Flüchtlinge im Mittelmeer
Stimme der Hoffnung
Seine Telefonnummer ist für Bootsflüchtlinge oft der letzte Ausweg. Sie steht an Wänden der Lager und den Decks der Boote. Mussie Zerai arbeitet als Priester in der Schweiz. Seine Anrufe haben tausenden Menschen das Leben gerettet.
Die SMS leuchtet grün auf dem Telefondisplay, auf Englisch: „Lieber Baba, hilf uns schnell. Wir haben kein Essen, kein Wasser, und der Handyakku ist fast leer.“ Mussie Zerai wischt sie weg. „35,47 / 16,67, 35. Breitengrad, 16. Längengrad“, erklärt er. „Mittelmeer, zwischen Libyen, Malta und Sizilien.“ Die Nachricht hat ihm am 2. Oktober ein Eritreer geschickt, ein Bootsflüchtling auf dem Weg nach Europa. Zerai hat die GPS-Daten gleich weitergeschickt, an die Seenotrettung, an die Küstenwachen. Jetzt schaut er auf die Nachricht, eine tiefe Falte teilt seine Stirn. „Wenn ein Boot noch in libyschen Gewässern ist, fühlen sich Italien und Malta nicht verantwortlich. Dann müssen andere helfen.“ Andere, wie die libysche Küstenwache, von der er weiß, dass sie Migranten nicht gut behandelt. Zerai steckt das Telefon in die Brusttasche seines Jacketts, wo er es immer aufbewahrt.
Der Bootsflüchtling ist einer von Tausenden, die in den vergangenen zehn Jahren bei Abba Mussie Zerai Hilfe gesucht haben. Auch er stammt aus Eritrea, ist katholischer Priester und arbeitet in einer Gemeinde bei Aarau, in der deutschsprachigen Schweiz. Er ist ein kleiner Mann von 39 Jahren; er sieht älter aus. Die Haare sind grau meliert, es sind nicht mehr viele, um die Augen haben sich Falten eingegraben.
Seine Nummer ist für viele die letzte Hoffnung
Seine Telefonnummer ist seit dem Sommer 2004 so etwas wie die letzte Hoffnung für Bootsflüchtlinge. Sie kursiert unter den Migranten aus Eritrea, Somalia und Äthiopien. Sie steht an Wänden von Flüchtlingslagern in Libyen und an den Decks der Flüchtlingsboote. Jemand hatte die Nummer auch an das Boot geschrieben, das im Oktober 2013 vor Lampedusa sank. So erzählte es ein Überlebender des Unglücks, bei dem unmittelbar vor der Insel 366 Menschen ertranken. Der Mann sagte auch, dass die Passagiere fest daran glaubten, Mussie Zerai könne ein Rettungsboot schicken, egal, wo sie seien. Das Schiff sank aber zu schnell, der Anruf erreichte ihn nie.
Die italienische Küstenwache schätzt, dass Mussie Zerai schon 6000 Menschen das Leben gerettet hat, mindestens.
Die Telefonrechnungen betragen manchmal mehrere tausend Euro
Zerais Telefonrechnungen betragen manchmal mehrere tausend Euro im Monat. Um sie bezahlen zu können, gründete er vor acht Jahren die Hilfsorganisation „Agenzia Habeshia“. Zunächst nutzte er die Organisation tatsächlich nur, um Spenden für die Telefonkosten zu sammeln. „Aber irgendwann merkte ich, dass ich nicht nur die kleinen Feuer löschen kann, sondern dass ich den ganzen Brand löschen muss.“
Was der Aktivist von der Organisation Frontex hält
Anfang Oktober war Mussie Zerai auf Lampedusa zum Jahrestag der Schiffsunglücks. Es war neun Uhr abends, er saß gerade mit Überlebenden beim Abendessen, als er einen Anruf erhielt. Aufgeregt erklärte ihm ein Mann, er sei mitten auf dem Meer, mit hundert anderen, der Motor des Boots springe nicht mehr an. Mussie Zerai erklärte ihm, wie er die Positionsdaten des Schlauchboots aus dem Satellitentelefon, das ihm der Schlepper geliehen hatte, lesen konnte. „Schick mir die Angaben per SMS“, sagte er. Und: „Ich helfe euch. Aber es kann ein wenig dauern, bis Rettung kommt.“
Die Daten schickte er dann per Mail an die Einsatzleitung der Küstenwachen von Italien und Malta, an die italienische Seenotrettung. Und er informierte auch ein italienisch-amerikanisches Ehepaar, das seit dem Sommer von Malta aus mit einem 40 Meter langen Motorboot Schiffbrüchigen hilft. Schon in den wenigen Wochen hat das Paar mehr als 2000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet.
