13. September 2012 · Kommentare deaktiviert für Tunesisches Todesschiff: Überlebende auf Lampedusa berichten im tunesischen Radio · Kategorien: Italien, Tunesien · Tags: , ,

Die Stimme der Überlebenden, übertragen von Gihene Sillini, tunesische Reporterin auf Lampedusa

Tunesier, die das Schiffsunglück vor Lampedusa überlebt haben, berichten live im tunesischen Radio Mosaique FM, das bei den Jugendlichen in Tunesien sehr beliebt ist. (Es ist auch über Internet zu empfangen.)

Der entsandten Radio-Korrespondentin Gihene Sillini gelingt es immer wieder, Überlebende im Abschiebeknast von Lampedusa zu interviewen.So berichtet der Harraga Mohamed Mouldi Rezgui, dass mehrere Schiffe der tunesischen Küstenwache dem Harraga-Boot bis an die Meergrenze zwischen tunesischen und internationalen Gewässern gefolgt seien. Polizisten der tunesischen Küstenwache „Alyssa“ hätten sie mit Videokameras öfters gefilmt. Dann hätten sie die Boat-people aufgefordert aufzupassen, obwohl sie deren Navigationsprobleme bemerkt hatten – sie hätten fast kein Benzin mehr gehabt.

Der Sprecher der tunesischen Küstenwache hatte schon vor Tagen bestätigt, dass sie streckenweise mit dem Flüchtlingsboot in Kontakt standen und schließlich die italienischen Behörden zu Hilfe gerufen hätten.

Bei dem Schiffsunglück 12 Meilen vor Lampedusa sind nach Angaben der Passagiere 79 Personen ertrunken. 36 Namen von Vermissten zirkulieren inzwischen, die Überlebenden haben die Liste erstellt. Über Radio und neue Medien stehen manche Überlebende mit Angehörigen notdürftig in Verbindung.

Die italienischen Behörden und Medien haben in den vergangenen Tagen die spektaluläre Version verbreitet, dass es nur zwei Tote gegeben habe. Ein Geisterschiff von Schleppern habe die Passagiere in der Nähe der Felseninsel Lampione ins Wasser geworfen. Mit dieser Version wurde die Empörung gegen vermutete Schlepper gelenkt.

In der Tat werfen der Hergang der Überfahrt und die Umstände des Unglücks zahlreiche Fragen auf. Warum haben die Schiffe der tunesischen Küstenwache das Flüchtlingsboot streckenweise in engem Kontakt begleitet? Warum haben die italienischen Behörden nach dem übermittelten SOS der tunesischen Küstenwache nicht mit einer Rettungsaktion reagiert? Warum blieben in dem Seegebiet vor Lampedusa, das zur Todeszone wurde, drei Nato-Schiffe und ein Überwachungsflugzeug nach dem SOS-Ruf der Überlebenden 10 Stunden lang untätig, genauso wie die nahgelegene italienische Küstenwache?

Gestern (12.09.2012) ist der tunesische Außenminister  Rafik Abdesslam, auf Lampedusa eingetroffen. Inzwischen dürften sich über ein Dutzend tunesische Staatsminister, Parteichefs und hohe Diplomaten auf der Insel aufhalten. Das ist überaus ungewöhnlich. Die Überlebenden weigern sich, auf gemeinsamen Pressefotos mit ihnen zu erscheinen, und lehnen jedwede diplomatisch und finanziell abgefederte Abschiebung ab. – Die italienische Regierung hat bereits moniert, dass die in 2011 bilateral vereinbarten polizeilichen Straßensperren in Südtunesien die Ausreisewilligen nicht vorab aufgehalten hätten.

Die Empörung in den ausgebluteten Städtchen des tunesischen Landesinneren und in den Vororten von Tunis und Sfax ist ebenfalls ungewöhnlich. Erstmals gab es regelrechte Lokalaufstände wegen des Sterbens auf dem Mittelmeer. Angehörige von anderen Boat-people, die auf See gestoppt wurden, blockierten aus Protest den Sitz der Küstenwache in Sfax. Im Städtchen El Fahs brannten die Empörten drei Polizeistationen und den Sitz der Regierungspartei Ennahda ab.Die Wut entzündete sich auch an der üblichen opaken italienisch-tunesischen Regierungspraxis. Die Listen der Überlebenden und der Verschwundenen des Todesschiffs wurden nur durch die mutige Arbeit von ReporterInnen bekannt, die Regierung schwieg. Erst anschließend liess sie die Listen auf offizielle Websites setzen.

Es ist überfällig, die Abschaffung der Visa-Pflicht zu fordern. Dann wäre das Sterben im Mittelmeer schlagartig beendet.

http://www.mosaiquefm.net/index/a/ActuDetail/Element/23779-Rafik-Abdesslam-fait-le-d%C3%A9placement-%C3%A0-Lampedusa.html

http://www.repubblica.it/solidarieta/diritti-umani/2012/09/12/news/profughi_tunisini-42424510/?ref=search

Frühere Berichte zu dem Todesschiff auf ffm-online:

https://archiv.ffm-online.org/2012/09/11/todesschiff-lampedusa-rettungsschiffe-brauchten-10-stunden-fur-12-meilen-entfernung/

https://archiv.ffm-online.org/2012/09/11/tunesisches-todesschiff-namen-von-uberlebenden-aus-abschiebeknast/

Tunesien: Streik und Unruhen wegen Boat-people Sterben

https://archiv.ffm-online.org/2012/09/11/tunesisches-todesschiff-fuhr-weitgehend-unter-polizeilicher-beobachtung/

https://archiv.ffm-online.org/2012/09/10/25-heiraten-und-50-beerdigungen/

https://archiv.ffm-online.org/2012/09/07/vor-lampedusa-bis-zu-100-boat-people-ertrunken/

 

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