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Militärputsch in Ägypten: In Nassers Fußstapfen
In Schockstarre verfolgt die Welt die bürgerkriegsähnlichen Ereignisse in Ägypten. Seit die staatlichen Sicherheitskräfte Mitte August Sit-Ins der Anhänger des gestürzten Präsidenten Muhammad Mursi räumten, ist das Land in einer Gewaltspirale gefangen, die bereits hunderte Opfer forderte – größtenteils auf Seiten der Muslimbruderschaft. Diese Eskalation ist das Ergebnis einer strategischen Kriminalisierung der Islamisten, um Kontrollmaßnahmen im Sinne der Sicherheit des Landes zu rechtfertigen, argumentiert Jannis Grimm.
Das Ausmaß an Brutalität, die Polizei und Streitkräfte gegenüber den demonstrierenden Islamisten an den Tag legen, ist erschreckend. Zum Symbol für die unverhältnismäßige Gewalt wurde das Massaker von Rabaa al-Adawiya. Nur knapp zehn Kilometer entfernt von der Keimzelle der Revolution von 2011, dem Tahrir-Platz im Herzen Kairos, hatten die Muslimbrüder dort ihr größtes Protestlager errichtet. Seit dem 4. Juli hielten sie den Rabaa al-Adawiya-Platz besetzt und forderten die Wiedereinsetzung Mursis.
In den Morgenstunden des 14. August rückten die staatlichen Sicherheitskräfte schließlich mit Tränengas und automatischen Waffen gegen die Demonstranten vor: Scharfschützen zielten auf Oberkörper und Beine, die Leichen der Getöteten wurden teilweise bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Allein nach offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums starben über 600 Menschen, darunter 43 Polizisten. Die tatsächlichen Opferzahlen dürften wohl weit darüber liegen, Vertreter der Muslimbruderschaft sprechen von mehr als 2.000 Toten. Der 14. August markiert damit den blutigsten Tag in der jüngeren ägyptischen Geschichte.
Während die Gewaltbilanz der ersten Augustwochen im Propagandakrieg von beiden Seiten instrumentalisiert wird und damit weiter umstritten bleibt, herrscht indes kein Zweifel daran, dass sich das Land in autoritäre Fahrwasser zurück begibt. Nach dem Militärcoup am 3. Juli hatten sich die ägyptischen Generäle noch bemüht, der eingesetzten Übergangsregierung einen zivilen Anstrich zu verpassen: Der international angesehene Friedensnobelpreisträger Mohamed al-Baradei etwa übernahm die Vizepräsidentschaft bis zur Abhaltung von Neuwahlen. Der oberste Befehlshaber der Streitkräfte Abd al-Fattah al-Sisi erhielt formell nur die Funktion des Verteidigungsministers. Diese Fassade begann aber schnell zu bröckeln: Mit dem Rücktritt Al-Baradeis Mitte August aus Protest gegen die Gewalteskalation hat die Übergangsregierung ihr liberales Aushängeschild verloren.
General al-Sisi konnte dagegen einen gewaltigen Popularitätszuwachs verbuchen. Vertreter des säkularen Parteienspektrums begrüßten das entschiedene Vorgehen der Streitkräfte gegen die Islamisten, und auch die Nationale Heilsfront, ein Zusammenschluss von elf liberalen Parteien, applaudierte dem General für seine Erfolge. Mitglieder der liberalen Opposition, die sich kritisch gegenüber der überzogenen Gewaltanwendung äußerten und vor einer Restaurierung des autoritären Regimes warnten, wurden dagegen als Landesverräter beschimpft.
Der starke Rückhalt für das Vorgehen der Sicherheitskräfte in der ägyptischen Bevölkerung verwundert kaum. Denn das Blutbad von Rabaa al-Adawiya ist die logische Konsequenz aus einer „Versicherheitlichung“ der Islamisten und ihrer Demonstrationen, die die ägyptische Militärführung seit Mursis Absetzung am 3. Juli forciert. Im Kern handelt es sich bei dabei um einen Prozess sprachlicher Bedeutungsprägung. Im Falle Ägyptens bewirkte dieser Prozess einen grundlegenden Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung der Bruderschaft, aber auch des vor kurzem noch so verhassten Sicherheitsapparats. In Folge dessen werden die Islamisten nicht länger als Teil der ägyptischen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen, sondern als isolierte extremistische Elemente, die es mit aller Macht zu bekämpfen gilt. So wird das brutale Vorgehen gegen die Bruderschaft als notwendiges Übel im Namen der nationalen Sicherheit legitimiert.
Der Begriff Versicherheitlichung
Bereits in den 1990er Jahren beschrieb eine Gruppe von Forschern der Universität von Kopenhagen um die Sozialwissenschaftler Barry Buzan, Ole Wæver und Jaap de Wilde, wie der Sicherheitsbegriff regelmäßig zur Ausweitung staatlichen Handlungsspielraums instrumentalisiert wird. Verinnerlichte Normen und institutionalisierte Regeln des friedlichen Zusammenlebens werden dabei häufig auf dem Altar der Sicherheit geopfert – und dies nicht nur in autoritären Regimen.
