04. April 2012 · Kommentare deaktiviert für Offener Brief Niederlande · Kategorien: Libyen · Tags: , , ,

EILMELDUNG: Dank dieses Offenen Briefs und der anwaltlichen Schritte hat der niederländische Staatsrat die Abschiebe-Anordnung aufgehoben. Abu Kurke Kebato und seine Frau sind wieder frei! – Ergänzung 10.05.2012: Sie haben eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen.

Abu Kurke: Offener Brief an den Minister für Einwanderung, Integration und Asyl, Gerd Leers

2. April 2012

Sehr geehrter Herr Minister Leers,

Wir schreiben Ihnen als 5 Menschenrechts-Organisationen mit der Aufforderung, Abu Kurke Kebato, einen 23-jährigen Äthiopier, und seine 21-jährige Frau Seena Tafse Mohammed, ebenfalls äthiopischer Staatsangehörigkeit, nicht nach Italien abzuschieben.

Wir haben erfahren, dass beide am 29. März 2012 festgenommen wurden, damit sie am 5. April 2012 abgeschoben werden könnten.

Herr Kurke Kebato und seine Frau haben in Italien im Oktober 2011 den Flüchtlingsstatus erhalten, aber wir fordern Sie mit Nachdruck auf, ihnen aus humanitären Gründen in den Niederlanden weiterhin einen Aufenthaltsstatus zu geben.

Wir sind der Meinung, dass Herr Kurke Kebatos Erfahrungen wiederholter traumatischer Überquerungen des Mittelmeers, der krankmachenden Haft in Libyen nach der Rückschiebung italienischer Behörden 2010, und die fehlenden staatlichen Unterstützungen für AsylantragstellerInnen und anerkannte Flüchtlinge in Italien, einschließlich entscheidender psychosozialer Unterstützung für jemanden mit Vulnerabilitäten,wie sie Herr Kurke Kebato aufweist – dass all dies außergewöhnliche Maßnahmen erfordert, um seine volle Rehabilitierung und Integration sicherzustellen. Wir appellieren an Sie, ihm und seiner Frau diese Chance in den Niederlanden zu geben.

Herr Kurke Kebato ist besonderen Gefährdungen und Verletzbarkeiten ausgesetzt (particularly vulnerable person).

Herr Kurke Kebato ist einer von neun Überlebenden eines tragisch gezeichneten Boots, das Ende März / Anfang April 2011 dem konfliktträchtigen Libyen zu entkommen und das Mittelmeer zu überqueren versuchte. 63 Flüchtlinge des Boots starben. Dieser tragische Verlust an Menschenleben ist Gegenstand einer bedeutenden Aufmerksamkeit geworden, weil die Zeugenschaft von Überlebenden, auch die von Herr Kurke Kebato, wie auch offizielle Informationen darlegen, dass das Boot zwei Wochen lang auf dem Mittelmeer treiben gelassen wurde, obwohl es Notruf-Signale aussandte und es Kontakte zu einem Militärhubschrauber, einem Kriegsschiff und zwei Fischkuttern gab. Das Boot driftete dann weg zurück zur libyschen Küste am 10. April 2011.

Am 29. März 2012, am selben Tag, an dem Herr Kurke Kebato in den Niederlanden festgenommen wurde, veröffentlichte das Komitee zu Migration, Flüchtlingen und Displaced Persons der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) einen Bericht mit genauen Angaben zu den Fehlern zahlreicher Behörden, einschließlich der italienischen Regierung bei der Reaktion auf das Boot in Seenot. Das Migrations-Komitee hat eine Resolution verabschiedet, in dem es alle Mitgliedsstaaten auffordert, „ihre humanitäre Entscheidungsmacht zu nutzen, um wohlwollend auf alle Asyl- und Resettlement-Wünsche“ der Überlebenden der Bootstragödie vom April 2011 zu reagieren.

Ein erstes Mal hatte Herr Kurke Kebato bereits 2010 versucht, das Mittelmeer zu überqueren. 2010 war das Boot, auf dem er sich befand, auf See aufgebracht und nach Libyen zurückgebracht, entsprechend dem damals geltenden italienisch-libyschen Migrationskooperations-Übereinkommen. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (ECtHR) urteilte im Februar 2012, dass dieses Aufbringen auf See mit Rückschiebung die italienischen Non-refoulement-Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzte.

Nach seiner erzwungenen Rückkehr 2010 wurde Herr Kurke Kebato acht Monate in Haft gehalten, dort wurde er Folter und grausamer, inhumaner und entwürdigender Behandlung ausgesetzt. Zahlreiche offizielle Quellen, einschließlich Human Rights Watch, haben die schwer-krank-machende Behandlung von MigrantInnen und AsylantragstellerInnen in Libyen zu Zeiten Gaddafis dokumentiert.

Inadäquate Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Italien

Herr Kurke Kebato und seine Frau haben später erfolgreich das Mittelmeer überquert und kamen am 7. Mai 2011 in Italien an. Da ihre Asylgesuche bearbeitet wurden, wurden sie ab 31. Mai 2011 in der süditalienischen Region Basilicata untergebracht. Italiens Bescheid, dass sie den Flüchtlingsstatus erhalten, wurde ihnen im Oktober 2011 mitgeteilt. Damit wurde ihnen die Unterbringung entzogen, und sie wurden obdachlos. Herr Kurke litt dauerhaft unter Schlaflosigkeit und Traumatisierung, aber er war nicht in der Lage, eine Spezialistenhilfe zu bekommen. Ohne Wohnadresse waren sie nicht in der Lage, die nationalen Krankenversicherungskarten zu erlangen und konnten daher nicht die notwendige physische und mentale Krankenhilfe in Anspruch nehmen. Deswegen verließen sie Italien und ließen sich in den Niederlanden im Dezember 2011 nieder. Herr Kurke hatte eine Überweisung zu einem psychologisch-ärztlichen Spezialisten, als er festgenommen wurde.

