalistischen Modernisierung im Trikont. Der Staat bildete im globalen Süden nach der Dekolonialisierung die machtpolitisch-organisatorische Form, in der die nachholende Modernisierung dieser Regionen geleistet werden sollte. In einem gewaltigen Kraftakt wollten die meisten Regime der „Entwicklungsländer“ den ökonomischen Rückstand zu den Zentren des Weltsystems aufholen. Sie versuchten, vermittels zumeist kreditfinanzierter Investitionsprogramme eine warenproduzierende Industrie, ja eine nationale Volkswirtschaft überhaupt erst zu entwickeln, die oftmals in den gerade unabhängig gewordenen Ländern nur in Ansätzen als Überbleibsel der kolonialen Plünderungswirtschaft gegeben war.

Diese Strategie der „importierten Modernisierung“ – die von nahezu allen Entwicklungsregimen unabhängig von ihrer geopolitischen und ideologischen Ausrichtung verfolgt wurde – misslang auf breiter Front spätestens in der zweiten Hälfte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Den Entwicklungsdiktaturen der „Dritten Welt“ gelang es nicht mehr, die Kapitalmassen zum Aufbau einer konkurrenzfähigen Industrie zu akkumulieren, die es ihnen ermöglicht hätte, in den 1970ern am Weltmarkt zu bestehen.

Die permanente konkurrenzvermittelte Steigerung der Produktivität in der kapitalistischen Warenproduktion, die in der gegenwärtigen Weltkrise an ihre systemischen Grenzen stößt und eine „überflüssige Menschheit“ produziert, bringt auch eine Tendenz zur Steigerung der Kapitalintensität der Warenproduktion hervor. Je höher das allgemeine Produktivitätsniveau in einem bestimmten Produktionszweig, desto größer sind in der Regel die Kapitalaufwendungen, die notwendig sind, um in diesem Industriezweig auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Die Regionen, die diesen marktvermittelten Wettlauf nicht mehr standhalten können, fallen aus dem Weltmarkt für avancierte Warenproduktion heraus. Deswegen frisst sich die Krise des kapitalistischen Weltsystems von dessen Peripherie – wo die Investitionsfähigkeit besonders niedrig war – in einem jahrzehntelangen historischen Prozess in die Zentren vor.

Mit dem Ausbruch der Krisenperiode der sogenannten Stagflation ab 1973 wandelten sich deswegen die Ökonomien im globalen Süden zu Investitionsruinen, die der zunehmenden Weltmarktkonkurrenz nicht standhalten konnten. Ab den 1980ern wurde in den jeweiligen Schuldenkrisen dieses „Scheitern der Modernisierung“ im globalen Süden offensichtlich, in deren Gefolge sozioökonomische Zusammenbrüche in vielen Regionen einsetzten. Ohne eine nennenswerte ökonomische Basis geht aber letztendlich auch der Staat zugrunde, der keinen Gegensatz zum Markt bildet, sondern ebenfalls ein – notwendiges – historisches Produkt des Kapitalismus ist.

Eine nationale Staatsmaschinerie kann nur dann funktionsfähig bleiben, wenn eine einigermaßen funktionsfähige Nationalökonomie existiert, die mittels Steuerausgaben den Staatsapparat finanziert. Sobald dieses wirtschaftliche Fundament des Staates wegbricht, geht auch der Staatsapparat in Desintegration über; er „verwildert“, wird selbst zur Beute einiger Rackets, die ihn zur Erringung ihrer partikularen Interessen gebrauchen – bei Exklusion konkurrierender Gruppen.

Geradezu paradigmatisch wird dies an den Verhältnissen im „vorrevolutionären“ Libyen oder Syrien deutlich, wo einzelne Machtcliquen oder religiös-enthnische Gruppierungen (Alewiten, Ghaddafis Clan) die Schaltstellen der Macht besetzt hielten, um so ihre Klientel zu bedienen. Die Peripheriestaaten stellen nur noch verwildernde Attrappen gescheiterter staatskapitalistischer Modernisierungsbemühungen dar, die beim geringsten Anstoß die ihnen innewohnenden anomischen Zentrifugalkräfte freisetzen.

Die Banden, die nun offen auf Plünderungszug gehen, haben sich schon zuvor des Staatsapparats bemächtigt, der nicht als „ideeller Gesamtkapitalist“ fungierte, sondern nur als Machtinstrument zur Durchsetzung von Partikularinteressen der herrschenden Seilschaften diente. Deswegen kollabieren diese Staatsatrappen so mühelos angesichts westlicher Interventionen; und gerade deswegen schaffen es die Interventionsmächte nicht mehr, diese Gebiete zu kontrollieren und einen effektiven „Regime Change“ durchzuführen. Die letzten größeren militärischen Interventionen des westlichen Krisenimperialismus – von Afghanistan, über Irak bis Libyen – haben sich allesamt als kolossale Fehlschläge für die beteiligten Großmächte erweisen, die ohnehin wegen der sich zuspitzenden Schuldenkrise in den Zentren des Weltsystems an die Grenzen ihrer Interventionsfähigkeit stoßen.