Die „Kopenhagener Schule“ betrachtet Sicherheit nicht als objektiven Zustand, sondern als Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses: Sicherheitsprobleme werden erst zu solchen gemacht, indem ein Problemzusammenhang mit einer Bedrohung assoziiert wird. Im Namen der nationalen Sicherheit erscheinen plötzlich sicherheitspolitische Maßnahmen als legitim, die vorher noch undenkbar waren – beispielsweise der Einsatz von Soldaten gegen Demonstranten. Um die Neudefinition eines Problems oder einer Akteursgruppe als sicherheitsrelevantes Feld zu begründen, wird das Thema durch bestimmte rhetorische Strukturen dramatisiert.
Im ägyptischen Kontext ist eine systematische Dämonisierung der Bruderschaft zu erkennen. Khalil al-Anani, Ägyptenexperte an der Durham University, beschrieb das Phänomen bereits Tage vor dem Räumungsbeschluss als „Anti-Ikhwan-Virus“ – eine Anspielung auf die arabische Bezeichnung der Muslimbruderschaft „al-Ikhwan al-Muslimin“. Im Juli und August hatte eine regelrechte Gleichschaltung der ägyptischen Medien stattgefunden. Der staatliche Rundfunk avancierte dabei zum Sprachrohr des Obersten Militärrats. Unabhängige Fernsehsender und Zeitungen schlossen sich seiner Propaganda an und nährten mit ihrer Berichterstattung die Stimmungsmache gegen die Bruderschaft. Im Einklang mit Vertretern des Innenministeriums und Militärs porträtierten sie die Muslimbrüder als existentielle Bedrohung für die demokratische Transformation des Landes und riefen dazu auf, die Streitkräfte zu ermächtigen, die Nation mit allen nötigen Mitteln zu beschützen.
„Ermächtigung“ ist in diesem Zusammenhang durchaus wörtlich zu verstehen: Denn am 24. Juli appellierte Verteidigungsminister al-Sisi über den staatlichen Rundfunk direkt an die Bevölkerung, ihm ein symbolisches Mandat zu erteilen, gegen die extremistische Gefahr vorzugehen. Tausende Ägypter folgten dem Aufruf des Generals und forderten bei landesweiten Massenkundgebungen ein hartes Vorgehen gegen die Protestlager der Muslimbrüder. Al-Sisis Ansprache wurde so zum Wendepunkt im Umgang der staatlichen Sicherheitsbehörden mit den Muslimbrüdern, die seitdem konsequent in die Nähe des islamistischen Terrorismus gerückt werden.
Terrorismus als innerägyptische Gefahr?
Bemerkenswert ist vor allem der kurze Zeitraum, in dem sich der öffentliche Diskurs in Ägypten wandelte. Während General al-Sisi die Absetzung Mohammed Mursis Mitte Juli noch als „notwendiges Übel zur Rettung der Errungenschaften der Revolution“ rechtfertigte, ist von demokratischer Transformation und einer Reintegration der Bruderschaft heute kaum mehr die Rede. Stattdessen hat sich das Narrativ vom „Kampf gegen den Terrorismus“ verfestigt. In den vergangenen Tagen nahm der Sicherheitsdiskurs zunehmend faschistoide Züge an: immer häufiger ist vom „Ausmerzen“ der Muslimbruderschaft die Rede. Vertreter der „Tamarrod“-Bewegung, die mit ihrer Unterschriftenkampagne und Demonstrationen am Jahrestag von Mursis Amtsantritt erst den Weg für die Machtübernahme der Armee geebnet hatten, forderten diese nun offen auf, Ägypten von „Agenten und feindlichen Elementen zu säubern“. Der ägyptische Präsidentenberater Mostafa Hegasi sprach Anfang August gar von einem „Krieg gegen den Extremismus“.
Der militaristische und ultranationalistische Diskurs manifestiert ein exklusives Bürgerschaftsprinzip. Schließlich basiert er auf einer konstruierten nationalen ägyptischen Identität, in der die Muslimbrüder keinen Platz mehr haben sollen. Dabei handelt es sich bei den Unterstützern Mursis – ungeachtet der staatlichen Propaganda – nicht um eine kleine Randgruppe. Selbst konservative Umfragen ägyptischer Meinungsforschungsinstitute zeigten bis kurz vor Mursis Absetzung, dass noch rund 15 bis 20 Prozent der Ägypter mit den Muslimbrüdern und ihrem Präsidenten sympathisierten. Doch wird eine Integration dieser Bevölkerungsgruppen angesichts des polarisierenden Sicherheitsdiskurses immer unwahrscheinlicher. Am 17. August kündigte Premierminister Hasem al-Beblawi bereits an, es könne keine Aussöhnung mit denen geben, die »Blut an den Händen« hätten. Ein Verbot der Muslimbruderschaft und ihrer Partei wird noch erwogen. Die Brandanschläge auf christliche Einrichtungen und Regierungsgebäude, für die ausschließlich die Muslimbrüder verantwortlich gemacht werden, lieferten hierfür einen Vorwand.
