04. September 2013 · Kommentare deaktiviert für Syrien: Größte Flüchtlingskrise seit 20 Jahren – Europa verschlossen – nzz · Kategorien: Europa, Syrien · Tags:

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„Über 6 Millionen Syrer auf der Flucht
Die grösste Flüchtlingskrise in der nahöstlichen Geschichte

– Die Uno hat die Anzahl syrischer Flüchtlinge in den Nachbarländern auf über zwei Millionen beziffert. Es handelt sich um die grösste Flüchtlingskrise seit dem Bürgerkrieg in Rwanda vor 20 Jahren. Europa öffnet seine Türen jedoch kaum.
Monika Bolliger, Beirut

[…] Laut dem Uno-Hilfswerk für Flüchtlinge (UNHCR) sind über 2 Millionen Syrer in die umliegenden Länder geflohen. Dabei handelt es sich lediglich um jene, die beim UNHCR registriert sind oder auf Registrierung warten. Etwa 1 Million sind Kinder. Weiter schätzt das Hilfswerk, dass rund 4,25 Millionen innerhalb des Landes auf der Flucht sind. Insgesamt sind das fast ein Viertel aller Syrer. Es handelt sich um die schlimmste Flüchtlingskrise seit dem Genozid von Rwanda 1994. Täglich werden laut der Uno weitere 6000 Syrer zur Flucht gezwungen. Im Fall eines amerikanischen Angriffs wird die Zahl nochmals in die Höhe schnellen. Die Nachbarländer stossen längst an ihre Grenzen. […]

Wer heute durch die Strassen von Beirut geht, kann die Zunahme von Bettlern und Jungen, die Rosen verkaufen, kaum übersehen. Besonders im zentralen Viertel Hamra ist in den Cafés und an jeder Strassenecke der syrische Dialekt zu hören. Nicht alle Libanesen bringen Verständnis für die Lage der Syrer auf. «Wir Libanesen würden nie betteln», sagte kürzlich ein Passant. Ein anderer bezeichnete die Syrer als geldgierig. Das kleine Zedernland, dessen Einwohnerzahl nur rund 4 Millionen beträgt, hat laut dem UNHCR über 700 000 Flüchtlinge aufgenommen. Insgesamt ist heute etwa jede vierte Person in Libanon ein syrischer Flüchtling. Die Gesamtzahl der Syrer in Libanon dürfte noch einiges höher sein.

Im Gegensatz zu anderen Ländern hat Libanon keine Flüchtlingslager errichtet, weshalb die Syrer sich im Land verteilen. […]

Die Syrer sind in ihrer Heimat mit einer katastrophalen Situation konfrontiert. Das Regime zerbombt bisweilen ganze Viertel, um mit den Rebellen sympathisierende Bewohner zu bestrafen und einzuschüchtern. Es kam wiederholt zu Massakern, wobei insbesondere die regimetreuen Milizen im Verdacht stehen. Rebellen führen in von ihnen kontrollierten Gebieten Exekutionen durch. Beide Seiten errichten Blockaden, was die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Strom, Wasser und Medizin behindert. Die meiste humanitäre Hilfe muss auf Geheiss des Regimes via Damaskus gehen, was den Zugang zur Peripherie erschwert. […]

In Jordanien, das über 500 000 registrierte Flüchtlinge beherbergt, hat der Zustrom von Neuankömmlingen etwas nachgelassen. Rund 40 000 Syrer sind laut einer lokalen Zeitung im Grenzgebiet gestrandet und können wegen Kampfhandlungen die Grenze nicht überqueren. Offiziell ist die jordanische Grenze für Flüchtlinge geöffnet, Aktivisten berichten allerdings von Restriktionen für palästinensische Syrer. […] Eine halbe Million plus die nicht als Flüchtlinge registrierten Syrer fallen unter den 6 Millionen Jordaniern ins Gewicht. Auch in der Türkei, die rund 460 000 Syrer beherbergt, hat sich jüngst in der Bevölkerung Unmut bemerkbar gemacht.

Schwerer als in Libanon und Jordanien haben es aber derzeit die Syrer in Ägypten, wo sie unlängst noch mit offenen Armen empfangen worden waren. Seit dem Sturz Mursis ist das Klima dort umgekippt. Die Regierung beschuldigt die Syrer, mit den Muslimbrüdern einen gewaltsamen Aufstand angezettelt zu haben. Eine Hetzkampagne gegen Syrer in den Medien stellte diese als Teil einer islamistischen Verschwörung gegen Ägypten dar. Seither wurden rund 300 Syrer verhaftet, manche wurden nach Syrien oder Jordanien deportiert, und viele weitere sind abgereist, weil sie sich angesichts der Feindseligkeiten kaum mehr auf die Strasse trauten. «Ich fürchte nicht nur die Sicherheitskräfte, sondern auch die normalen Leute», sagt Mohammed, der aus Daraa nach Kairo geflohen ist. «Viele einfachen Leute glauben hier alles, was ihnen die Medien erzählen.»

Geschlossene Türen in Europa

Zahlenmässig fallen die 110 000 syrischen Flüchtlinge in Ägypten in dem Land mit über 80 Millionen Einwohnern am wenigsten ins Gewicht. Selbst im Irak ist ihre Zahl mit fast 170 000 höher. Insgesamt haben sich 97 Prozent der geflohenen Syrer in umliegenden Ländern niedergelassen. Als einziges Nachbarland hält das mit Syrien verfeindete Israel die Grenzen für Flüchtlinge geschlossen, lässt aber Schwerverletzte in Spitälern behandeln. In Europa scheint man derweil trotz dem Ausmass der Flüchtlingskrise kaum bereit, eine grössere Anzahl Flüchtlinge aufzunehmen. Eine Ausnahme bildet Schweden, das bereits 14 700 Syrern Asyl gewährt hat und diesen jetzt unbefristete Aufenthaltsbewilligungen erteilen will. Deutschland hat die Aufnahme von 5000 syrischen Flüchtlingen beschlossen. Dem UNHCR fehlt es weiterhin an Geld. Nur 40 Prozent der veranschlagten Kosten wurden bisher gedeckt.“

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