Die aktuellen Erosionsprozesse bilden somit nur den jüngsten Schub einer fundamentalen Krise des gesamten kapitalistischen Weltsystems, die sich in einem jahrzehntelangen Prozess von der Peripherie in dessen Zentren frisst. Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der nachholenden Modernisierung in der „Dritten Welt“ scheiterten die staatssozialistischen Länder letztendlich an der Durchsetzung der dritten mikroelektronischen Revolution, die noch weitaus größerer Investitionsanstrengungen bedurfte. Der jüngste Schub dieser fundamentalen Krise des kapitalistischen Weltsystems erfasste den arabischen Raum und weite Teile Südeuropas, wo inzwischen eine ähnlich hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht wie in Tunesien, Syrien oder Ägypten. Die „Wohlstandsinseln“ der „Ersten Welt“ schmelzen ab, während dein frühkapitalistisch anmutender Pauperismus in Südeuropa um sich greift.

„Es gibt keine Chancen für uns“

Die Ursachen dieser Systemkrise, bei der das Kapital vermittels permanenter konkurrenzvermittelter Produktivitätsfortschritte sich seiner eigenen Substanz – der wertbildenden Arbeit – entledigt und so an die „innere Schranke“ seiner Reproduktionsfähigkeit stößt, haben viele Flüchtlinge weitaus besser begriffen als große Teile etwa der deutschen Publizistik, die im Kapitalismus immer noch keine historische Dynamik, sondern die ewige Wiederkehr des Immergleichen erblicken wollen:

Was nützt die Gewerkschaft, wenn keiner einen Arbeitsplatz hat? Wir hatten keine Probleme mit Arbeitgebern, weil wir keine Arbeitgeber hatten. Wir hatten Probleme mit dem freien Markt, mit der Händlermafia, deren Teil wir waren, und mit der Geheimpolizei, die alles in Syrien unter Kontrolle hat.

So beschrieb der syrische Flüchtling Mohammad A. in der Zeitschrift Konkret 36 seine prekären Lebensumstände und den brutalen Überlebenskampf auf dem hart umkämpften Schwarzmarkt von Daraa, auf dem „mangels legaler Jobs fast jede Familie“ in mafiösen Strukturen ein Auskommen zu finden versuchte – bis irgendwann der Siedepunkt erreicht war, der zum blinden Aufstand führte. „Wenn ich einen Job hätte, wäre ich nicht mal auf diesen Platz hier. Es gibt keine Chancen für uns“, erklärte Anfang 2013 ein jugendlicher Demonstrant gegenüber der Los Angeles Times seine Motivation, täglich auf dem Tahrir-Platz in Kairo gegen die Sicherheitskräfte zu kämpfen. Viele Demonstranten würden „protestieren, weil sie sonst nichts anderes hätten“, titelte die LA Times. Die unerträglichen Widersprüche des kapitalistischen Kreisprozesses, bei dem die Menschen mit der Lohnarbeit der einzigen Möglichkeit verlustig gehen, ihren Lebensunterhalt systemimmanent zu bestreiten, treiben somit die Menschen in die Rebellion.

Der Kapitalismus produziert in seiner Systemkrise eine buchstäblich „überflüssige“ Menschheit, die selbst in den Zusammenbruchsgebieten, in den Regionen ökonomisch verbrannter Erde, weiterhin dem Terror des Weltmarktes ausgesetzt bleibt, ohne irgendetwas auf diesem feilbieten zu können. Und selbstverständlich hat diese krisenbedingte Produktion „überflüssiger“ Bevölkerungsgruppen auch in den Zentren des Weltsystems eingesetzt. Längst bilden sich auch in der EU ganze Stadtteile oder Regionen aus, in denen die „Überflüssigen“ vermittels Gentrifizierung abgeschoben werden. Mittels der Riots, die Großbritannien 2011 erschütterten, der regelmäßig in den französischen Vororten ausbrechenden Aufstände oder der Unruhen in Stockholm im vergangenen Mai artikuliert eine beständig anwachsende, aus dem gesellschaftlichen Leben größtenteils ausgeschlossene Bevölkerungsgruppe auch in Europa ihre wachsende Wut und Verzweiflung über ein prekäres Leben, das sie in den wuchernden Gettos führen muss, die als menschliche Abfallhalden der kriselnden Kapitalmaschinerie fungieren.

