04. März 2015 · Kommentare deaktiviert für Europas beschämende Flüchtlingspolitik – SPIEGEL · Kategorien: Europa, Mittelmeer · Tags: , ,

SPIEGEL ONLINE

Die Boote sind voll

Ein Kommentar von Stefan Kuzmany

In Brüssel tagt heute die EU-Kommission zur europäischen Flüchtlingspolitik. Beschlüsse sind nicht zu erwarten – die Kommissare wollen sich erst orientieren. Was muss noch passieren, bis sie endlich handeln?

Das ist der Alltag, immer gleich: Jeden Tag sichtet diese Redaktion die Vorschauen der Nachrichtenagenturen. Was wird morgen wichtig? Die Liste ist immer lang, darauf geht es meist darum, was die Regierung verkünden will, ob die Kanzlerin irgendwo hinfliegt, wie es dem Euro geht und der deutschen Wirtschaft, kurz: welche Themen, Veranstaltungen und Pressekonferenzen als relevant genug gelten, damit die Agentur darüber berichtet. Und ganz unten, nur der Vollständigkeit halber, stehen die aussortierten „Termine voraussichtlich ohne Berichterstattung“.

Heute, am Mittwoch, wird demnach nicht berichtet über den fortgesetzten Staatsbesuch des mexikanischen Präsidenten in London, eine Etat-Anhörung im US-Repräsentantenhaus – und über ein Treffen in Brüssel: „EU-Kommission debattiert über die europäische Flüchtlingspolitik.“ So informiert die Deutsche Presseagentur (dpa) und erläutert: „Es handelt sich um eine Orientierungsdebatte, es werden keine konkreten Vorschläge oder Beschlüsse erwartet.“

Wo nichts geschieht, gibt es nichts zu berichten

Und die dpa hat ja recht: Wo nichts geschieht, gibt es nichts zu berichten. Doch man darf sich schon fragen, worüber sich die EU-Kommission denn noch orientieren muss, bevor sie sich in der Lage sieht, Beschlüsse zu fassen oder zumindest Vorschläge zu machen für eine bessere, eine den europäischen Werten würdige Flüchtlingspolitik?

Muss sie vielleicht noch einmal nachsehen, ob tatsächlich täglich Tausende Verzweifelte versuchen, dem Krieg in ihrer Heimat irgendwie zu entkommen, um ein besseres oder überhaupt ein Leben für sich und ihre Familien zu finden? Muss sie herausfinden, ob es wirklich Schlepperbanden gibt, die gegen viel Geld Menschen auf überladene Schrottschiffe pferchen und sie dann auf eine lebensgefährliche Überfahrt nach Europa schicken? Das muss sie nicht, sie kennt das alles, es ist Alltag.

Muss sich die EU-Kommission dann etwa darüber orientieren, ob die europäischen Außengrenzen genügend abschreckend sind, ob es genug Personal und Stacheldraht gibt, um die Flüchtlinge aufzuhalten – oder ob man noch ein paar Millionen mehr dafür bereitstellen sollte, damit sich die EU-Bürger weiter sicher fühlen dürfen und weit weg vom Elend? Muss sie darüber debattieren, wie man Länder wie Marokko, die Türkei oder die Ukraine dabei unterstützen kann, noch mehr Menschen brutal von den europäischen Grenzen fernzuhalten und von dem, was sie suchen: Recht und Sicherheit? Auch das muss sie nicht, sie kennt die Zahlen, sie kennt die Methoden, die Abschottung ist Alltag.

Oder muss sich die EU-Kommission nur darüber verständigen, was geschieht, wenn wieder ein Schiff sinkt mit Hunderten Männern, Frauen und Kindern darauf? Muss sie vielleicht heute bestimmen, wer aus ihrer Mitte dann vor die Kameras treten und von einer humanitären Katastrophe reden muss, die dringend einer Lösung bedarf?

Das muss sie, denn das nächste Schiff wird sinken. Das ist der Alltag an den Grenzen Europas.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.