Ihre Erfahrungen belegen schwerwiegende Mängel bei den Aufnahmebedingungen von AsylantragstellerInnen in Italien, dokumentiert von Menschenrechtsorganisationen. Ein Bericht aus Februar 2010 der deutschen Organisation Pro Asyl führt die erzwungene Armut anerkannter Flüchtlinge in Italien aus, die obdachlos gemacht werden und dadurch wesentliche Dienstleistungen in einem System nicht nutzen können, das völlig ungeeignet ist, für die gegenwärtig in Italien lebenden AsylantragstellerInnen und Flüchtlinge. Als über 34.000 AsylantragstellerInnen aus Libyen 2011 ankamen, war das System völlig überfordert.

Es ist ebenfalls wichtig darauf hinzuweisen, dass das ECthHR temporäre Bescheide erlassen hat, in mindestens fünf Fällen seit Oktober 2011, um Abschiebungen nach Italien nach den EU-Dublin-Regeln zu verhindern. Eines dieser Fälle betrifft eine Eritreerin, die ebenfalls den Flüchtlingsstatus in Italien erhalten hat und die anschließend nach Großbritannien reiste, wo sie ebenfalls um Asyl nachsuchte. In diesem Fall, wie auch in den vier anderen, beachtete das ECtHR ihre besondere Gefährdung und Verletzbarkeit, und auch ihre physische wie psychische Behandlungsnotwendigkeit, und erließ entsprechende temporäre Bescheide.

In all diesen Fällen wurde der Gerichtshof angefragt, ob eine Rückkehr den Artikel 3 der Menschenrechtskonvention verletzte, der die Abschiebung einer Person mit Risiko von Folter oder grausamer, inhumaner oder entwürdigender Behandlung verbietet. Der „leading case“ auf diesem Gebiet der Dublin-Rückschiebungen ist der Fall Belgien-Griechenland vom 21. Januar 2011, in dem der Gerichtshof dafür hielt, dass die Rückschiebung eines afghanischen Asylantragstellers von Belgien nach Griechenland Artikel 3 der Menschenrechtskonvention verletzen würde.

Verschiedene nationale Gerichte haben ebenfalls Abschiebungen nach Italien blockiert, unter Berücksichtigung ähnlicher Situationen der Aufnahmebedingungen für AsylantragstellerInnen. Zum Beispiel haben deutsche Gerichte zwischen Dezember 2010 und November 2011 mindestens 41 Rückschiebungen nach Italien wegen dieser Gründe gestoppt.

Verfahren in den Niederlanden

Herr Kurke Kebato und seine Frau sind am 21. Dezember 2011 in die Niederlande eingereist. Sie haben am 16. Januar 2012 ihren Asylantrag gestellt. Nur acht Tage später, am 24. Januar 2012, hat ihr Amt den Antrag verworfen und ihre Abschiebung nach Italien angeordnet. Das Paar legte Widerspruch gegen diese Entscheidung ein beim Regionalgericht von Zwolle, der am 22. Februar 2012 abgelehnt wurde. Ihr Anwalt brachte die Sache vor den Höchsten Gerichtshof am 30. März 2012, um den Vollzug der Abschiebeanordnung auszusetzen und um die Sache selbst erneut zur Verhandlung zu bringen. Der Anwalt bezog sich auf den Temporär-Bescheid des ECtHR am 2. April 2012.

Wie auch immer diese Widerspruchsverfahren ausgehen werden, wenden wir uns an Sie, um seine sofortige Freilassung anzuordnen und alle notwendigen behördlichen Schritte einzuleiten, damit sie ein neues Leben in den Niederlanden beginnen können.

Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und stehen Ihnen für weitere Informationen zur Verfügung.

Human Rights Watch

Amnesty International

Gisti

International Federation for Human Rights

Migreurop

Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Report of the Committee on Migration, Reugees and Displaced Persons, Lives Lost in the Mediterranean Sea: who is responsible?, Rapporteur Ms. Tineke Strik, adopted on March 29, 2012. The report is available at http://reliefweb.int (accessed March 30, 2012).

ECtHR, Grand Chamber, Judgement of 23 February 2012, Hirsi Jamaa and Others v. Italy, Application no. 27765/09.

Human Rights Watch (HRW), Pushed Back, Pushed Around: Italy’s Forced Return of Boat Migrants and Asylum Seekers, Libya’s Mistreatment of Migrants and Asylum Seekers, September 2009, http://inchieste.repubblica.it (accessed March 30, 2012).

A.E. v. The United Kingdom, Application no. 63388/11, interim measures issued on October 27, 2011; Halimi v. Austria, Application no. 53852/11, interim measures issued on January 6, 2012; B.M. and others v. Denmark, Application no. 4346/12, interim measures issued in January 2012; H.S. and others v. Belgium, Application no. 10973/12, interim measures issued in February 24, 2012; Daytebgova and Magomedova v. Austria, Application no. 6198/12, interim measures issued February 10, 2012.

A.E. v. The United Kingdom, Application no. 63388/11.

ECtHR, Grand Chamber, Judgement of 21 January 2011, M.S.S. v. Belgium and Greece, Application no. 30696/09.

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