Die Herrschaft der Banden

Ohne eine emanzipatorische Perspektive schlagen die Aufstände gegen die Elendsverwaltung in der Dritten Welt in die Anomie, in eine chaotische Willkürherrschaft um. Die zentrale Machtstruktur der Anomie – die in den Massenmedien zumeist fälschlich als „Anarchie“ bezeichnet wird – stellt die Bande, das Racket, dar. Hierbei handelt es sich um die Urform der Herrschaft, die sich immer in Zusammenbruchsstadien eines untergehenden Gesellschaftssystems herausbildet: Es ist ein aus den zerfallenden Machtstrukturen hervorgehender Männerbund, der die totale Loyalität und Unterwerfung nach innen mit dem totalen Krieg nach außen kombiniert.

Die perspektivlosen Jugendlichen, die gegen die Herrschaft der Seilschaften und Clans aufbegehren, die den verwilderten Staatapparat usurpierten, finden sich im Laufe des Kampfes selber organisiert in Banden wieder. Ausgehend von den lokalen Gegebenheiten usurpiert das Racket die Macht in einer bestimmten Region, es praktiziert eine Art Plünderungsökonomie, oder es tritt gegebenenfalls als eine willkürlich handelnde „Ordnungskraft“ auf lokaler Ebene auf, während es zugleich die Ressourcen und sonstigen Einkommensquellen in den gegebenen Zusammenbruchsregionen zu monopolisieren versucht. Diese anomische Herrschaft der Rackets ist dabei kein temporäres Übergangsphänomen, wie Somalia oder die DR Kongo zeigen, die sich schon seit Jahrzehnten in diesem Zustand strukturloser Banden- und Gewaltherrschaft befinden.

Racketbildung und anomische Herrschaft stellen mitnichten einen Rückfall in „frühere“ oder traditionelle Gesellschaftszustände dar. Der alltägliche Massenmord in diesen Zusammenbruchsgebieten stellt die Fortführung der allseitigen kapitalistischen Konkurrenz nach dem Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaftsformation – also der Verwertung von Arbeitskraft im nennenswerten Ausmaß – dar. Ähnlich verhält es sich mit der einflussreichsten Krisenideologie in der Peripherie, mit dem extremistischen Islamismus, der mit traditionellen islamischen Religionsvorstellungen kaum etwas gemein hat. Der Islamismus stellt – ähnlich dem europäischen Rechtsextremismus – eine Krisenideologie dar, die es deren Trägern ermöglich, selbst noch den sozioökonomischen Zusammenbruch mit einem höheren Sinn und einer irren Perspektive aufzuladen: Sei es die Errichtung einer rassereinen Volksgemeinschaft oder eines panislamischen Kalifats von Atlas bis zum Hindukusch.

Dennoch verharrt nicht nur die westliche Öffentlichkeit, sondern auch ein Großteil der Linken in den erodierenden Zentren des Weltsystems in einer begriffslosen Indifferenz gegenüber diesen Umbrüchen. Der Unwille, den sich vor aller Augen entfaltenden Zusammenbruch auch als solchen zur Kenntnis zu nehmen, rührt wohl nicht nur aus der Verfangenheit des Bewusstseins in kapitalistischen Kategorien, sondern auch aus dem langen Zeithorizont, in dem dieser Prozess abläuft. Da es sich bei diesen Erosionsprozessen in der Peripherie um einen langfristigen Vorgang handelt, hat sich in der geschichtsvergessenen westlichen Öffentlichkeit längst ein Gewöhnungseffekt eingestellt. Man geht hierzulande davon aus, dass es sich beim sozioökonomischen Zusammenbruch weiter Teile der „Dritten Welt“ um eine ahistorische Konstante – und nicht um das Ergebnis eines Prozesses gescheiterter Modernisierung – handelt.

Man hat sich daran gewöhnt, mit der Katastrophe in der Peripherie zu leben. Wenn nun von weiteren „Failed States“ in den Medien die Rede ist, dann werden die bereits bestehenden kulturalistischen und rassistischen Ressentiments eben um die entsprechenden Regionen erweitert. Die westeuropäische Öffentlichkeit wird nur dann kurz auf ihrer diesbezüglichen Ignoranz wachgerüttelt, wenn mal wieder Hunderte von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrinken, die der anomischen Hölle in den Zusammenbruchsgebieten der Peripherie zu entkommen versuchten.

Dabei könnte zumindest die Linke – wenn sie nicht gerade bei Querfrontveranstaltungen ihrer Selbstauflösung Vorschub leisten würde – schon jetzt in die Zukunft schauen und endlich radikale Antworten auf die in Barbarei übergehende Krise des kapitalistischen Weltsystems finden, die nicht aus der ideologischen Konservenkiste des 19. und 20. Jahrhunderts stammen. Die Zeit drängt dabei: Gen Süden blickend können wir einen Einblick in eine ungeheure Krisendynamik erhalten, die letztendlich – sollte sie nicht emanzipatorisch überwunden werden – auch in den Zentren des Kapitalismus eine Dystopie realisieren wird, die irgendwo zwischen Mad Max und 1984 angesiedelt sein dürfte.

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