Wenn er nichts mehr hört, geht er von dem besten aus
Von dem Eritreer hat Zerai danach nichts mehr gehört, auch von den Rettungskräften hat er keine Nachricht bekommen. „Wenn ich nichts mehr höre, ist meistens alles gut gegangen“, sagt Zerai, den alle nur Father Mussie nennen. Mussie Zerai sitzt im Foyer des Kongresszentrums der Vereinten Nationen in Genf. Er trägt eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und das Kollar, den weißen Kragen der Priester. Gleich hält er auf einer Tagung einen Vortrag vor NGO-, UN-Mitarbeitern, Politikern, es geht um Migration und Familie. „Lobbyarbeit“, sagt er. Am Tag zuvor hat er auf Lampedusa noch Martin Schulz, den Präsidenten des EU-Parlaments, getroffen. „Ich fordere immer dasselbe: einen Vier-Stufen-Plan“, sagt er. Danach muss umgehend mehr Geld in die Rettung von Flüchtlingen in Seenot investiert werden und weniger in Abschottung. Kurzfristig müsse es legale Fluchtwege nach Europa geben, schon in Afrika sollten die Flüchtlinge Asyl beantragen können, nicht erst in Europa. Die afrikanischen Nachbarländer der Krisen- und Kriegsregionen seien mittelfristig gefragt, die Flüchtlinge zu versorgen und ihnen Chancen zu geben. Langfristig müsse die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessert werden, keiner solle mehr sein Land verlassen müssen.
Für Zerai steht Frontex, die europäische Grenzschutzagentur, die gerade zehn Jahre alt geworden ist, für die Politik der Abschottung, die er verantwortlich macht für den Tod von tausenden Menschen. Dass im November „Frontex Plus“ startet und es dann auch Aufgabe der europäischen Grenzschützer sein soll, Flüchtlinge in Seenot zu retten, ändert nichts an seiner Meinung. „Politiker reden, reden, reden“, sagt Mussie Zerai und sticht mit gekrümmtem Zeigefinger in die Luft. „Aber meistens haben sie schon nach ein paar Wochen wieder vergessen, was sie gesagt haben. Europa schottet sich weiter ab, anstatt etwas für die Flüchtlinge zu tun.“
Immerhin, eins habe sich zum Besseren geändert: „Seit Beginn von Mare Nostrum“ – jener Operation der italienischen Marine und der Küstenwache, die nach dem Unglück am 3. Oktober 2013 gegründet wurde, um Flüchtlinge in Seenot zu retten –, „hat die italienische Küstenwache immer reagiert, wenn ich sie um Hilfe bat.“ Frontex Plus soll Mare Nostrum nun ersetzen, allerdings mit weniger Geld und weniger Schiffen.
Wie der Eritreer Zerai nach Europa kam
Zerai kam vor 23 Jahren aus Eritrea nach Italien, im Flugzeug und mit einem Visum. Der Bischof der Hauptstadt Asmara hatte ihn geschickt. Zerai lernte am Hauptbahnhof von Rom einen britischen Priester kennen, der minderjährigen Flüchtlingen dabei half, Asyl zu beantragen. Die ersten vier Jahre in Italien übersetzte Zerai für den britischen Priester, arbeitete als Zeitungsausträger und als Obstverkäufer, er ging aus, genoss die Freiheiten, die er aus seiner Heimat nicht kannte. Dann lernte er die Scalabrini-Missionare kennen, eine Kongregation, die sich für Immigranten einsetzt. „Als ich im Fernsehen das erste Mal von den Scalabrini erfuhr, war das für mich wie eine Erleuchtung“, sagt Zerai. Drei Jahre lang studierte er in Piacenza, der Heimatstadt des Gründers der Scalabrini. Anschließend verbrachte er sieben Jahre lang in Rom in einer Scalabrini-Mission. 2010 kam er in die Schweiz.
In seinem ersten Jahr in Rom lernte er Afrikaner kennen, die in verlassenen Fabriken und Slums lebten, keine Aufenthaltserlaubnis hatten und kaum Arbeit. Zerai wollte helfen, organisierte Demonstrationen, forderte in Brüssel eine menschlichere Flüchtlingspolitik. Als er im Jahr 2004 das erste und bisher letzte Mal nach Eritrea zurückkehrte, sah er, wie seine Landsleute, auch sein eigener Bruder, unter der Militärdiktatur leiden, die alle Männer über 18 zu jahrelangen, manchmal lebenslangen Militärdiensten zwingt. Er gab einigen Bekannten seine Telefonnummer, sagte, „wenn ihr mal meine Hilfe braucht“. Wenig später hörte sein Telefon nicht mehr auf zu klingeln.