Paradoxerweise bereiten gerade das brutale Vorgehen des Sicherheitsapparats und die Isolation der Islamisten nun einen fruchtbaren Nährboden für Extremismus. Die Verweigerung politischer Freiheits- und Partizipationsrechte provoziert politischen Widerstand – historisch gesehen kein Novum. Die Anwendung von Gewalt wird hierbei umso wahrscheinlicher, je stärker friedliche Ausdrucksformen von Opposition und gewaltlose Konfliktregelungsmechanismen unterdrückt werden.
Die islamistische Bewegung in Ägypten erlebte schon einmal eine solche Radikalisierungsphase infolge staatlicher Repression. Als der ägyptische Oberstleutnant und Putschist Gamal Abd al-Nasser die Bruderschaft nach seiner Machtergreifung in den 1950er Jahren verbieten ließ und massiv gegen ihre Mitglieder vorging, legte er damit den Grundstein für den jihadistischen Terrorismus in seiner heutigen Form. In den Gefängnissen der Militärdiktatur verfasste der spirituelle Vordenker der Bruderschaft Sayyid Qutb eben die Traktate, die einer Reihe jihadistischer Organisationen – vom „Ägyptischen Islamischen Jihad“, über „Al-Gamaa al-Islamiya“, bis hin zu Al-Qaida – zur Inspirationsquelle wurden.
Gewalt als verbliebenes Gestaltungsmittel
Für die ägyptische Muslimbruderschaft scheint sich nun die Geschichte zu wiederholen. Die blutigen Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen mit ihren Toten haben viele Märtyrer geschaffen. Eine ganze Generation junger Muslimbrüder wird durch diese Gewalterfahrung sozialisiert. Militante Fraktionen innerhalb der Organisation, aber auch gewaltbereite salafistische Gruppen außerhalb der Bruderschaft dürften daher verstärkt Zulauf erhalten. Dies äußerte sich bereits kurz nach dem Beginn der Militäroperation, als im ganzen Land aufgebrachte Mobs auf Polizeistationen marschierten und Kirchen in Brand setzten. Vor der Radikalisierung einzelner Mitglieder warnt neben anderen Gehad al-Haddad, Mitglied des Führungsbüros der Bruderschaft und Sprecher ihrer Partei: „Wenn du nach Hause gehst und fernsiehst und sie dich einen Terroristen nennen, und wenn deine Anführer eingesperrt sind, dann kann es sein, dass du dich deinen Nachbarn anschließt und etwas Gefährliches tust.“
Auch wenn die Muslimbruderschaft als Organisation wohl kaum in die paramilitärischen Strukturen ihrer Gründungsjahre zurückfallen wird, dürfte ihre Bereitschaft dennoch gesunken sein, die eigenen Ziele künftig noch innerhalb des strukturellen Rahmens des politischen Systems zu verfolgen. Denn angesichts der vielen Toten werden vor allem die Hardliner gestärkt, die eine Partizipation am politischen Prozess traditionell ablehnen. Die aktuellen Ereignisse belegen für sie, dass demokratische Teilhabe ein sinnloses Unterfangen ist.
Die Radikalisierung der Islamisten kommt den Generälen indes gelegen. Schließlich schaffen die Angriffe auf Polizeiwachen und christliche Einrichtungen eine Legitimationsgrundlage für die fortwährende Ausweitung militärischer Handlungsbefugnisse. Und dabei stoßen die Generäle kaum auf Widerstand. Der Hass auf die Muslimbrüder scheint Viele gegenüber der Rückkehr des vorrevolutionären Sicherheitsstaates blind gemacht zu haben. Der konstruierte Sicherheitsdiskurs mündete im ägyptischen Fall aber nicht nur in einer Rehabilitierung des vor kurzem noch so verhassten Polizeiapparats: Als Reaktion auf die Mobilisierung der Islamisten infolge des Massakers von Rabaa al-Adawiya verhängte Übergangspräsident Adli Mansur erneut den Ausnahmezustand über das Land.
Der größte Verlierer der vergangenen Wochen ist somit der Teil der ägyptischen Bevölkerung, der nach dem Sturz Mubaraks auf einen demokratischen Neuanfang hoffte. Allzu leichtfertig haben Liberale, Aktivisten, Revolutionsjugend und die „Salon-Sozialisten“ des ägyptischen Oppositionsspektrums den nationalistischen Tiger geritten und den Generälen ihre Stimme geliehen – solange diese nur gegen den politischen Gegner vorgingen. Nach den Massakern Anfang August dürfte einigen aber langsam klar werden, dass es immer schwerer wird, abzusteigen. Beobachter spekulieren bereits, ob al-Sisi bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in Mubaraks Fußstapfen treten wird. In einem Interview mit der Washington Post betonte dieser noch vor einem Monat, für ihn sei es das Wichtigste, beim Volk beliebt zu sein. Eine solide Mehrheit wäre dem General zurzeit sicher.
Jannis Grimm ist Mitglied im Projekt „Mittelmeer Institut Berlin“ der Humboldt Universität zu Berlin und Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Berlin.