12. März 2014 · Kommentare deaktiviert für Fluchthilfe und jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938–1944 (I. Meinen / A. Meyer) REZ · Kategorien: Deutschland, Lesetipps

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„Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa. In den Tod gehetzt

Urs Hafner

Die Nationalsozialisten verfolgten während des Zweiten Weltkriegs das Ziel, die jüdischen Bevölkerungen Europas auszurotten. Dass ihnen dies nicht gelang, liegt nicht nur am Sieg der Alliierten über Hitler, sondern auch am Überlebenskampf der Juden. Von den Nazis gehetzt und von den demokratischen Staaten im Stich gelassen, versuchten Juden noch in ausweglosen Situationen, ihrer Ermordung zu entgehen, und sei es mit einem todesmutigen Sprung vom Zug, der Richtung Auschwitz fuhr.

Insa Meinen und Ahlrich Meyer rücken in ihrem eindringlichen Buch «Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938–1944» eine unterbelichtete Seite der Geschichte ins Licht: die von Juden unternommenen Fluchten, die angesichts der damit verbundenen Risiken als Widerstand gegen die Verfolger zu interpretieren seien. […]

Im Mittelpunkt der Studie steht Belgien […] Von hier aus wollten die Emigranten weiterziehen, in das unbesetzte Südfrankreich, in die neutrale Schweiz, nach England, Spanien, Palästina oder Übersee. Doch allzu oft wurden sie abgewiesen, interniert, ausgeliefert, in den Tod geschickt. Aus den Niederlanden etwa gab es kaum ein Entkommen; 75 Prozent aller dort lebenden Juden seien in die Vernichtungslager deportiert worden.

Von Ost nach West verlief die grosse Fluchtbewegung, die Meinen und Meyer – sie ist Sozialwissenschafterin an der Universität Oldenburg, er emeritierter Historiker der nämlichen Institution – für die Jahre 1938 bis 1944 untersuchen, von der unvermittelt offenen Terrorisierung der Juden in Deutschland bis fast zum Ende des Kriegs, als die «Endlösung», der Genozid, in vollem Gang war. Zuerst zwangen die Nazis die Juden in Deutschland, von denen viele aus dem Osten eingewandert waren, zum sofortigen Verlassen des Landes. Ihres Eigentums beraubt, teilweise ohne Papiere, mussten sie die westlichen Nachbarstaaten um Aufnahme bitten oder – im gängigen Fall der Ablehnung – versuchen, illegal über die Grenzen zu kommen. Einerseits seien diese Länder nicht vorbereitet gewesen; das traditionelle Asylrecht habe den Fall der «rassisch» Verfolgten nicht vorgesehen. Und andererseits habe fast überall eine antisemitische Grundstimmung vorgeherrscht.

Nach 1941 änderten die Nazis ihre Politik: Sie verboten den Juden die Ausreise, um ihrer habhaft zu werden und sie im Osten zu ermorden. Als Todeskandidaten wurden viele Flüchtlinge dorthin zurückgeschickt, von wo sie aufgebrochen waren. Nur schon die bis dato – und erstaunlicherweise – kaum eruierten Zahlen lassen die Ausmasse des Flüchtlingsdramas erahnen, das dem Vernichtungsdrama voranging.

[…] Mit zunehmender Beklemmung hingegen folgt man den zahlreichen von den Autoren rekonstruierten Einzelschicksalen. Man kann sich das Leben auf der Flucht kaum widrig genug vorstellen. Immer in Furcht, auf Visa wartend, mit gefälschten Papieren unterwegs, illegal Grenzen überschreitend, an falscher Adresse wohnend, auf der Suche nach Angehörigen, ohne Auskommen, hungernd, eingesperrt, von französischen oder Schweizer Grenzbeamten zurückgewiesen, die Kinder zurücklassend oder vorausschickend – so versuchten die Verfolgten während Jahren zu überleben. Diese quellennahe, nüchterne und knappe Schilderung der dunklen Jahre der Flucht geht zu Herzen. […]

Die Fallgeschichten enden fast alle in Auschwitz. Dass in Meinens und Meyers Buch wenig Überlebende vorkommen, liegt an den konsultierten Quellen, die überwiegend Ermordete erfassen; rund die Hälfte der 50 000 Flüchtlinge, die sich in den Niederlanden, in Belgien und Frankreich durchschlugen, entkam den Verfolgern. Die Quellen – polizeiliche Dossiers, amtliche Register, Deportationslisten und andere – sind durchgehend digitalisiert worden, also im Internet verfügbar. Die Studie ist damit ein vorbildliches Beispiel der «Digital Humanities». Doch Digitalisierungseuphorie liegt den Autoren fern. Beinahe unheimlich nämlich erscheint ihnen das mithilfe von Datenbanken und Datenaggregation generierte präzise Wissen über die Opfer. Es klingt so etwas wie ein Unbehagen an, die Menschen ein zweites Mal als «Fälle» zu identifizieren. Gross ist Insa Meinens und Ahlrich Meyers Respekt vor den Ermordeten. Beängstigend dünkt die beiden der Gedanke, der deutschen Bürokratie von damals hätten die technisch-digitalen Mittel von heute zur Verfügung gestanden. – Es wären noch weniger Fluchten geglückt.“

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