Seitdem schaltet Mussie Zerai sein Handy nie aus. Morgens gilt sein erster Blick dem Display. „Manchmal passiert es, dass ich einen Anruf verpasse, weil ich so tief schlafe“, sagt er. „Zu spät zurückzurufen, das ist mein Albtraum.“ Seine Stimme klingt sanft und ruhig, passt gar nicht zu der Angst, von der er gerade erzählt. Er habe seine Stimme trainiert, damit sie in jeder Lage beruhigend klingt. „Manchmal ist sie das Einzige, was ich den Flüchtlingen bieten kann.“
Das Telefon in seiner Tasche vibriert
Das Telefon in seiner Brusttasche vibriert. Auf dem Display blinkt die Nummer eines Satellitentelefons. Ein Flüchtling. „Hello?“ Er hört zu, spricht dann minutenlang auf Tigrinya, der Amtssprache von Eritrea.
„Ein Eritreer aus einem Flüchtlingslager in Libyen“, sagt er. „Er habe nichts zu essen, nichts zu trinken. Sie sind so viele, dass er sich nicht setzen kann.“
Mussie Zerai blickt zur Decke. Dann zeigt er auf den Raum, wo er gleich seinen Vortrag halten wird. „Nur die Politiker können wirklich etwas ändern.“
Im Jahr 2011, während des Bürgerkriegs in Libyen, klingelte sein Telefon pausenlos. „Ich hatte keine freie Minute mehr.“ Als kurz nach dem Sturz von Ghaddafi ein Anrufer verzweifelt berichtete, dass die Rebellen Schwarzafrikaner jagten wie räudige Hunde, organisierte Zerai Schengenvisa sowie Flugtickets und rettete 110 Eritreer, die sich in einem Haus eingeschlossen hatten.
Ein besonders dramatischer Fall ereignete sich am Morgen des 27. März 2011. Zerai sah, dass er den Anruf von einem Satellitentelefon verschlafen hatte. Er rief sofort zurück, erreichte einen Eritreer, der sagte, er treibe mit 71 anderen Flüchtlingen auf einem zehn Meter langen Schlauchboot im Mittelmeer, der Motor sei zu schwach für die schwere Last, der Tank bald leer. Zerai hörte die Wellen, die gegen das Plastikboot schlugen. „Ich sagte, ich würde helfen. Ich versuchte ihnen Hoffnung zu geben.“ Zerai rief die italienische Seenotrettung an und gab die Nummer weiter, weil er damals noch nicht wusste, wie man die GPS-Daten aus dem Telefon lesen konnte. Die Seenotrettung rief die Nummer an, um die Position des Boots zu ermitteln und gab die Daten weiter, an alle Schiffe in der Umgebung.
Am Nachmittag wählte Mussie Zerai noch einmal die Nummer des Eritreers. Noch war keine Hilfe angekommen. Als er es am Abend wieder versuchte, war das Telefon aus. Zwei Wochen später meldete sich ein Überlebender und erzählte, was nach dem letzten Anruf geschehen war. Am Abend des 27. März war das Boot in einen Sturm geraten, der Tank war da schon leer. Tagelang trieb das Boot im Meer. Die Passagiere aßen ein Gemisch aus Zahnpasta und Urin. Jeden Tag starben Menschen. Als das Boot nach zehn Tagen an der Küste Libyens angespült wurde, lebten noch elf.
Drei Mal habe sich das Militär dem Boot genähert
Der Mann erzählte auch, dass das Schlauchboot auf dem Meer drei Mal Besuch vom Militär bekommen hatte. Ein Hubschrauber mit der Aufschrift „Army“ näherte sich am Abend des 27. März, umkreiste das Boot, drehte wieder ab. Der Kapitän warf das Satellitentelefon und den Kompass über Bord, damit ihn niemand als Schlepper überführen konnte. Stunden später kehrte der Hubschrauber zurück, jemand ließ an einem Seil ein paar Flaschen Wasser und Kekspackungen herab. Tage später begegnete das Schlauchboot einem Militärschiff. Die Flüchtlinge hielten die Leichen in die Luft, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Das Schiff näherte sich bis auf ein paar Meter, drehte ab.
Der Fall wurde international bekannt als „Left-To-Die-Boot“, als das Boot, dessen Insassen dem Tod überlassen wurden. Mussie Zerai klagte gemeinsam mit Flüchtlingshilfsorganisationen in mehreren europäischen Staaten. Die Europäische Kommission erstellte einen Untersuchungsbericht. Alle Überlebenden wurden interviewt, sie bestätigten die Version des Mannes, der Mussie Zerai angerufen hatte. Zur Verantwortung wurde bis heute niemand gezogen.
Zerai wird immer noch wütend, wenn er über die Tragödie spricht. „Ich will den Menschen finden, der angeordnet hat, nicht zu helfen. Ich will ihm in die Augen schauen und ihn fragen, wieso.“
Sein Bischof hat einmal zu ihm gesagt: „Du bist nicht der Retter der Welt. Der Retter der Welt ist Jesus Christus.“
„Ich denke an diesen Satz, wenn mir das alles zu viel wird“, sagt Mussie Zerai.
Der Texte erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.