07. Juni 2012 · Kommentare deaktiviert für Arabellion und der Scherbenhaufen der Europäischen Nachbarschaftspolitik · Kategorien: Mittelmeerroute, Tunesien

Beispiel Tunesien

In den letzten Monaten der Herrschaft Ben Alis in Nordafrika beschloss die EU, Tunesien in den Status avancé / die privilegierte Partnerschaft zu befördern. Damit wäre Tunesien das erste Land Nordafrikas gewesen, das wirtschaftlich wie politisch eng an die EU gerückt wäre. Im Gespräch war sogar, dass Tunesien in formeller Hinsicht die Führung der Union für das Mittelmeer übernehmen sollte. Doch dann kam die Arabellion.

Einiges an Hintergrundpapieren und -informationen kam inzwischen ans Tageslicht. Ein grosser Teil der EU-Förderungen war ohne Rechenschaftsberichte in das Ben-Ali-System geflossen. Die Wirtschaft Tunesiens war in den letzten zehn Jahren in eine katastrophale Abhängigkeit von Europa geraten. Beispiel Olivenöl: EU-Vorschriften erlaubten nicht, dass das in rauen Mengen in die EU exportierte Agrarprodukt vorab in Tunesien verarbeitet wurde. Es gelangte als „italienisches“ oder „spanisches“ Olivenöl auf die europäischen Märkte.

Nach dem Umsturz in Tunesien bekannten sich die Regierungen der EU in Lippenbekenntnissen zur Revolution in dem nordafrikanischen Land. Dabei hatten sie – wortwörtlich – bis zur letzten Minute Ben Ali unterstützt. Nun brachen schlagartig die EU-Förderprogramme für Tunesien zusammen. Auf dem G-8-Gipfel im April 2011 versprachen die Großmächte ein 40-Milliardenpaket für das Land – es wurde nicht umgesetzt.

Mit der Arabellion war die Europäische Nachbarschaftspolitik an ihrer Südseite, die Union für das Mittelmeer sowie die Europäische Sicherheitsdoktrin gescheitert. Damit begann ein Umstellungsprozess in der EU, der sich zuvor bereits angedeutet hatte: Die politische wie wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte nur noch selektiv erfolgen. Leuchtturmprojekte und soziale Feuerwehrprogramme statt flächenhafte Kooperation.

Die sich neu formierende tunesische Elite war alarmiert. Auf der einen Seite war das Land seit der Revolution durch anhaltende Streiks und Straßenblockaden gelähmt. Auf der anderen Seite blieb die versprochene Unterstützung seitens der EU weitgehend aus. Weder wurden die EU-Märkte für tunesische Agrarprodukte formell geöffnet, noch kamen die Ausfall- und Fördergelder in veranschlagter Höhe, und die Visapolitik wurde nicht gelockert. 2011 wurde zum gefährlichsten, tödlichsten Jahr in der tunesischen Emigrationsgeschichte – weil die EU mit Frontex und der Nato die Meeresgrenzen abschottete und Schiffbrüchigen nicht zu Hilfe kam.

In diese Lücke der ausgebliebenen finanziellen und politischen Unterstützung stießen die Golfstaaten vor. Sie übernahmen einen Teil der EU-Abhängigkeitsstrukturen, durch grosse Investitionen und Projekte des technologischen Transfers.

Eineinhalb Jahre nach Beginn der tunesischen Revolution beginnt sich das Verhältnis zwischen der EU und Tunesien neu zu formieren. Wieder ist die Rede von der baldigen privilegierten Partnerschaft – und von Taskforce und Sonderprogrammen, nur für Tunesien. In den aktuellen EU-Dokumenten sucht man vergebens nach einer (Selbst-)Kritik der Zusammenarbeit mit dem Ben-Ali-Regime und der Mitverantwortung für die polizeiliche Unterdrückung an der verlängerten Werkbank Tunesien. Man sucht vergebens nach verbindlichen Zusagen für die Rückzahlung des restlichen in der EU gelagerten Ben-Ali-Vermögens. Man sucht vergebens nach einem Abkommen zur Streichung der Staatsschulden, die das Ben-Ali-Regime verursacht hat. Man sucht vergebens nach Vereinbarungen über Reparationen. Alle schönen Versprechen, wie die Öffnung der europäischen Agrarmärkte für tunesisches Olivenöl, sind auf die lange Bank der Verhandlugen geschoben. Die Abschottung des Meeres vor Tunesien wird zwar nie wieder so funktionieren wie zuvor, weil die Kriminalisierung der freien Ausreise in Tunesien nicht konsensfähig ist. Aber die EU-Überwachung des Mittelmeeres erstreckt sich, technikgestützt, inzwischen bis an die Strände Nordafrikas.

Helmut Dietrich

http://www.eeas.europa.eu/tunisia/docs/20110929_taskforce_en.pdf
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/11/652&format=HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=en
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/11/635&format=HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=en
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/11/616&format=HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=en
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/11/642&format=HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=en
http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_Data/docs/pressdata/EN/foraff/124802.pdf

 

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